Donnerstag, 11. Oktober 2012

Benennungen auf dem inneren Weg

Wenn wir Dingen, die wir wahrnehmen, Namen anhängen, dient uns das zur Orientierung, zum Wiedererkennen, zum Einordnen etc. „Das ist ein Auto“, dann weiß ich, wie ich mich verhalten muss. Dabei abstrahieren wir, ziehen also Merkmale aus dem Ding heraus und bilden daraus ein mentales Konstrukt. „Das Auto“ gibt es nur in unserem Hirn. Kein wirkliches Auto entspricht perfekt diesem Hirninhalt.

So machen wir es auch mit inneren Erfahrungen. „Mir schmeckt die Orange“, und ich bilde ein inneres Konstrukt von „schmeckt gut“. Ich füge es in die entsprechende Datenbank ein, in die Abteilung „schmeckt gut – Orange“. So oder so ähnlich verarbeiten wir innere Erfahrungen, die uns dann als Vergleichsmaßstab für neue Erfahrungen dienen: „Diese Orange schmeckt noch besser als jene…“.

Wenn wir uns auf den inneren Weg begeben, auf die Suche nach der Freiheit oder nach der Wahrheit, oder wie immer wir auch diesen Weg beschreiben (selbst der Ausdruck „Weg“ ist eine Beschreibung), laufen wir immer wieder Gefahr, die Beschreibung mit der Wirklichkeit zu verwechseln. Ich kann z.B. sagen: „Ich bin ja auf dem Weg“, um mich vor mir selbst zu entschuldigen, dass ich wieder einmal in eine alte Falle meines Egos gestolpert bin. Dann nutze ich die Beschreibung dafür, gleich in die nächste Ego-Falle zu tappen, die mir suggeriert, es gäbe etwas zu entschuldigen.

Versprachlichte Erfahrung


Erfahrung und Benennung der Erfahrung klaffen auseinander. Sobald ich eine Erfahrung auf die sprachliche Ebene bringe, wird sie eine andere, und mischt sich dabei mit kognitiven Inhalten, wie Erinnerungen, Einstellungen, Konzepte, Werte usw. Versprachlichte Erfahrung ist also sinnliche Erfahrung plus Gedanken, Momentanes angereichert mit Vergangenem.

Die Frage, ob es überhaupt möglich ist, Erfahrungen ohne deren Versprachlichung zu erleben, ist bei den Sprachforschern und Philosophen heftig umstritten. Wie auch immer dieser Streit ausgeht, wichtig erscheint mir, die Klarheit zu behalten, dass es den Unterschied gibt, dass es also eine Erfahrung gibt und deren Benennung, die nicht das Gleiche sind. Sonst laufen wir Gefahr, uns in den Worten zu verlieren und die eigentliche Erfahrung zu übersehen oder gering zu schätzen.

Ein Unterschied zwischen Erfahrungen und Worten liegt darin, dass Erfahrungen fließend sind, sich dauernd verändern, neu formieren und wieder auflösen, während Worte unveränderlich gleich bleiben. Deshalb kann der Satz: „Ich bin traurig“ auf der Erfahrungsebene viele verschiedene Gesichter wiedergeben. „Ich bin traurig“, auch wenn sich das Gefühl gerade aufbaut oder fast schon abgeebbt ist, flach oder intensiv ist. Sprache kann nie so reichhaltig sein wie die Erfahrung, die sie zum Ausdruck bringen will.

Empfindungen und Gefühle


Empfindungsbenennungen sind näher an der Erfahrungswelt als Gefühlsbenennungen. Denn als Empfindung meldet sich unser organisches Leben bei unserem Bewusstsein. Empfindungen sind die einfachste Botschaft, die der Körper an die bewusstseinsfähigen Schichten unseres Gehirns schickt. Dort bilden sich dann mit Hilfe der Gefühlszentren (limbisches System) aus Empfindungskomplexen die eigentlichen Gefühle. Wenn wir also unsere Empfindungen benennen (es juckt hier oder drückt da, hier fühlt es sich kalt oder heiß an usw.), sind wir so nahe an der Schnittstelle zwischen den beständig ablaufenden Lebensprozessen unseres Körpers und deren Bewusstwerdung, wie nur möglich. Solche Benennungen schmiegen sich den Lebensprozessen gleichsam ganz nahe an und zeigen auch deren Veränderbarkeit und Flüchtigkeit. Sie sind deshalb selber beweglicher und flexibler.

