Freitag, 3. Januar 2025

Die Standpunkttheorie und ihre Schwächen

Der klassische Liberalismus setzt auf eine Verbesserung der Freiheitsrechte und der Gleichheit unter den Menschen. Dieses Programm muss immer wieder vor Ideologisierungen geschützt werden. Eine Form der Zweckentfremdung und Verkürzung stellt der Neoliberalismus dar, dem es vor allem um die Wirtschaftsfreiheiten geht, die dazu dienen, den Kapitalismus zu beflügeln und Geld in die Taschen der Unternehmen fließen zu lassen, während Freiheits- und Gleichheitsaspekte allenfalls Nebensache sind und nur gelten sollen, solange sie das Gewinnstreben nicht beschränken. Eine andere Form der Ideologisierung der liberalen Idee stellt die Identitätsideologie dar, die berechtigte Anliegen des klassischen Liberalismus aufgreift und einseitig verschärft, um zwingende politische Forderungen daraus abzuleiten. Die Radikalisierung stellt eine Ideologisierung dar, weil sie darauf beruht, wichtige Aspekte der Realität auszublenden. 

Das wird aus der Kritik an der Identitätssynthese von Yasha Mounk deutlich, die mit dem Anliegen verbunden ist, die universalistische Ethik, die lange Zeit sowohl im Zentrum des Liberalismus wie des Sozialismus gestanden ist,  wieder in ihr Recht zu setzen. Die  Ideologisierung des liberalen Programms entstand durch die Einbeziehung der pessimistischen Anthropologie nach Michel Foucault, wie im vorigen Blogartikel beschrieben wurde. Die Zuspitzung der Identitätsfragen liefert zugleich Wasser auf die Mühlen der Rechten, die sich bedroht fühlen und gegen alles kämpfen, was aus dieser Ecke kommt. Sie versuchen, das Kind mit dem Bade auszuschütten, also zusammen mit der Idee zugleich grundlegende Freiheitsrechte zu beschneiden, um an die Macht zu kommen und diese abzusichern. 

Verstehen wir die Grundlagen und Dynamiken der Identitätssynthese, so können wir leichter nachvollziehen, weshalb rechte und rechtsextreme bis faschistische Politiker und Parteien in vielen liberalen Ländern im Aufwind sind. Es scheint, dass die überzogenen Forderungen aus der Identitätsideologie viele Wähler in die Arme dieser Gruppierungen treiben, Bürger, die sich durch den Druck aus dieser Richtung überfordert und bedroht fühlen.

Mounk beschreibt fünf Hauptelemente der Identitätssynthese:

1. Standpunkttheorie: Personen aus verschiedenen (z.B. ethnischen) Gruppen können einander nie wirklich verstehen. Daraus folgt, dass sich die vergleichsweise Privilegierten den Behauptungen und Forderungen der Minderheiten beugen müssen. 

2. Kulturelle Aneignung: Gruppen verfügen über ein kollektives Eigentum an ihren Kulturprodukten, von Kleidungsstücken bis zu Essenszubereitungen. Menschen, die anderen Gruppen angehören, dürfen solche Produkte nur mit Einschränkungen benutzen. 

3. Beschränkungen der Redefreiheit: Der Staat soll dafür sorgen, dass keine Fehlinformationen und hasserfüllte oder vorurteilsbeladene Äußerungen verbreitet werden. 

4. Progressiver Separatismus: Die Menschen sollten motiviert werden, sich mit den ethnischen „rassischen“, religiösen, sexuellen und geschlechtlichen Gruppen zu identifizieren, denen sie angehören.  Sie sollten sich zusammenschließen und ihre Gruppenidentität stärken, um sich politisch besser gegen Ungerechtigkeiten wehren zu können.

5. Identitätssensible Politik: Da es sozioökonomisch benachteiligte Gruppen gibt, muss der Staat die Unterprivilegierten bevorzugen. Es soll der Staat also Menschen je nach ihrer Gruppenzugehörigkeit unterschiedlich behandeln. (S. 176-177)

Diese programmatischen Forderungen sind an sich nicht unvernünftig. Unrecht und Ungerechtigkeiten sollen beseitigt werden, das sollten die dominanten Gruppen einsehen und Korrekturen unterstützen, damit die Gesellschaft als Ganze mehr Stabilität gewinnt. Werden diese Forderungen allerdings zugespitzt und beladen mit ideologischen Ansprüchen vorgebracht, erzeugen sie Widerstand und Gegenforderungen. Dazu kommt, dass durch jede Verabsolutierung Widersprüche und Ungereimtheiten erzeugt werden, die nur zu Konflikten führen können. Wenn z.B. die Redefreiheit eingeschränkt werden soll, um Minderheiten zu schützen, gehen wichtige Elemente für demokratische Diskurse verloren, was zu Verunsicherung und Abwehr führt. Es kann auch keine Lösung darin liegen, dass sich die unterschiedlichen Gruppen dauerhaft voneinander abschotten („progressiver Separatismus“), um die Identifikation mit ihrer Identität zu verstärken. Denn aufgerichtete Grenzen vermehren das Misstrauen und verhindern die Verständigung zwischen den einzelnen Gruppen. Die Gruppenidentitäten verfestigen sich (z.B. als Angehöriger einer Nation), und die übergeordneten Identitäten verlieren an Attraktivität (z.B. als Angehöriger der Menschheit).

