Mittwoch, 16. Oktober 2013

Des Pudels Kern

Oft sprechen wir vom inneren Kern in einem Menschen oder in uns selbst: „Suche deinen inneren Kern, verbinde dich mit ihm, sieh den heilen Kern in jedem anderen Menschen“ usw. Wir nutzen die Metapher des Kernes, um einen Unterschied anzumerken zwischen dem Äußeren oder Äußerlichen und dem Inneren, zwischen dem, was wir als uneigentlich und als eigentlich empfinden (z.B. „So, wie mich die anderen sehen, bin ich gar nicht.“ Oder: „So, wie ich mich gestern verhalten habe, entspricht das nicht dem, was ich bin.“) Also soll der Begriff des Kernes auf unser Wesen, unser Selbst, unser eigentliches Sein verweisen.

Aus der Metapher können wir einige Assoziationen gewinnen: Kerne haben eine harte Schale, die ihren eigentlichen Schatz, den fruchtbringenden Samen, beschützt. Kerne sind fest und solide. Sie geben ihren Inhalt nur unter besonderen Bedingungen preis, wenn es um die Weitergabe des Lebens geht.

Gehen wir auf den Weg der Innenerforschung, werden wir also zu Kernforschern, so können wir diese Schätze finden. Zunächst lösen wir uns dabei von eingefahrenen Mustern und bewältigen tiefsitzende Ängste, die vorher unsere Kreativität blockiert haben. Dadurch melden sich kreative Ideen, die unser Leben und das der anderen bereichern. Jedes Element an Kreativität, dem wir Raum geben, öffnet uns für neue Lebensmöglichkeiten. Damit werden wir mehr und mehr zu dem, was unser Selbst ausmacht, unser eigentliches Wesen, hinter allen Prägungen und Gewohnheiten.

Identitäten

Dr. Faustus und der Pudel

In diesem Prozess lösen wir uns von Identitäten, die wir im Lauf unseres Lebens erworben haben – der Mann oder die Frau, die wir sein wollen, die berufliche Rolle, die wir übernommen haben, die Person, die wir in Freundschaftsbeziehungen sind, die Vorlieben, die wir im Freizeitbereich ausgebildet haben usw. Wir verändern in diesem Verlauf nicht unbedingt das, was wir tun oder wie wir uns verhalten, sondern vor allem die Identifikation mit diesen Verhaltensweisen und den daraus zusammengesetzten Identitäten. Wir erkennen, dass wir so sein können oder auch anders.

Mit jeder Identität, die wir verabschieden, löst sich eine Schale, und wir kommen des Pudels Kern näher. Wir sehen, dass wir wie in einem Lagenlook ein Gewand nach dem anderen ablegen können und damit immer mehr zutage tritt, wer wir „wirklich“ sind. Wir werden dabei Zustände erleben, in denen es uns schließlich völlig egal ist, ob es dieses „wirkliche Ich“ überhaupt gibt oder nicht.

Auf dieser Reise zum Kern können wir den Spruch „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt‘s sich ganz ungeniert“ trefflich nutzen. Wenn wir uns nicht mehr über unseren Ruf definieren, ist ihm sein Einfluss genommen und er ist schon ruiniert. Denn der „Ruf“ hat nur so lange die Macht über uns, unser Verhalten zu kontrollieren, so lange wir uns mit ihm identifizieren. Sobald wir ihm eine identitätsstiftende Funktion absprechen, bricht diese Macht auf ein Häufchen Asche zusammen.

So brauchen wir auch im Alltag keine der selbst auferlegten und der zugeschriebenen Identitäten mehr ernst zu nehmen. Wir können Rollen ausfüllen und völlig leer zurücklassen, wenn wir die Bühne verlassen. Wir schlüpfen in eine Identität wie in ein Kleidungsstück, das uns für bestimmte Zwecke zunutze kommt, und nicht mehr.

Modelle und Verdinglichungen


Unter Stress werden wir immer wieder in die alten gewohnten Rollen und erprobten und abgesicherten Verhaltensmuster zurückfallen. Wir glauben, dass sie uns die Stabilität vermitteln, die wir brauchen, um die Gefahrensituation zu überstehen. Je mehr wir allerdings über uns wissen, desto deutlicher wird uns werden, wenn wir in solche Zustände geraten, und desto seltsamer wird uns erscheinen, wie wir uns dann verhalten. Daran merken wir, dass wir beginnen, uns von einem alten Muster zu entfremden. Wir sind zu einer Identität, die uns lange vertraut war, in Distanz gegangen und nehmen sie nicht mehr so wichtig, sondern erkennen, dass wir auch anders können.

Auch die Beschäftigung mit dem Evolutionsmodell, das in dieser Blogserie immer wieder angesprochen wird, kann zur Verdinglichung führen: Ich ordne mich auf eine bestimmte Stufe der Entwicklung ein und gebe mir damit eine bestimmte Identität, z.B. „Ich verhalte mich meistens personalistisch“. Doch auch diese Identität, diese Festlegung meines Kerns ist nur ein Konzept, das ich von mir selber bilde. Wenn ich die Schale dieses Kerns durchbreche und in den Kern des Kerns hineinspüre, finde ich dort nichts mehr, was sich festhalten ließe. Alles fließt oder: alles ist leer.

