Wir leben in einer Gesellschaft, die die Ablenkung auf Dauerfeuer gestellt hat: die mobile Nutzung des Smartphones geht nahtlos über zu Fernsehen und Computerverwendung. Öffentliche Plätze sind mit Werbeanreizen vollgestopft, mediale Botschaften sind allgegenwärtig. Die Ablenker tragen wir mit uns herum, damit wir ja nie alleine und ohne Reizfütterung sind.
Bei dem, was wir gerne Ablenkung nennen, handelt es sich eher um eingelernte und von außen geschickt verstärkte Gewohnheiten, die einen gravierenden Verlerneffekt beinhalten: Wir verlernen dabei, uns selber zu spüren, also unser Inneres wahrzunehmen. Denn die sogenannte Ablenkung wird von äußeren Instanzen gesteuert, sodass unsere Aufmerksamkeit von den Reizen gefesselt wird, die auf uns – nahezu ohne unsere Kontrolle – einprasseln.
Wir wollen wissen, was sich da gerade verändert und was da neu auftaucht, wenn wir auf einen Bildschirm oder ein Display starren. Dabei vergessen wir, darauf zu achten, wie unser Inneres auf die Reizfülle reagiert, wie es mit dem Datensturm zurechtkommt, was wirklich wichtig und was banal und nebensächlich ist. Wir unterstützen es nicht bei der Integration all der Abenteuer, die über unsere Augen und Ohren nach innen überfluten. So werden all die Facebook- und WhatsApp-Nachrichten in einem ungeordneten Haufen von Fragmenten, zusammenhangslos in der Rumpelkammer unseres Bewusstseins abgelegt, während die Aufmerksamkeit schon wieder woanders angebunden ist. Die Reize erschöpfen sich schnell und fordern beständige Nachfütterung. Unweigerlich entwickeln sich selbstverstärkende Suchtmuster.
Dabei verkümmert der innere Sinn. Eine Gesellschaft ohne Innenperspektive wird zu einer Gesellschaft ohne Integrationskapazität und Orientierung. Es gibt allerdings eine, wie ich hoffe, wachsende Minderheit von Menschen, die sich dem hemmungslosen Medienkonsum und der suchtartigen Außenbezogenheit bewusst entziehen. Die Hoffnung tut not, weil möglicherweise das Schicksal der Menschheit daran liegt, das verloren gegangene Gleichgewicht zwischen Außen und Innen wiederherzustellen.
Plakativ gesagt, beobachten wir allerdings das Auseinanderdriften zwischen wachstumsbereiten und konsumorientierten Menschen, zwischen den primär Außengeleiteten und denen, die immer wieder auch nach innen schauen. Ein Blick auf die Bewusstseinsevolution zeigt uns, wo es hingeht, wo wir die Vorreiter des Ausgleichs finden können: Dort, wo die Innenperspektive gepflegt und entwickelt wird. Nachhaltigkeit gibt es nur, wo der innere Weg, der Weg zu sich selbst, gleich stark neben der Außenorientierung steht.
Was wäre erforderlich, was würde sich ändern, wenn das Auseinandergedriftete wieder zueinander fände?
Ein paar Beispiele:
Geburt: Es gibt den Trend, dass weder Mütter noch Väter, weder Geburtshelfer noch Medizinplaner spüren, was es für diesen so wichtigen Schritt eines Menschenlebens braucht. Was tut gut und was stimmt, wenn ein neues Leben das Licht der Welt erblickt, damit es gut in dieser Welt leben kann? Wir müssen danach vor allem im Innen suchen. Fehlt die Fürsorge für das Innenleben von Anfang an, so bringen Eltern, die die werdenden Babys nicht spüren können, Babys zur Welt, die sich nicht spüren können.
Kollektiv wird verständlicherweise das Nichtspüren als Hilfe und Schutz vor Schmerz zur massivsten Bemühung der Gesellschaft, implementiert mittels raffinierter Ablenkungsmanöver. Für Extremfälle stehen die Schmerzmittel, englisch pain killers, zur Verfügung – der Schmerz muss gewaltsam umgebracht werden.
Die Integration der Innenperspektive würde das Gebären umkrempeln, etwas nach niederländischem Vorbild, wo 30 % der Kinder zuhause geboren werden, in einer natürlichen Umgebung, frei vom Stress eines Spitals. Geburten sind komplizierte Vorgänge, und sie brauchen alle Ressourcen, die wir haben, primär die des inneren Spürens. Erst langsam nehmen wir zur Kenntnis, dass Babys als sehr fein und genau spürende Wesen zur Welt kommen, alles registrierend, was im Innen wie im Außen vorgeht. Sie brauchen Eltern, die das Innere genauso wie das Äußere registrieren können. Therapeuten, die mit Eltern und Babys arbeiten, berichten, dass sich Schreibabys beruhigen, wenn die Eltern ihre eigenen Gefühle spüren und ausdrücken.
Wissenschaft:
Durch die Dominanz der Außenperspektive zerfallen die Wissenschaften in zwei Kategorien: Diejenigen mit den harten Fakten und die anderen mit den weichen Befunden. Die ersteren, die mittels objektivierender Methoden möglichst subjektfreie Erkenntnisse liefern wollen, liefern die Grundlagen für Entscheidungen z.B. im Gesundheitsbereich. Gelder fließen dorthin, wo es harte Fakten gibt.
