Samstag, 27. Juni 2020

Die Anmaßung im schlechten Gewissen

Schlechtes Gewissen entsteht, wenn wir etwas getan oder unterlassen haben, das jemand anderem oder uns selber geschadet hat, das Verletzungen nach sich gezogen hat oder Konflikte nach sich zog. Es zeigt uns an, dass wir eine Schuld auf uns geladen haben, die wir begleichen oder ausgleichen sollten. Wenn das gelingt, verschwindet das schlechte Gewissen.

Das schlechte Gewissen kann sich aber auch mit der Scham verbinden und dadurch zu einer wiederkehrenden inneren mahnenden Stimme werden. Wenn die Schuld beglichen wurde und die Scham bleibt, mischt sich eine alte Abwertungserfahrung in die aktuelle Geschichte ein und bewirkt, dass sie nicht unter „erledigt“ abgelegt und vergessen werden kann, sondern immer wieder aus den Hintergründen der Seele mit nagender Qual auftaucht. Denn die Scham hinter der Schuld sagt, dass uns nicht nur einen Blödsinn unterlaufen ist, sondern dass bei uns als Person grundlegend etwas faul ist.

Scheinbar will uns die Scham darauf aufmerksam machen, dass wir etwas schlecht gemacht haben und uns in Zukunft bessern müssen, dass also, wenn wieder Ähnliches geschieht, wir anders reagieren müssen. Doch setzt sie viel zu tief an und korrumpiert die Grundlagen unserer Persönlichkeit. Auf diese Weise kann ein schlechtes Gewissen zu einer hartnäckigen Gewohnheit der Selbstkritik werden. Wir hegen und pflegen es in uns, obwohl es uns äußerst unangenehm und lästig ist.

Die Anmaßung im schlechten Gewissen


Das schlechte Gewissen wird also unter dem Einfluss der Scham zur schlechten Gewohnheit der Selbstabwertung. Es speist sich im Grund aus einer Anmaßung, die wir uns selber zufügen. Wir tun nämlich so, als ob wir jetzt besser wüssten, was irgendwann in der Vergangenheit schiefgelaufen ist. Damals wussten wir, konnten wir, verstanden wir, was wir wissen, können und verstehen konnten, nicht mehr und nicht weniger. Durch die Erfahrung sind wir klüger geworden, wir haben gelernt. Wenn wir aus dem Jetzt in die Vergangenheit zurückschauen, ist es leicht, den Richter zu spielen, der den Fehler hervorstreicht und die Verurteilung ausspricht.

Als Richter über uns selbst nehmen wir jedoch eine angemaßte Position ein, mit der wir uns einerseits aufwerten (= arroganter Stolz), um uns andererseits abzuwerten (= Scham). Das Ergebnis aus diesem Additions-Subtraktionsspiel liegt im Minus, weil die Selbstverurteilung übrig bleibt und hartnäckig an unserem Selbstwert nagend weiterwirkt. Die Anmaßung entsteht daraus, dass die nachträgliche Sichtweise selbstverständlicherweise umfassender und passender ist als die ursprüngliche, und dass wir aus dieser Selbstverständlichkeit eine Überlegenheit basteln. Die Anmaßung besteht zweitens darin, dass wir über etwas urteilen, was wir nicht aus sich heraus, sondern aus der nachträglichen Perspektive verstehen („Nachher sind wir immer gescheiter“). Drittens ist es anmaßend, so zu tun, als könnte die Vergangenheit verändert werden. Was geschehen ist, ist geschehen, ob es uns jetzt passt und gefällt oder nicht. Die Geschichte kann nicht mehr umgeschrieben werden. Es gibt kein Playback, mit dem wir zurückspulen und ganz andere Worte oder Taten in die Erzählung einspeisen könnten. Von einem Standpunkt des Besserwissens etwas zu verurteilen, was für immer so und nicht anders in der Vergangenheit bestehen bleibt, ist naiv, überheblich und sinnlos, weil es keinen konstruktiven Beitrag zu irgendeiner Verbesserung liefert.

Ja, ich hätte besser das oder jenes nicht getan. Hätte ich doch an diesen Aspekt noch gedacht, dann wäre alles anders gelaufen. Hätte ich diese emotionale Reaktion rechtzeitig gezügelt, wäre die Eskalation unterblieben. Wäre ich rechtzeitig abgebogen, hätte ich das Ziel leicht gefunden. Hätte ich den Pullover angezogen, wäre ich jetzt nicht verkühlt… Endlos ist die Liste mit unseren Verfehlungen, und viel Energie verpufft darin, sie immer wieder aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu bringen, um uns dort abzuwerten.

Der rückwärts gewandte Konjunktiv


Der rückwärts gewandte Konjunktiv ist eine gefährliche Waffe, die wir manchmal gegeneinander richten, um eine vergangene Handlung eines Mitmenschen zu verurteilen und dessen Person dabei gleich mitbetreffen („Hättest du A statt B gemacht, wäre das nicht passiert, und du hättest mir C erspart.“). Sie ist auch gefährlich uns selbst gegenüber. Wir verfangen uns in Gedankenschleifen, die uns nur ermüden und schwächen, ohne ein konstruktives Resultat hervorzubringen.

Wir übersehen die einfache Wahrheit, dass wir in jedem Moment unseres Lebens immer das tun, was in dem Moment geschehen kann – aus den Fähigkeiten, dem Wissensstand und der emotionalen Stimmung heraus, die zu diesem Zeitpunkt vorhanden waren. Wäre der innere Ressourcenzustand anders beschaffen gewesen, hätten wir uns anders entschieden, anders gehandelt, anders reagiert. In diesem Sinn tun wir immer das Beste, das uns im Moment des Tuns möglich ist. 

Natürlicherweise ändert sich das, was das Beste für uns Mögliche ist, von Moment zu Moment, und oft erscheint in der Nachschau die Alternative völlig logisch und einsichtig. Natürlich wäre es besser gewesen, das Netzkabel mitzunehmen als es zu Hause liegenzulassen. Natürlich wäre es besser gewesen, freundlichere Worte im Streit zu wählen als beleidigende. Nur hatten wir im Moment des Geschehens eine andere Logik und Einsicht. Das können wir jetzt nicht mehr ändern und werden wir nie ändern können.

Die Anmaßung im aufgeblasenen schlechten Gewissen will sich über die Geschichte stellen und ihren Richtspruch andauernd wie ein Mantra wiederholen. Wir sollten die zwiespältige Ego-Agenda in dieser Form der destruktiven Selbstreflexion durchschauen und damit dem schlechten Gewissen seine Macht nehmen. Wir haben unsere Schuld getilgt und ausgeglichen, was wir aus dem Gleichgewicht gebracht haben. Wir müssen uns selbst noch verzeihen, solange, bis uns das schlechte Gewissen endlich in Ruhe lässt.

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