Dienstag, 7. Januar 2025

Die Redefreiheit in Gefahr

Die Redefreiheit zählt zu den liberalen Grundrechten, die in vielen Ländern mit hohem Blutzoll gegen autoritäre Regierungen erkämpft wurden. Andere autoritäre Regierungen haben die Redefreiheit inzwischen wieder drastisch eingeschränkt, wie z.B. Ungarn, Türkei, Thailand, China und Istanbul, von Russland ganz zu schweigen. In den USA gibt es Redebeschränkungen für Lehrer in einigen Bundesstaaten z.B. was Themen der Sexualität oder der Geschlechtsidentität anbetrifft.

Die Redefreiheit ist zudem eine Grundvoraussetzung für jede Demokratie. Wenn die Herrschaft beim Volk liegen soll, ist ein Medium erforderlich, in dem das Volk seinen Willen abstimmen und formulieren kann. Das Medium ist das Gespräch, die Diskussion, die Debatte unter gleichrangigen Staatsbürgern. Wenn das Grundrecht in einem Staat gesichert ist, indem es z.B. wie in den meisten liberalen Demokratien im Verfassungsrang steht, geht es darum, die Grenzen der Individualrechte abzustecken: Wo verletzen Meinungsäußerungen die Integrität und Würde einer Person?

Angriffe auf die Redefreiheit

Dass die Redefreiheit von rechts angegriffen wird, hat eine lange Tradition (siehe z.B. die nationalsozialistischen und faschistischen Regime). Denn diesen Bewegungen geht es um die Errichtung von autoritären Herrschaftsformen oder Diktaturen. Deshalb ist es auch heute nicht verwunderlich, dass sie von dieser Seite eingeschränkt wird, sobald die Macht erlangt wird. Das geschieht vor allem dadurch, dass die öffentlichen Medien an die Kandare genommen werden. Auch Mitarbeiter in Betrieben, die in öffentlicher Hand sind oder mit dem Staat kooperieren, werden der Meinungskontrolle unterworfen, indem sie gekündigt werden oder mit der Kündigung bedroht werden, falls sie regierungskritische Äußerungen machen. Dadurch wird ein Klima der Angst erzeugt, das daran hindert, frei seine Meinung zum Ausdruck zu bringen.

Es gibt aber auch Bedenken gegen die Redefreiheit von politisch linker Seite. Lange Zeit war es eine zentrale Forderung von linker Seite, die Redefreiheit vor den Tyrannen zu schützen. Doch im Zug der Identitätsbewegung ist aus dieser Ecke die Redefreiheit als Freiheit für rassistische und frauenfeindliche Äußerungen in Zweifel gezogen worden. Auf den linken Theoretiker Herbert Marcuse geht die Forderung zurück, eine „demokratische erzieherische Diktatur freier Menschen“ zu errichten, in der den Gruppen die Versammlungs- und Redefreiheit entzogen wird, die „eine aggressive Politik, Aufrüstung, Chauvinismus und Diskriminierung aus rassischen und religiösen Gründen befürworten.“ (Mounk S. 221) 

Unter dem Einfluss von Michel Foucault wurde die Abwertung der Redefreiheit mit dem zusätzlichen Argument vorgebracht, dass sie nur der Durchsetzung von Macht dient. Die Redefreiheit wäre nur ein weiteres Privileg der bevorzugten Gesellschaftsschichten mit dem Ziel, die Unterdrückung aufrechtzuerhalten. Im Zug der Ideenentwicklung im Rahmen der Identitätsbewegung sind neue Normen und Standards entstanden, die weniger durch politische Machtausübung, aber mehr durch „die Tyrannei der herrschenden Meinung und des herrschenden Gefühls“ (John Stuart Mill), also durch die Erweckung von Schamgefühlen die Redefreiheit beschränken. Das Verbot, bestimmte Formulierungen und Ausdrücke, wie z.B. das „N-Wort“ zu verwenden, wird mit der Drohung von sozialer Ächtung vorangetrieben. Es soll die Norm verinnerlicht werden, damit man sich in der Öffentlichkeit nicht blamiert und die Achtung der Mitmenschen (und unter Umständen den Job) verliert. Also hält man lieber den Mund, bevor man sich die Zunge durch eine möglicherweise rassistische oder chauvinistische Äußerung verbrennt.