Die Ideologie bewirkt, dass die berechtigten Anliegen, die sie vertritt, den Widerstand verstärkt, den bestimmte Kreise der Gesellschaft ohnehin gegen solche Änderungen haben. Der Druck, der mit der Ideologie der Identität aufgebaut wird, erzeugt Angst und Abwehr, die wiederum zur Radikalisierung der Gegenpositionen führen. Je radikaler die Forderungen vorgebracht werden, desto hartnäckiger wird der Widerstand dagegen, der sich durch die Bedrohung im Recht oder sogar in der Pflicht fühlt.

Die Standpunktepistemologie

Ein wichtiges Element der Identitätssynthese stellt die Standpunkttheorie dar, auf die ich genauer eingehen möchte. Damit ist gemeint, dass der eigene Standpunkt die Erkenntnis bestimmt. Der Standpunkt (die Perspektive) wiederum bestimmt durch die eigene Identität, die einer Gruppe zugeordnet werden kann, z.B. weiße Mittelklasse oder schwarze Unterschicht. Es ist klar, dass der eigene soziale Hintergrund sowie die Position, an der man sich gerade befindet, die Wahrnehmung und die Interpretation der Wirklichkeit beeinflussen.  Das sind einfache Grundlagen der Erkenntnistheorie, in der spätestens seit Immanuel Kant klar ist, dass jede Erkenntnis subjektiv ist. Die Standpunkttheorie geht darüber hinaus, indem deren Autoren behaupten, dass die Informationen, die am Standpunkt gesammelt werden, nicht (oder nicht zureichend) an Menschen, die sich an anderen Standpunkten befinden, kommuniziert werden können. Wer als Schwarzer in einem schwarzen Wohnbezirk lebt, sieht die Wirklichkeit anders als jemand, der nicht dort wohnt. Wie er die Wirklichkeit erlebt, kann nur jemand nachvollziehen, der die gleiche Hautfarbe hat und auch dort lebt. Das führt z.B. zur Auffassung, dass ein Roman, den jemand von diesem Standpunkt aus schreibt, nur von jemandem übersetzt werden kann, der diesen Standpunkt teilt. Die Person muss also schwarz sein und in einer ähnlichen Wohnumgebung leben.

Das klingt wie eine willkürliche und absurde Einschränkung, denn Menschen verfügen über die Fähigkeit, sich in die Situation von anderen Menschen hineinzuversetzen, sie können sogar den Standpunkt anderer übernehmen. Außerdem sind sie in der Lage, über alles zu kommunizieren, auch wenn sie nicht immer verstehen, was gemeint ist. Wird die Kommunikation in einer guten Atmosphäre weitergeführt, kann das, was nicht verstanden wurde, aufgeklärt und verständlich gemacht werden. Es scheint, als wollten die Vertreter der Standpunkttheorie mit der Theorie der unvollständigen Kommunizierbarkeit standpunktgemäßer Informationen die praktischen Implikationen, die sie daraus ziehen, untermauern. Denn sie behaupten, dass die nicht-kommunizierbaren Erkenntnisse dennoch zur Grundlage für politische Entscheidungen genommen werden müssen.

Wenn wir vier Grundbehauptungen der Standpunkttheorie näher betrachten, zeigen sich die Verkürzungen, auf denen sie beruhen:

1. Alle Mitglieder unterdrückter Gruppen haben wichtige Erfahrungen gemeinsam.

2. Aufgrund dieser Erfahrungen verfügen die Mitglieder solcher Gruppen über eine spezielle Einsicht in das Wesen ihrer Unterdrückung und darüber hinaus.

3. Die Gruppenmitglieder können ihre Erfahrungen an Außenstehende nicht vollständig mitteilen. 

4. Politische Forderungen, die aus diesen Erfahrungen resultieren, sollten von Außenstehenden unterstützt werden, auch wenn sie von ihnen nicht verstanden werden. (S. 185)

Diese vier Annahmen haben zwei Sachen gemeinsam: Sie erscheinen intuitiv richtig und sie halten einer genaueren Prüfung nicht stand. 

