Montag, 7. Februar 2022

Die Kreativitätsscham und ihre Auflösung

Kreativität ist ein Grundwesenszug des Menschen, also etwas, was uns Menschen erst zu Menschen macht. Wir wollen Neues kennenlernen, erkunden, erforschen und erzeugen. Hinter der Kreativität stecken die Neugier, das Streben nach Veränderung und die Lust am Experimentieren. Wir fühlen uns ganz in unserem Element, wenn wir kreativ sind. Wir sind im Fluss, vergessen oft Raum und Zeit und sind ganz mit dem verbunden, was wir gerade tun.

Wie kann diese wunderbare Gabe mit Scham in Verbindung kommen? Die Wurzel liegt, wie so oft, in der Kindheit. Die Eltern oder Erziehungspersonen sind nicht immer glücklich mit der Kreativität ihrer Kinder. Es ist nur mäßig lustig, wenn plötzlich die weiße Wohnzimmerwand bemalt und bekritzelt ist oder das Küchengeschirr im Badezimmer aufeinander gestapelt vorgefunden wird. Der kreative Ausdruck braucht auch Grenzen, und das Respektieren der Bedürfnisse der Mitmenschen gehört zum normalen Lernen der Kinder.

Wenn aber die kreativen Experimente der Kinder auf keine oder auf eine vorwiegend ablehnende Resonanz bei den Eltern stoßen und das immer wieder passiert, dann entwickelt sich bei den Kleinen die Kreativitätsscham: „Ich bin nicht in Ordnung, wenn ich kreativ bin.“ „Ich enttäusche oder langweile meine Eltern mit dem, was mir so viel Freude gemacht hat.“ „Die Freude an meinen eigenen Schöpfungen und Entdeckungen ist nicht angebracht.“ 

Kreativität und Schamkonflikt

Die Kreativitätsscham erzeugt einen inneren Zwiespalt: Zwei mächtige Kräfte, der Drang nach Kreativität und Selbstentfaltung sowie der Wunsch, akzeptiert und geliebt zu werden, stehen im Widerstreit. Es handelt sich also um eine Form des Grundkonflikts zwischen Autonomie und Bindung. Er ist in diesem Zusammenhang auch ein Konflikt zwischen Abenteuer und Anpassung oder zwischen Neugier und Einschränkung. 

Obsiegt die Anpassung an die Wünsche und Bedürfnisse der Eltern, so muss das Streben nach kreativem Ausdruck blockiert werden. Die Scham hilft dabei. Sie macht darauf aufmerksam, dass das Ausleben der eigenen schöpferischen Impulse riskant ist und mit Liebesentzug, Schelte oder Ablehnung bestraft werden könnte. Im Inneren wird Kreativität mit Gefahr und Ablehnung assoziiert und geht in der Folge mit einem schlechten Gewissen einher.

Oft legt sich eine Rationalisierung über die Scham, die besagt: „Verschwende deine Zeit nicht mit kindischen Spielereien, sondern mach deine Arbeit, die du machen musst, auch wenn sie dir keine Freude macht.“ Viele Menschen, die in ungeliebten Jobs festhängen und sich keine Alternative dazu vorstellen können, leiden an dieser Scham vor ihrer eigenen Kreativität. Sie glauben, dass sie zu ihrem Unglück verurteilt sind und fühlen sich unfähig, Möglichkeiten zu erproben, wie sie aus diesem Gefängnis herausfinden könnten. Sie halten sich für weniger originell, weniger ideenreich und kreativ als ihre Mitmenschen, die sie dafür beneiden. Sie orientieren sich an anderen in dem, was sie denken, reden und fühlen. Sie misstrauen ihren eigenen Fähigkeiten und unterschätzen sie und stellen gerne das eigene Licht unter den Scheffel. 

Diese Menschen wurden in ihrer Kindheit in der Entdeckerfreude beschnitten und sie haben dann diese Beschränktheit zu ihrer zweiten Natur gemacht. Sie haben das Selbstvertrauen in die eigenen schöpferischen Kräfte verloren und zweifeln ihre Begabungen an oder lassen sie verkümmern. Sie denken, dass Kreativität nur besonderen, begnadeten Menschen gegeben ist und dass sie in ihrer Durchschnittlichkeit und Unbegabtheit nichts Neues zustande bringen könnten. Sie messen sich oft an unerreichbaren Vorbildern, nur um sich zu bestätigen, dass sie zu nichts geeignet sind und deshalb auch die Finger vor eigenen kreativen Versuchen lassen sollten, um sich nicht zu blamieren. „Ich kann ja nicht singen.“ „Ich kann ja nicht malen.“ „Ich kann ja nicht schreiben.“ So versuchen sie ihre Umgebung und sich selbst von den eigenen mangelnden Fähigkeiten zu überzeugen.

Das Menschenrecht auf Kreativität

Erst das Wiederfinden des Zugangs zum inneren Kind, das in seinem Expansionsdrang verletzt und eingegrenzt wurde, ermöglicht das Wiederbeleben der Freude am Neuen, das Wundern an der Vielfalt, das Genießen des schöpferischen Flusses. Jeder Mensch ist in seiner Weise kreativ, und das Erschließen und Entfalten der eigenen Kreativität ist ein Grundrecht, das wir uns zurückholen können und sollen, wenn es uns abhandengekommen ist. Denn das Erschaffen eigener Einsichten, eigener  Ideen und eigener Werke ist ein Beitrag zur Bereicherung der Welt und zur Erweiterung der Möglichkeiten, die die Menschheit hat. Jeder neue Ansatz verändert die Wirklichkeit und bietet den Anlass für weitere Veränderungen, die von einem selbst kommen oder von anderen aufgegriffen werden. Jeder kreative Schaffensakt enthält die Inspiration für weitere Schöpfungen. 

Kreative Menschen sind glücklich, weil sie im kreativen Handeln ganz mit sich und mit der schöpferischen Energie verbunden sind, die durch sie hindurch wirksam wird. Dieses Glück steht allen Menschen zu. Deshalb ist es so wichtig, den Bann der Kreativitätsscham zu durchbrechen und an die eigenen kreativen Fähigkeiten zu glauben.

Zum Weiterlesen:
Reaktive und kreative Lebensorientierung
Kreativitätshemmungen und ihre Lösung
Über die Einzigartigkeit


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