In einer zukünftigen Gesellschaft, die den Wert des inneren Sinnes wieder in sein Recht gesetzt hat, müsste sich diese Dominanz ändern. Die Erkenntnisse des inneren Sinnes, wie sie in einer Wissenschaft der Ersten Person erbracht werden, stehen dort gleichberechtigt und wechselseitig ergänzend neben den traditionellen Wissenschaften der Dritten Person. Die Befunde aus der Innenforschung fließen gleichermaßen in die Prozesse der gesellschaftlichen und politischen Entscheidungsfindung und Planung ein wie die Erkenntnisse der objektivierenden Wissenschaften. Das bedeutet z.B. für das Gesundheitssystem, dass dessen Subjekte, die Kranken und deren Innenkompetenz eine zentrale Position bei Diagnose und Therapie bekommen, und die traditionellen Fachleute, Krankenschwestern und Ärzte, eine beratende und unterstützende Rolle übernehmen.
Schule:
Im Fächerkanon der Bildungsinstitutionen finden sich überwiegend „Gegenstände“ (sind damit eigentlich Dinge gemeint??), die die rationale objektivierende Sichtweise der Wirklichkeit stärken und keinen Platz für Introspektion lassen. Deshalb müssten schätzungsweise ein Drittel bis die Hälfte der Zeit und der Inhalte umgeschichtet werden, damit die Innenperspektive einen gleichrangigen Platz erhält. Methoden wie Meditation oder Achtsamkeitstraining hätten dann nicht nur einen gleichrangigen Zeitrahmen wie Mathematik oder Sprachfächer zur Verfügung, sondern auch die gleiche Wichtigkeit und Wertschätzung bei Lern- wie bei Lehrpersonen.
Gesellschaft:
Personen, die sich auf den Weg der Innenaufarbeitung begeben, werden von der Gesellschaft nicht nur dadurch unterstützt, dass z.B. psychotherapeutische Behandlungen oder der Besuch von Entspannungs- und Meditationskursen von den Krankenkassen bezahlt werden, weil erkannt wird, dass sich die Investitionen in die Innenerforschung mehrfach amortisieren. Noch weitergehend müssten Personen, die unter besonders starken inneren Prozessen leiden, vom Arbeitsleben freigestellt werden, bis sie wieder einsteigen können, ausgestattet mit neuen Kräften und mehr Menschlichkeit. Denn wer ein schweres inneres Schicksal aufarbeiten muss, würde nicht mehr als Schwächling, Drückeberger oder Simulant denunziert, sondern als jemand angesehen, dem viel angetan und zugefügt wurde und der sich diesen Themen stellt und an ihnen arbeitet, statt sie unbewusst an seine Umgebung und Nachkommen weiterzugeben.
Wir müssen über die Zynismen der Postmoderne hinwegkommen. Sie spiegelt nämlich die Reizüberfütterung und suchtartige Außenfixierung wider, indem sie dekretiert, dass es keine allgemeingültige Perspektive mehr geben kann. Darin zeigt sich der Verlust der Allgemeinheit in einer hemmungslosen Konsumgesellschaft, die Fragmentierung der individuellen Reizverarbeitung, die sich dadurch verselbständigenden inneren Teilaspekte, die kein Zentrum und keine Zusammengehörigkeit mehr finden können.
Denn ein solches Zentrum gibt es nur im Inneren, und es ist über genau einen Sinn zugänglich, durch den inneren, das ist der Sinn der Sammlung: Es sammeln sich die aufgesplitterten Teile des Selbst, wenn die Aufmerksamkeit vom Äußeren ins Innere geht und dort solange verweilt, dass das Innere das Äußere überwiegt, sprich dass sich der Verstand, der die Summierung der äußeren Reize verkörpert, zurückzieht und dem Raum des Spürens den Vortritt lässt.
Wir kommen also nur weiter, als Individuen wie als Gesellschaft, wenn der innere Sinn, die Perspektive der Ersten Person, gleichberechtigt neben die Perspektiven der äußeren Sinne einrückt, und entsprechend geachtet und gefördert wird. Unsere Kultur ist noch weit weg davon ist, und wir haben noch gar keine Ahnung davon hat, was eine Öffnung in diese Richtung bedeuten würde. Denn es würde zu einer Umorientierung in allen Bereichen der Gesellschaft kommen.
Gesellschaften entwickeln sich nicht sprunghaft, sondern wachsen in Wellenbewegungen, die stetig voranschreiten, trotz viel Vorwärts-, Rückwärts, und Seitwärtsbewegungen. Im großen Bogen betrachtet, können wir auf ein Bewusstsein vertrauen, das von sich aus wachsen will. Wir können uns dieser Kraft anschließen und an ihr partizipieren. Die Richtung ist klar, was dagegen steht, ist die Fixierung auf das materialistische Bewusstsein. Nach meinem Modell der Bewusstseinsevolution handelt es sich dabei um eine Stufe der Entwicklung, die erst die Halbzeit dessen, was der Menschheit möglich ist, erreicht hat. Gehen wir also mutig, vertrauensvoll und geduldig in die Richtung weiter, die unser Inneres vorgibt, wenn wir es belauschen.
Vgl. auch: Die Erste-Person-Perspektive und Das innere Wissen und eine neue Methodologie
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