Ad 1.: An einem Beispiel: Feministische Autoren meinen, dass Frauen eine besondere Perspektive auf die Kindererziehung haben, weil sie seit Jahrtausenden damit betraut sind. Das stimmt natürlich, lässt sich aber nicht verallgemeinern.  Erstens haben nicht alle Frauen Erfahrungen mit der Kindererziehung gemacht, weil nicht alle Frauen Kinder bekommen haben. Zweitens machen auch Männer, die Alleinerzieher sind, entsprechende Erfahrungen wie Frauen. Und Frauen machen unterschiedliche Erfahrungen bei der Kindererziehung, je nachdem, welcher Kultur sie angehören, ob sie alleine sind, ob sie mehrere Kinder haben usw. Es gibt also eine Vielzahl von Erfahrungen, aber nicht so etwas wie einen Kernkanon an Erfahrungen, den alle Frauen teilen und an dem die Männer nichts verstehen können.

Es trifft auf alle Gruppen von Benachteiligten zu, dass sie nicht homogen sind und deshalb ein breites Spektrum an Erfahrungen beinhalten und nicht einen Kern, den alle teilen. Es gibt Gemeinsamkeiten und Unterschiedlichkeiten, die beide berücksichtigt werden müssen, wenn diese Phänomene verstanden werden sollen. 

Ad 2.: Auch wenn eine Gruppe über Erfahrungen verfügt, die die Angehörigen anderer Gruppen nicht teilen, folgt daraus nicht zwingend, dass sie ihre eigenen Erfahrungen besser verstehen und einordnen können als Außenstehende. Die Unterdrücker wissen üblicherweise genau so gut wie die Unterdrückten, wie die Unterdrückung funktioniert, sonst würden sie sie nicht so perfide anwenden können. Dazu kommt, dass die Unterdrückten oft wenig Zugang zu Bildung und Bildungsinstitutionen haben, sodass die Zusammenhänge der Unterdrückung nur selten von den Unterdrückten aufgezeigt wurden, sondern meistens von Angehörigen der oberen Gesellschaftsschichten, wie z.B. Karl Marx und Friedrich Engels.

Ad 3.: Verständlich ist, dass jemand, der nie Opfer eines sexuellen Missbrauchs war, das Ausmaß des Leides ermessen kann, das die Betroffenen tragen müssen. Es ist aber nicht notwendig, die Gefühle und Belastungen im Detail zu kennen, um die Schrecklichkeit solcher Verbrechen zu verstehen und gegen jede Form des Missbrauchs aufzutreten. Es leuchtet jedem Menschen mit einem intakten moralischen Empfinden ein, dass Missbrauch eine schwere Verletzung der menschlichen Würde darstellt und unterbunden werden muss. Es ist also nicht die Eigenerfahrung als Opfer notwendig, um den Opfern beistehen zu können, sondern die einfache Übung der Empathie, zu der jeder Mensch Zugang hat oder haben sollte. 

Ad 4.: Hier entsteht aus der Kette der Schlussfolgerung ein Machtanspruch. Die Angehörigen von unterprivilegierten Minderheiten oder Opfergruppen reklamieren nicht nur für sich, dass sie niemand Außenstehender verstehen kann, sondern auch, dass die anderen ihre politischen Forderungen unterstützen müssen, auch und gerade weil sie sie eben nicht verstehen könnten. 

Allerdings wissen wir, dass niemand für eine Sache eintreten will, die nicht verstanden wird, noch weniger für eine Sache, die man angeblich gar nicht verstehen kann. Der Appell der Benachteiligten, dass die Bevorzugten für sie eintreten sollen, gerät durch die Zumutung, dass der Grund für das Eintreten wegen des fehlenden Standpunktes nicht verstanden werden kann, zur Willkür. Und Willkür erzeugt Misstrauen und Abwehr. Wer einer Opfergruppe angehört, hätte dann jedes Recht, jede Form der Widergutmachung, die ihm angemessen erscheint, einzufordern, ohne dass darüber ein Diskurs stattfinden kann, weil ja nur eine Seite das Unrecht und den Schaden ermessen kann.

Klarerweise stoßen an sich gerechtfertigte Forderungen auf wesentlich mehr Widerstand, wenn sie mit den Begründungen der Standorttheorie vorgetragen werden. Damit erweisen die Vertreter dieser Theorien ihren eigenen Anliegen einen Bärendienst. Statt dass berechtigte Forderungen geprüft und gebilligt werden, wird durch die Radikalität der Forderungen bewirkt, dass möglichst viele Menschen dagegen sind; dann stellt sich die Erfahrung ein, dass wieder fast alle gegen die Minderheit sind, und der Opferstatus sowie der postmoderne Pessimismus ist bestätigt und verschärft.