Gegen die Zensur

Die Argumente für die Redefreiheit sind gravierend. Es entspricht einem menschlichen Grundbedürfnis, die eigene Meinung ausdrücken zu können und dafür von anderen geachtet zu werden. Wer eine Meinung haben darf, gehört zur Gesellschaft; wer mitreden darf, hat Teil an der Macht. Redeverbote sind immer eine Form der Unterdrückung und stellen eine Entwürdigung dar. Sie zersägen die Grundlagen einer egalitären Gesellschaft.

Dazu kommt, dass die unterschiedlichen Sichtweisen, die die Menschen haben, ein enormes kreatives Potenzial enthalten. Alle haben früher geglaubt, dass die Erde eine Scheibe ist; jemand hat die damals als verrückt erscheinende Idee gehabt, dass sie eine Kugel sein könnte und Recht behalten. Alle Fortschritte im Wissen und in der Erkenntnis sind der freien Meinungsäußerung geschuldet: Menschen haben Ideen, die außerhalb des gewohnten Horizontes führen und auf Neuland hinweisen. Andere greifen sie auf und entwickeln neue Einsichten. Der Fortschritt in den Techniken, Wissenschaften, Künsten, Wirtschaftsweisen und schließlich in der Evolution des Bewusstseins, das Vertiefen des Wissens und der ethischen Regeln erfolgt auf der Grundlage der unterschiedlichen Meinungen, die ausgesprochen oder schriftlich publiziert werden. 

Irreführung

Was ist mit Falschaussagen, „alternativen Fakten“, Verschwörungstheorien usw., also mit Meinungsäußerungen, die in die Irre führen oder manipulieren sollen? Sollten sie von der Redefreiheit ausgeschlossen werden? Jede Zensur der Redefreiheit birgt das Risiko der Willkür und der Unterdrückung. Es müssten Kriterien gefunden werden, nach denen bestimmte Wortmeldungen verboten werden, und diese müssten auf einem breiten gesellschaftlichen Konsens beruhen. So gibt es z.B. in Österreich im Rahmen des Verbots der nationalsozialistischen Wiederbetätigung das Verbot der öffentlichen Äußerung von eindeutig nationalsozialistischen Parolen, Phrasen oder Gesten. Der Konsens über diese Einschränkung der Redefreiheit ist breit, auch wenn es rechtsextreme Gruppierungen gibt, die diese Verbote aufheben wollen.  Die Vergangenheit Österreichs ist so schwer mit den Gräueltaten des NS-Regimes verbunden, dass ein derartiges Verbot den meisten als gerechtfertigt erscheint und eine kleine Anerkennung der Leiden der Opfer des Regimes darstellt.

In anderen Bereichen wird es aber schwierig sein, einen derartigen Konsens zu finden. Da ist es geboten, dass Falschmeldungen richtiggestellt werden, dass Manipulationen entlarvt und Dummheiten ironisiert werden. Alle Nutzer der Kommunikationsmedien sind im Grunde verpflichtet, diese Medien frei von menschlicher Bosheit oder Ignoranz zu halten, so gut es eben geht. Wer nichts gegen die Verschmutzung dieser öffentlichen Räume tut, trägt zu diesem Missbrauch bei. 

Vielmehr sollten wir differierende Meinungen als Anlass für das Weiterforschen nach der Wahrheit nehmen. Wenn uns eine Nachricht als irreführend und falsch erscheint, haben wir die Möglichkeit, eine korrigierende Nachricht in die kommunikative Welt zu setzen. Auf Falschmeldungen können Richtigstellungen folgen, auf Manipulationen Entlarvungen und Aufklärungen. 