Je weiter wir an der Abstraktionsleiter nach oben steigen, desto allgemeiner werden unsere Beschreibungen. Sie umfassen damit mehr Phänomene und vereinigen sie zu Gruppen, dienen damit der Vereinfachung, zugleich werden sie auch unkonkreter und neigen zur Verselbständigung. Wir sprechen solche Begriffe aus, ohne genau zu wissen, auf welche Erfahrungen sie sich beziehen und wie aktuell sie sind.

Identitätswechsel in der spirituellen Suche


Solche Formen der Verselbständigung von abstrahierten Begriffen können schließlich zu Identitätszuschreibungen führen. „Ich bin ein neuer Mensch“. So können wir uns nach tiefgreifenden inneren Transformationserfahrungen fühlen. Um diesem Gefühl eine begriffliche Stütze zu geben, suchen wir nach den geeigneten Benennungen, die uns diese Erfahrungen absichern sollen.

Manche Menschen nutzen spirituelle Namen zu diesem Zweck. Sie geben sich oder lassen sich einen neuen Namen geben. Damit wollen sie eine Zäsur zwischen einer alten und einer neuen Identität markieren. Das kann hilfreich sein, um sich an die spirituelle Berufung zu erinnern, die mit dem neuen Namen verbunden ist. Allerdings hat die Identität immer zwei Seiten, eine, die gleich bleibt, und eine, die sich wandelt. Ein neuer Name ändert daran nichts, er stellt nur den Aspekt der Veränderung in den Vordergrund. Der andere, die Beständigkeit der eigenen Identität, macht sich bemerkbar, sobald die alten Gewohnheiten und die Themen der Vergangenheit auch in der neuen Identität auftauchen.

Der innere Erfahrungsprozess, mit seinen Bahnen, Wirbeln und Verwerfungen, erfährt keinen grundlegenden Wandel durch den Wechsel des Namens. Denn die neue Identitätszuschreibung erfolgt auf einer hohen Ebene der Abstraktion. Deswegen wählen manche Menschen einen dritten Namen oder kehren irgendwann wieder zum ersten zurück.

Doch sind wir frei in der Wahl der Mittel und Methoden. Wem es hilfreich und förderlich erscheint, einen „spirituellen“ Namen anzunehmen, dem kann es als Erinnerungsstütze dienen, als Wecker, der hilft, aus dem Alltagsschlummer zu erwachen. Zäsuren können wichtige Entwicklungsschübe auf dem inneren Weg bewirken. Wie bei jeder Methode, gibt es Vorteile, die auf dem Weg weiterhelfen und Fallen, die den Weg behindern und verzögern können. Deshalb ist es weder falsch noch notwendig, sich einen neuen Namen geben oder geben zu lassen.

Lehrer und ihre Titel


Wie verhält es sich mit den ungeschützten Markenbezeichnungen im Feld der Wachstumsangebote? Wie ist das mit den „Erleuchteten“, „Meistern“, „Erwachten“, „voll Realisierten“ usw.?

Die Benennung „Meister“ oder „Meisterin“ erhält man üblicherweise durch Ernennung in einer ehrwürdigen Linie im Rahmen einer spirituellen Tradition mit überlieferten Regeln und sind manchmal auch mit Namensänderungen verbunden. Ein Meister erfordert Schüler, die ihn als solchen anerkennen, verehren und ihm in die Bereiche seiner Lehre hinein folgen. Die Lehre umfasst dabei zumeist Bereiche des Wissens wie auch der Lebenspraxis und der Beschreibung der Stufen, die die Schülerin auf dem Weg absolvieren muss.

Die anderen genannten Bezeichnungen haben mit besonderen Innenerfahrungen zu tun, die zwar bei Meistern vorausgesetzt werden, aber nicht das Hauptkriterium ihres Meisterseins ausmachen. Menschen, die bei anderen Lehrern oder Meistern oder einfach selber einen tiefgreifenden inneren Wandlungsprozess erlebt haben, der ihnen ein völlig neues Lebensgefühl vermittelt, übernehmen dann gerne Zustands- oder Identitätsbeschreibungen wie „Ich bin erwacht“, „Ich habe den inneren Frieden gefunden“, „Ich ruhe in meiner inneren Heimat“ usw., wenn sie bemerken, dass es sich nicht um vorübergehende Erfahrungen, sondern um einen beständigen und dauerhaften Zustand geht.

