Mittwoch, 25. März 2020

Scham, Schuld, Corona

Scham und Schuld sind Gefühle, die hinter allem stecken können, was uns beschäftigt. Zurzeit gibt es das Hauptthema Virus, und es kann sich lohnen, einen Blick auf die Scham- und Schuldaspekte zu werfen, die darin verborgen sind.

Wie bei allen großen Veränderungen, die unser Leben beeinflussen, führt auch die aktuelle zu einem Rattenschwanz an Erklärungsversuchen, die nach dem oder den Schuldigen suchen. Mal sind es die Chinesen, die den Virus erfunden haben, um dem Westen zu schaden, mal die Amerikaner, um den Rest der Welt noch mehr zu dominieren, mal die Finanzeliten, um mit Spekulation noch mehr zu verdienen usw. Es gibt aber auch scheinbar metaphysische Erklärungen, die „die Natur“ für die Viren  verantwortlich machen und in ihnen eine Waffe sehen, mit der sie sich gegen die Menschen wehrt und dafür sorgt, dass sie von uns nicht noch mehr zerstört wird. Schließlich ist auch davon die Rede, dass der Planet sich mit Hilfe der Viren von der Last einer Überbevölkerung befreien will.

Die Suche nach Schuldigen


Jede dieser Theorien hat mit Scham und Schuld zu tun. Einen Schuldigen zu finden für die Pandemie klingt nach Verantwortung und Aufklärung: Schuldige für ein Unheil müssen ausgeforscht, dingfest gemacht und bestraft werden. Es passiert massives Leid, also muss es massive Schuld geben. Und wo Schuld ist, ist auch die Scham nicht weit.

Sicher gibt es Beamte und Politiker, die in dieser Situation fehlerhaft gehandelt haben. Aber die ganze Problematik und damit auch das Virus selbst als menschliche Erfindung von einigen Bösewichtern darzustellen, ist, solange es dafür keine Beweise gibt (und die Beweislage spricht eindeutig für das Gegenteil), eine ungeheure Beschuldigung gegen Unbekannt. Solche Vorwürfe entspringen dem Bedürfnis nach einem eindeutigen Schuldigen, dem die ganze Verantwortung angelastet werden kann. Wo Schlimmes geschieht, muss es Schuld geben, so haben wir das in der Kindheit gelernt und folglich muss das auch für die große weite Welt und ihre komplexen Abläufe gelten. Wie wir als Kinder für unsere schlimmen Taten beschuldigt, beschämt und bestraft wurden, muss es jetzt auch geschehen, sonst bleibt die Unsicherheit, dass es erneut zu Widrigkeiten kommt, die sich unserer Kontrolle entziehen. 

Damit wird die Scham als Waffe genutzt, die vermeintlich unsere Ehre wiederherstellen kann, die durch eine Krise in Frage gestellt wurde.  Doch ist es das eigene Schambedürfnis, aus dem eine solche Denkweise erwächst. Denn es besteht keinerlei Notwendigkeit, einem Vorgang wie diesem böse menschliche Absichten zu unterstellen – wie gesagt, solange es keine Belege dafür gibt. Die Absicht, böse Absichten ohne Grund zu unterstellen, kommt aus der eigenen Bosheit, die mit Scham unterdrückt und auf andere projiziert wird. 

Ist die Natur ein Subjekt?


Wenn wir die schuldige Instanz in der Natur sehen, die sich rächen will, sollten wir auch auf die Schamthemen schauen, die sich in diesem Erklärungsmodell verbergen. Zunächst wissen wir nicht, ob hinter der Natur und ihren Abläufen ein Plan oder ein planendes Wesen steht. Wir können von einer derartigen Annahme ausgehen, genauso wie von der gegenteiligen, dass es eben keine planende Stelle oder Person oder Intelligenz gibt, sondern dass die Vorgänge und evolutiven Prozesse in der Natur ohne Vorausplanung ablaufen. Das ist zumindest der Standpunkt der modernen Naturwissenschaften, und die Theorie des „kreativen Designs“, die eben einen Architekten des ganzen Ablaufs unterstellt, hat dagegen einen sehr schweren Stand. Sie ist deshalb nur noch in einigen amerikanischen Bundesstaaten angesehen, in denen auch die Evolutionstheorie aus den Schulen verbannt ist. 

Es ist also im besten Fall eine Glaubensfrage, ob die Natur selbständig, nach dem Modell des Menschen, handlungsfähig ist und für sich selbst Verantwortung übernimmt oder nicht. Obzwar wir als Menschen in vielen Fällen planvoll agieren, muss das nicht bedeuten, dass die Natur oder die Existenz als Ganze entsprechend designet sind. Nach all unserem Wissen sind die Menschen die einzigen, die die Herausforderungen ihres Lebens mit dieser Strategie meistern, zumindest zum Teil. Es gibt nahe Verwandte im Tierreich, die über solche Fähigkeiten im Ansatz verfügen, aber damit hat es sich schon. Wir sind ein Spezialfall innerhalb der Vielfalt der Lebensformen, mit einer Intelligenz, die in der Lage ist, die eigene Verfasstheit auf das Ganze zu übertragen, aber ohne die Fähigkeit, absolut entscheiden zu können, ob das sinnvoll ist oder nicht.

