Samstag, 19. Februar 2022

Schamkonflikte in der Kommunikation

In kommunikativen Situationen geschehen immer wieder Beleidigungen, Abwertungen und Geringschätzigkeiten. Eine häufige Form, auf solche Verletzungen zu reagieren, besteht darin, die andere Person zu beschämen. Durch diesen Racheakt soll das, was einem angetan wurde, ausgeglichen werden. Eine Zusatzwaffe besteht darin, die andere Person in einen Schamkonflikt zu verleiten. Mit diesem Akt soll der Ausgleich verdoppelt werden.

 „Du hast das oder jenes getan, was mich verletzt hat. Dafür solltest du dich schämen. Und du solltest dich schämen, dass du ein Mensch bist, der so etwas tut.“

Was läuft hier ab? Die Person, die die Verletzung ausgeübt hat, soll sich erstens für das schämen, was sie einem angetan hat, und zweitens soll sie sich schämen, weil sie sich selber gegenüber untreu geworden ist, sich selber also verraten hat. Mit dem Hinweis auf den inneren Konflikt, den ein derartiges Verhalten auslösen kann, soll die Wirkung der Mitteilung verdoppelt werden und damit soll sichergestellt werden, dass sie ankommt und eine nachhaltige Verhaltensänderung bewirkt. Das ist die Intention, die in jeder Form der doppelten Beschämung enthalten ist: Die Verdopplung der Ladung, damit die Botschaft in jedem Fall tief im Inneren des Adressaten ankommt. Die Hoffnung ist, dass damit eine Wiederholung der Verletzung für immer verhindert werden kann.

Beschämungen sind Lähmungen

Die Schwierigkeit liegt allerdings darin, dass jede Beschämung die betroffene Person in einen handlungsunfähigen Zustand versetzt  und das Denken lähmt. Erst recht wirken sich verdoppelte Beschämungen hemmend und blockierend auf die betroffenen Menschen aus. Manche Menschen reagieren sofort mit einem Gegenangriff, um ihren Hals aus der Beschämungsschlinge herauszuziehen. Damit ist eine Verlängerung und Eskalation des Konflikts programmiert. Diejenigen, die nicht mit dieser Strategie ausgestattet sind, neigen zum Verstummen und Erstarren. Sie wissen nicht weiter. Es braucht dann einige Zeit fürs Auftauen und für das in den Moment Zurückkommen. Das Lernen, das sich die Person, von der die Beschämung ausgeht, wünscht, kann freilich unter diesen Bedingungen nicht stattfinden. 

Erschwerend wirkt in dieser Situation, dass zu dem Phänomen der verdoppelten Scham der Schamkonflikt kommt, den die anklagende Person der angeklagten einflößen möchte. Sie will aus der Reaktion auf die erlittene Verletzung die andere Person in eine innere Spannung versetzen und sie damit auf ihre Widersprüchlichkeit aufmerksam machen, an der sie dann leiden soll. Die Botschaft lautet, dass die Person nicht nur nicht in Ordnung ist, weil sie etwas Verletzendes getan oder gesagt hat (Schamgrund 1), sondern weil sie mit sich selber uneins ist und sich selber untreu geworden ist (Schamgrund 2). 

Der Appell in der Botschaft lautet, sich erstens für die Verletzung zu entschuldigen und zweitens durch die Lösung des inneren Konflikts ein neuer Mensch zu werden. So soll es ausgeschlossen sein, aus diesem Grund hinkünftig verletzend zu wirken. Der erste Appell zielt auf die Wiederherstellung einer gemeinsamen Basis der Gleichrangigkeit. Der zweite nimmt eine pädagogische oder therapeutische Ebene ein, die von einer angemaßten Über- und Unterordnung gekennzeichnet ist. Die eine Person erteilt der anderen ungebeten eine Lernaufgabe, die sie aus der ebenso ungebeten erstellten Diagnose des Schamkonflikts ableitet. Sie gibt die Richtung vor, wie sich die andere Person entwickeln soll, damit sie zukünftig verlässlich der eigenen Erwartungshaltung entspricht.