Wozu dienen nun diese Selbstbezeichnungen? Sie helfen, der Innenerfahrung einen Rahmen und einen Bezugspunkt zu geben. Wir wollen verstehen und kommunizieren können, was mit und in uns passiert, und ein Name oder eine Bezeichnung unterstützt uns dabei.

Subtiles Vergleichen und die Herzenskraft als Gegenmittel


Die Falle liegt ganz offensichtlich darin, dass sich das Ego daraus einen neuen Anzug schneidert, vor allem, wenn die neue Selbstbezeichnung plakativ nach außen getragen wird. Ich bin etwas Besonderes, ich bin schon weiter auf dem Weg, und wer sich nicht in einem Zustand wie dem meinen befindet, ist zu bedauern. Jedenfalls entstehen zwei Gruppen von Menschen, die mit und die ohne Erleuchtung, Erwachen, Realisierung. Der Unterschied, der in seiner eigenen Entwicklung erlebt wird, wird nach außen verlagert. Wie kann ich den Unterschied wahrnehmen ohne Wertung? Statt in der Selbstwahrnehmung zu bleiben, beginnt das Vergleichen. Die anderen, die noch in ihrem Leiden und in ihren Egomustern stecken, werden in ihrer Mangelhaftigkeit gesehen und, wie ginge das dann anders, subtil abgewertet und verachtet.

Dies ist vor allem dann der Fall, wenn die innere Öffnung in abgehobene spirituelle Bereiche mit ganz außergewöhnlichen Erfahrungen geführt hat, ohne dass sich damit die Liebesfähigkeit erweitert und vertieft hätte. Die Kraft des Herzens ist das Gegenmittel gegen Abwertungen und Überheblichkeiten. Das Herz kann nicht vergleichen, sondern spürt das heile innere Wesen in jedem Menschen. Für das Herz gibt es keine Unterschiede auf dem Weg, sondern nur Menschen, die sich in ihrer Eigenart zeigen und weiterentwickeln. Das Herz schließt sie alle ein in einen Mantel aus Liebe.

Wenn sich in einem Menschen diese Kraft nicht in ihrer möglichen Fülle entwickeln kann, was genauso eine Gnade darstellt wie jede andere spirituelle Erfahrung, ist eine Vermischung der spirituellen Lehre mit Machtthemen unvermeidlich. Oft auch gelingt es dann dem Lehrer nicht, die Ideale der Lehre in das Alltagshandeln und den Umgang mit Menschen zu übersetzen.

Das Herz benötigt keine Namen, Bezeichnungen und Benennungen. Es weiß, dass es keine festgelegten Wirklichkeiten gibt, sondern nur das Fließen, das sich jenseits der Worte abspielt.

Rumi sagt: „Liebe zu erklären ist peinlich! Manche Kommentare können klärend wirken, aber mit der Liebe ist die Stille klarer. Eine Feder kritzelte vor sich hin, aber als sie versuchte, Liebe zu schreiben, brach sie.“

Und Schibli: „Wer meint, er sei angekommen, hat nichts erreicht. Wer darauf deutet, ist ein Götzendiener. Wer darüber spricht, ist leichtfertig. Wer denkt, er sei nah, kommt nie an. Wer tut, als habe er gefunden, hat verloren.“

1 Kommentar:

  1. ...deshalb ist es eigentlich nicht nötig, anderen Menschen zu erzählen, dass man "erwacht" sei - wenn es wirklich so ist, merken sie es ohnehin am Verhalten, an der Sprechweise (Worte und Tonfall), die jemand verwendet, am Gesichtsausdruck, man sieht es in den Augen, etc. :-)
    Und wenn man gefragt wird, was ist los, du hast dich so (positiv) verändert, besteht dann oft Erklärungsnotstand (siehe oben, Liebe zu erklären ist peinlich)
    Deshalb bleibe ich anonym ;-)

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