Die Natur als Rächerin


Würde es nun stimmen, dass die Natur mit Hilfe von Viren zurückschlägt, um sich der Menschenschädlinge zu entledigen, so sind wir als Menschheit mit einer riesigen Scham beladen, für die wir gerechterweise mit unserer Existenz büßen müssten. Scham ist eben das Gefühl, das auftritt, wenn der Kern unserer Existenz fraglich und unsicher ist. Wenn wir uns selber gewissermaßen in diese Existenzscham versetzen, indem wir der Natur Racheabsichten unterstellen, sind wir es selber, die uns das Existenzrecht absprechen. Es ist also gar nicht die Natur oder die von ihr ins Rennen geschickten Viren, wir selber sind es, die unsere Auslöschung wollen. 

Solche Gedankengänge sind psychologische Spiele. Sie spiegeln nichts anderes als das eigene Lebensschicksal wider. Eigentlich dienen sie gar nicht dazu, besser zu verstehen, was abläuft, um damit in Frieden zu kommen. Vielmehr rechtfertigen sie die eigene Verdammung, die irgendwo und irgendwann in einer frühen Lebensphase erlebt werden musste. Die übermächtige Naturumgebung, in der wir entstehen, ist die Mutter. Wenn sie uns nicht bedingungslos annimmt als neues Erdenwesen, sondern uns als Belastung und Störung ihres Lebens erfährt, nistet sich die Urscham ein, die besagt, dass wir als Wesen falsch und überflüssig sind.

Wenn wir diesen Gedanken des Ungewolltseins auf die ganze Menschheit übertragen, entlasten wir uns ein Stück von unserem eigenen Schicksal, indem wir die Scham potenzieren, sodass wir nur mehr ein kleines Stück von ihr betroffen sind. Wir wollen uns also selber vom eigenen Schicksal freisprechen, um den Preis, den eigenen Untergang mitsamt der Menschheit in Kauf zu nehmen und sogar noch zu rechtfertigen. 

Die fehlprogrammierte Natur


Dazu kommt das peinliche Faktum, dass wir als Menschen selber Naturwesen sind. Manche bemühen an diesem Punkt die Krebsmetapher, um ihr selbstschädigendes Modell aufrechterhalten zu können: Die Menschheit sei das Krebsgeschwür der Natur, also eine genetische Fehlprogrammierung, die in der Lage wäre, die ganze Natur auszulöschen. Wieder wird extrapoliert und vom menschlichen Organismus auf die Natur als Ganze geschlossen, was schon nach den Gesetzen der Logik problematisch ist. Letztlich würde diese Annahme auf den Punkt zusammenfallen, dass die Natur Programme in sich trägt, die bestimmte Strukturen zerstört. Sie baut also auf und zerstört, eine No-Na-Erkenntnis.

Wir wissen nicht einmal, ob die Zerstörung, die Teil von allen Naturprozessen ist, fehlerhaft ist oder nicht. Denn ohne Wissen über den Gesamtplan gibt es auch kein Richtig und Falsch in Bezug auf die Abläufe, die das Leben der Natur ausmachen. Vielleicht müssen wir uns begnügen festzustellen, dass alles so ist, wie es ist, alles so geschieht, wie es geschieht, und dass wir nicht darüber urteilen müssen, was sinnvoll und gut und was fehlerhaft und schlecht ist. 

Die Schwierigkeit, mit Nichtwissen zu leben


Offenbar ist es schwerer, in Bezug auf Gesamtfragen und Globalerklärungen mit einem Nichtwissen zu leben, als selbstschädigende Gedankenmodelle zu pflegen. Denn Nichtwissen kränkt den Narzissmus, und das schmerzt. Wo wir kein Wissen haben, haben wir keine Macht. Wir müssen also auch unsere Machtlosigkeit dem Ganzen gegenüber akzeptieren, und das heißt, wir müssen unsere Endlichkeit und Sterblichkeit annehmen. Es ist also ganz einfach die Angst vor dem Tod, die uns Erklärungsmodelle diktiert, mit denen wir ein Stück Unsterblichkeit erobern wollen. 

Wir können unheimlich viel erklären, was in der Natur abläuft, aber wir wissen nicht, ob es dahinter einen Plan gibt, den wir nach und nach entschlüsseln. Je mehr wir verstehen, desto besser können wir eingreifen und Einfluss ausüben. Sobald die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen eine Methode gefunden haben, die den Viren den Garaus macht, sind wir die Plage los. Gäbe es die Wissenschaft nicht, würde die Epidemie solange wüten, bis es keine Wirte mehr für die Viren gibt, wie das bei den Pestepidemien vergangener Zeiten war. So aber ist es nur eine Frage der Zeit, und die menschliche Intelligenz wird die menschliche Gesundheit wieder ausreichend schützen können.

Doch selbst dann sind wir wieder nur ein bisschen sicherer mit unserem Leben. Selbst dann gibt es genug Bedrohungen, die unserem Leben ein Ende setzen können. Irgendwann wird eine Bedrohung so mächtig sein, dass wir ihr nicht entkommen und uns ihr hingeben müssen. Wollen wir uns auf diesen Moment vorbereiten, so ist es jetzt die Übung, dass wir uns dieser Situation hingeben, ohne zu wissen, wer daran schuld ist und was damit letztlich bezweckt ist.

1 Kommentar:

  1. Ja am richtigsten ist Wir wissen nichts darüber!, alles Andere sind halt Vermutungen (so wie Auch Ich sie habe)mit denen Wir Uns was zu anhalten schaffen ....

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