Jedes Modell verhilft uns zunächst zu einer Erleichterung. Wir erkennen uns in wichtigen Grundmustern und bekommen durch das Modell die Bestätigung, dass wir in Ordnung sind, wie wir sind und dass wir uns durch die Kritik, die von anderen kommt, nicht grundsätzlich in Frage stellen lassen müssen. Wir bekommen durch das Modell die Unterstützung dabei, zu unserem So-Sein zu stehen, statt uns dauernd nach den Vorstellungen anderer ändern zu müssen. „Ich bin ein Krebs vom Sternzeichen, also passt es zu mir, wenn ich mich gerne zurückziehe.“ „Ich bin ein Fünfer im Enneagramm, also muss ich auch immer wieder mein reflektierendes Denken aktivieren.“

Und jedes Modell kann sich mit der Zeit unserer inneren Befreiung in den Weg stellen. Wir beginnen uns mit ihm zu identifizieren und es zur Fixierung unserer eingewöhnten Haltungen einzusetzen. „Weil ich Sanguiniker bin, werde ich nie verlässlich sein können, das wird sich nie ändern und das will ich auch gar nicht.“ Warum jedoch sollte ein als Sanguiniker nicht einmal die Zuverlässigkeit ausprobieren, auch wenn es ein wenig Überwindung erfordert? Wer stur auf seinen modellhaften Eigenschaften beharrt, verbaut sich diesen Zugewinn an Flexibilität und Freiheit. Die Schale des Kerns wird wieder dicker und undurchdringlicher, fester und dinglicher.

Die Versuchung zur Verdinglichung unserer selbst versteckt sich in allen Ecken und Winkeln unseres Innenlebens. Es ist, als wollte sich unser ängstliches Ego, dem langsam die Felle davonschwimmen, irgendwo auf eine solide Insel retten, um nicht vom Fließen der Ereignisse weggespült zu werden. Wenn alles in Veränderung ist, ist nichts mehr sicher. Deshalb will unser Ego mit aller Macht an unserer Identität festhalten und möchte sie am liebsten in unvergänglichen Stein meißeln.

Das Modell der Modelle


Wenn wir bereit sind, die Krücken, die uns die Identitätsmodelle anbieten, beiseite zu stellen, stoßen wir auf ein letztendliches Modell, ein Modell, das nur auf mich zutrifft, auf mein ganz eigenes Modell. Es repräsentiert meine ganz individuelle Mischung aus all den genetischen Anlagen, Überlieferungen der Vorfahren, Lebenserfahrungen im sozialen, kulturellen und politischen Umfeld, und das alles in permanenter Entwicklung und Veränderung, ein Modell, das sich in jedem Moment eine neue Form gibt und dessen Grundstrukturen sich auch in ihrer Zeit umgestalten.

Mit diesem Modell der Modelle kommt alles, was sich an uns selbst verdinglicht hat, ins Fließen. Da gibt es nichts Festes mehr, sondern einen beständigen Wechsel, ein dauerndes Öffnen und Verabschieden, ein Verändern von Nuancen und Schattierungen. Nichts ist von Dauer, und nichts braucht festgehalten werden. Überzeugungen werden zu Meinungen, die auch anders formuliert werden können. Gewohnheiten werden zu Verhaltensmöglichkeiten unter anderen. Gefühle und Stimmungen sind das, was das Leben im Moment so färbt und dann wieder anders. So ist die innere Freiheit beschaffen.

Und was passiert, wenn wir auch dieses unser ganz eigenes Modell loslassen, wenn wir darauf verzichte, uns irgendein Konzept über uns selbst zu basteln und beschließen, jede Identität, die uns an uns auffällt, postwendend gleich wieder zu entsorgen? Haben wir dann wieder ein Konzept, nämlich das der Konzeptlosigkeit, ein Modell der Modelllosigkeit, einen Kern ohne Kern?

Es liegt wie immer an uns, ob wir etwas aus der Freiheit, die uns die Konzeptlosigkeit bietet, machen, also ob wir uns daraus eine neue Identität basteln oder ob die Freiheit einfach genießen und die Überraschung, die jeder neue Moment bereitet, annehmen. Wann immer uns das gelingt, fühlt sich das Leben als stimmig und erfüllt an – wie gesagt, ohne dass das wiederum in ein Konzept gegossen werden müsste, weil es ja im nächsten Moment wieder anders sein wird.

1 Kommentar:

  1. "Das letzte Hemd hat keine Taschen" lautet eine alte Weisheit. In diesem Sinne hast du sehr nachvollziehbar beschrieben, wie wir jetzt schon durch das "Immer-wieder-leeren" unserer verschiedenen Taschen zur letzten Freiheit gelangen!

    Liebe Grüße
    Elisabeth

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