Angriffspunkt für Rechte und Rechtsextreme

Die Standpunkttheorie erweist sich damit als wirksamer Köder für die Aggressionen der Rechtsparteien und der rechtsextremen Gruppierungen, die nicht wollen, dass bestehende Privilegien und eigene Freiheitsrechte beschnitten werden. Auf diese Weise wird der Konflikt zwischen links und rechts von beiden Seiten befeuert, statt Wege der Verständigung zu finden. 

Die Standpunktepistemologie bietet also einen reduzierten erkenntnistheoretischen Rahmen und verbindet ihn mit politischen Machtansprüchen. Dieser Ansatz ist nicht nur kurzschlüssig, sondern auch selbstdestruktiv, weil er in einer offenen Gesellschaft fast automatisch Widerstand hervorruft. 

Dazu kommt, dass mit dem Ableiten von Handlungsanweisungen aus wissenschaftlichen Erkenntnissen und mit der Übersetzung in ein politisches Wunschprogramm der Raum der Theorie verlassen wird. An diesem Punkt wir unversehens aus der Theorie eine Ideologie. Beispiel dafür ist der Marxismus, für den Karl Marx umfassende theoretische Studien betrieben hat und daraus die Forderung abgeleitet hat, dass die kapitalistische Gesellschaft revolutionär umgestürzt werden muss. Diese Forderung wurde von den Anhängern und Nachfolgern von Marx als unumstößliche Notwendigkeit angesehen und deshalb z.B. in Russland mit äußerster Brutalität durchgesetzt. Es ist ein tragisches Missverständnis zu glauben, dass das Niedermetzeln von „Klassenfeinden“ durch wissenschaftliche Erkenntnisse gedeckt wäre.

Wissenschaftliche Wahrheitsfindung und politische Entscheidungsfindung

Vielmehr muss klar sein, dass bei jeder Praxisfolgerung aus Theorien vom wissenschaftlich-theoretischen Parkett auf das politische gewechselt wird. Hier herrschen andere Gesetzmäßigkeiten und Wahrheiten. Denn für die Umsetzung von theoretisch analysierten Missständen gibt es immer verschiedene Wege, Maßnahmen und Methoden. 

Beispielsweise haben die Wissenschaften erkannt, dass die CO2-Emissionen der letzten zwei Jahrhunderte und vor allem der letzten Jahrzehnte den Klimawandel stark beeinflusst haben. Die politische Forderung, z.B. Kohlekraftwerke zu schließen oder CO2-Abgaben einzuführen, folgt nicht direkt aus den wissenschaftlichen Erkenntnissen, sondern erfordert politische Entschlüsse durch die zuständigen Gremien. Wissenschaftliche Erkenntnisse sollten als Entscheidungsgrundlagen verwendet werden, bieten aber keine direkten Anleitungen zur praktischen Umsetzung. Wird diese Grenze missachtet, verwandelt sich die Theorie in eine Ideologie. Sie kann zwar von vielen übernommen werden, wird aber meist viel zu schnell mit Wahrheitsansprüchen befrachtet, die nicht verifiziert und auch nicht falsifiziert werden können. Menschen mit wenig Bezug zu den Wissenschaften und zur Wissenschaftstheorie verwechseln oft Ideologien mit begründeten Wahrheiten und vertreten sie dann entsprechend vehement und kompromisslos. Ideologische Konflikte sind in der Regel fruchtlos und furchtbar, weil es keine objektiven Kriterien von Richtig und Falsch gibt. Es handelt sich um den Zusammenprall von Glaubensannahmen, die für die Beteiligten mit tiefen Überlebensprogrammen verknüpft sind und deshalb emotional schwer aufgeladen sind.

Die wissenschaftliche Wahrheitsfindung funktioniert nur innerhalb der Wissenschaften. In der politischen Praxis geht es um Prozesse der Willensbildung, die anderen Gesetzmäßigkeiten folgt. Die Regeln der Willensbildung und Entscheidungsfindung müssen in Demokratien zwischen den einzelnen Interessensgruppen ausgehandelt werden. Diese Zusammenhänge wurden zwar auch schon wissenschaftlich erforscht, aber die entsprechenden Forschungsergebnisse können wiederum nicht als Ersatz, sondern nur als Hilfsmittel für politische Entscheidungen dienen. Ideologien hingegen behindern jeden rationalen demokratischen Diskurs, weil sie von ungeklärten Emotionen angetrieben sind. Für Streit ist gesorgt, ohne Hoffnung auf Lösungen.

Quelle: Yascha Mounk: Im Zeitalter der Identität.  Der Aufstieg einer gefährlichen Idee. Stuttgart: Klett-Cotta 2024 – engl. Original: The Identity Trap 2023


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