Redefreiheit und Hass

Was ist mit Hassbotschaften, Diffamierungen, Abwertungen, also mit Angriffen auf die Integrität von Personen? Die öffentliche Entwürdigung eines Menschen stellt eine schwere Verletzung der Persönlichkeitsrechte dar, und zu deren Schutz muss es einklagbare Rechte und Sanktionen geben. Es stellt einen Missbrauch der Redefreiheit dar, wenn jemand Hassgefühle gegen andere Menschen an die Öffentlichkeit bringt und sie damit in ein schlechtes Licht rückt, was mittels der sogenannten sozialen Medien heutzutage für jedermann und jederfrau ein Leichtes ist. Wo genau die Grenze zwischen dem Schutz der Würde und Überempfindlichkeit liegt, muss im Zweifelsfall von Gerichten bestimmt werden. In Deutschland wurde vor kurzem ein Rentner mit einer Strafe von € 800,- belegt, weil er über eine von ihm nicht geschätzte Politikerin geschrieben hatte, dass sie wohl beim Trampolinspringen zu oft an die Decke geknallt wäre. Manche meinten, die Politikerin wäre zu empfindlich, so eine Meldung zur Strafanzeige zu bringen. Andere finden es wichtig, dass solche Hassbotschaften nicht folgenlos bleiben und damit Nachahmer motivieren. Über das Ausmaß von Sanktionen kann und soll debattiert werden, aber nicht über die Aufgabe des Staates, Individuen vor aggressiven Grenzüberschreitungen zu schützen.

Im Internet ist viel Müll unterwegs – Wertloses Zeug, Unausgegorenes und Menschenfeindliches. Viele toben ihre unbewältigten inneren Themen fern von Vernunft und Redlichkeit im Netz aus. Sie sollen ihre Strafe kriegen, wenn sie die Grenzen des Gesetzes übertreten. Aber eine Zensur einzuführen stellt im besten Fall eine Problemzone ab, erzeugt freilich zugleich viele neue. Denn Zensur kann nie objektiv erfolgen, sondern enthält immer ein Moment der Willkür und damit der Unterdrückung. Wer Zensur ausüben kann, verfügt über eine große Macht, die mit der Demokratie nicht vereinbar ist. Wird die Meinungsfreiheit eingeschränkt, verliert die Gesellschaft einen wichtigen Mechanismus der Selbstkorrektur. Je mehr Menschen hingegen an der „Steuerung“ der Gesellschaft beteiligt sind, indem sie mitreden können, desto sicherer ist sie gefeit vor schmerzhaften Fehlentwicklungen. Dazu gehört auch, dass Unsinniges, Blödsinniges, Beschränktes oder sogar Boshaftes auftaucht. Das können wir in Kauf nehmen, damit können wir leben, solange es eine Rechtsordnung gibt, die vor Auswüchsen schützt.

Selbstzensur

Natürlich dürfen wir auch den frommen Wunsch nach mehr Selbstzensur hegen. Um die Redefreiheit nicht zu missbrauchen, sollte die Regel gelten, nicht sofort alles hinauszuposaunen, was einem gerade gegen den Strich geht, sondern eine Denkpause einzulegen, in der der Inhalt und die Formulierung aus einer inneren Distanz betrachtet werden können, bevor die Botschaft an die Öffentlichkeit kommt. Haben wir die Integrität anderer Personen mit unserer Äußerung geachtet? Sind wir uns des Grundsatzes  der Meinungsfreiheit bewusst, indem wir andere Ansichten achten, auch wenn sie uns als falsch oder unethisch erscheinen?

Dazu brauchen wir ein Stück Selbstdisziplin, die wir nur bei uns selbst aufbringen können. Mit unserem Beispiel können wir aber auch die Menschen in unserer Umgebung beeinflussen. Die öffentlichen Debattenräume frei von Hass, Aggression und Diffamierungen zu halten, ist ein wichtiges Anliegen, das die Grundlagen einer lebendigen und zukunftsfähigen Demokratie sichert.

Literatur: Yascha Mounk: Im Zeitalter der Identität.  Der Aufstieg einer gefährlichen Idee. Stuttgart: Klett-Cotta 2024, insbes. S. 215-242

Zum Weiterlesen:
Die Standpunkttheorie und ihre Schwächen
Identitätsideologie als Gefahr für die Demokratie


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