Solche Kommunikationsmuster in Beziehungen sind immer sensibel für Schamverletzungen: Auf innere Schamkonflikte aufmerksam gemacht zu werden, ist dann beschämend, wenn es mit der Forderung verbunden ist, diese Konflikte gefälligst aufzulösen, weil implizit kommuniziert wird, dass die Person nur dann Achtung und Würde verdient, wenn sie ihren inneren Widerspruch gelöst hat. Damit wird über das Ziel hinausgeschossen, weil vom Verhalten, das einem nicht gefallen hat, auf die Person als ganze geschlossen wird. Es geht dann nicht mehr nur um ein entgleistes, vom Unbewussten gesteuertes und unachtsames Handeln oder Nichthandeln, das einmal passieren kann, sondern um die Täterperson, die in ihrem Sein und in ihrer Würde in Frage gestellt wird.

Es wird dabei auch übersehen, dass innere Schamkonflikte allgegenwärtig sind. Die Abläufe in der kommunikativen Wirklichkeit sind so komplex, dass immer wieder solche Konflikte entstehen. Gerade, wenn sich in Beziehungen Kommunikationsmuster aufgebaut haben, die subtile Formen der Beschämung einsetzen, werden diese Konstellationen stets aufs Neue angefacht. 

Die Rolle der Rache

Angesichts der Mehrschichtigkeit der Beschämung ist es für eine auf diese Weise angesprochene Person schwierig, mit der Scham und der Beschämung zurechtzukommen. Aus der Natur der Sache folgt, dass im Inneren verschiedenen Verarbeitungs- und Reaktionsprozesse abzulaufen beginnen, die bei jedem Menschen unterschiedlich gestaltet sind. Als Resultat entsteht dann die Reaktion, die entweder eine Form des Angriffs oder der Flucht darstellt. Ein Aspekt wird bei jeder Form der Reaktion mitspielen: Die Rache. Denn jede Beschämung wird als Verletzung erlebt, und auf Verletzungen folgen nach der Logik des Unterbewusstseins Racheakte, die die Verletzung ausgleichen sollen. Freilich, wie immer bei der Rache,  findet aber der Ausgleich nur innerpsychisch und dort auch nur oberflächlich statt, während die Spannung im sozialen Zusammenhang bestehen bleibt und die Dynamik, die daraus resultiert, mit hoher Wahrscheinlichkeit zu weiteren Racheaktionen führt. 

Üblicherweise entsteht damit aus jeder rachegespeisten Reaktion auf eine Verletzung ein Interpunktionsmuster nach Paul Watzlawick: Ein Interaktionsprozess, bei dem jeder Beteiligte den jeweils anderen als Urheber der Kette und sich selber als ursprüngliches Opfer erlebt, bei dem aber objektiv betrachtet nicht festgestellt werden kann, wer begonnen hat und wer schuld am Ausbruch des Kettenprozesses ist. Es ist ein Prozess ohne Anfang und ohne Ende. Ein Ausstieg ist nur möglich, wenn es beiden Personen gelingt, die Natur des Prozesses aus einer übergeordneten Perspektive zu verstehen, sodass sie von der Ebene der persönlichen Betroffenheit auf die Ebene der systemischen Betrachtungsweise wechseln. Dabei gilt es, die Verantwortung für das eigene Tun zu übernehmen und Entschuldigungen anzubringen, wo die Grenzen und die Würde der anderen Person verletzt wurden.

Die Wichtigkeit der Ich-Perspektive

Wie können die Fallen der Schamverstrickung in der Kommunikation vermieden werden? Die goldene Regel besagt bekanntlich, Verletzungen aus der Ich-Perspektive mitzuteilen. Es wird dabei die Annahme vermieden, dass das, was verletzt hat, eine für alle Menschen schlimme Untat war, sondern etwas, was einen als der besondere Mensch, der man ist, betroffen hat. Mit dieser Reduktion des Geltungsanspruches fällt auch die Neigung zur Ausweitung der Anklage auf die andere Person, z.B. in der Form der Unterstellung eines Schamkonflikts. Damit wird nur das Verhalten benannt und als Ursache der Verletzung bezeichnet. Es wird nicht die ganze Person angegriffen, was eine Grenzüberschreitung darstellen würde und den Konflikt prolongiert. So aber versteht die andere Person, was ihre Unachtsamkeit war und kann sich leicht entschuldigen. Damit sollte die Sache erledigt sein und Friede und Entspannung in der Beziehung eintreten.

Zum Weiterlesen:
Die Kreativitätsscham und ihre Auflösung
Die verschüchterte und die böse Schwester: Scham und Rache


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