Mittwoch, 13. Februar 2019

Das Lehren und seine Fallen

Leben kann man auch mit Lernen übersetzen. Denn das Leben entwickelt sich stets weiter und erfordert beständiges Weiterlernen. Fürs Lernen brauchen wir Lehrer, die wissen, können oder verstehen, was wir noch nicht wissen, können oder verstehen. Sie teilen ihre Erfahrungen, Kenntnisse und Einsichten, damit wir sie in unseren Erfahrungsrahmen einbauen können. Sie zeigen uns, wie es geht und wie es nicht geht. Schließlich müssen nicht alle Fehler immer wieder auf die gleiche Weise gemacht werden. 

Lehrer-Schüler-Beziehungen begleiten uns durch unser Leben von den Anfängen bis weit ins Alter. Denn das Lernen endet erst mit dem Sterben, was wir als Letztes lernen. Die ersten Lehrer waren unsere Eltern, und sie haben unsere Einstellungen zum Lernen und zum Schülersein geprägt. Unsere nahezu totale Abhängigkeit von ihnen zu Beginn unseres Lebens hat all die anderen Erfahrungen mit den Grundbedürfnissen in diese Ebene eingespeist. Ob Lernen für uns lustvoll und motivierend ist, hängt auch davon ab, in welcher emotionalen Atmosphäre unser Lernen in den ganz frühen Phasen abgelaufen ist. Von Anfang an lernen wir dort am meisten, wo wir das persönliche Interesse eines anderen Menschen an uns als Person und an unserem Lernfortschritt spüren können. Andererseits können Mängel an Zuwendung und Wertschätzung die Lust am Lernen und inneren Wachsen dämpfen und schwächen. 

All diese Prägungen fließen in unsere spätere Lernkarriere ein und wirken sich darauf aus, welches Verhältnis wir zu Lehrern und Lehrerinnen aufbauen. War Lernen mit Freude und Anerkennung verbunden, erwarten wir das auch von zukünftigen Lehrern. Herrschten dagegen Druck und Kritik beim Lernen in der frühen Kindheit, so entsteht die Neigung, Lehrpersonen mit Widerstand und/oder Unterordnung zu begegnen. Wenn wir viele negative Erfahrungen mit dem Lernen hatten, suchen wir nach positiven Autoritätsfiguren, die die emotionalen Mängel, die aus den frühen Erfahrungen stammen, ausgleichen sollen.

Geistige Lehrer


An dieser Stelle kommen die psychologischen und spirituellen Lehrer aufs Tablet. Sie werden in diese Lücke eingeladen, die in der Kindheit mit der Autorität des Lehrens auf der emotionalen Ebene offen geblieben sind. Wir suchen nach neuen Formen des Lernens, das nicht von Rechthaben und Macht, sondern von der Wertschätzung des individuellen Lernwegs bestimmt sind. Und wir suchen nach neuen Persönlichkeiten, die diese Qualitäten verkörpern.

Aus dieser Perspektive betrachtet, soll ein Lehrer weniger durch seine Kenntnisse und sein Wissen qualifiziert sein als durch seine emotionalen Beziehungsfähigkeiten. Er soll also über Fähigkeiten wie bedingungslose Wertschätzung, Empathie und Authentizität verfügen, Qualitäten, die Carl Rogers als maßgeblich für die Kompetenz eines personzentrierten Therapeuten beschrieben hat. 

Leicht und häufig kann es geschehen, dass eine Lehrerin oder ein Meister zum Fokus der positiven Elternprojektionen wird. Alles, was die Eltern schuldig geblieben sind, soll die neue Lehrerpersönlichkeit abdecken und ausgleichen. Die Schüler wünschen sich einen perfekten Lehrer, weil sie das selber perfekt macht. Ihr Selbstgefühl wird größer, wenn der Lehrer groß ist. So meinen sie, dass alles, was sie geben müssen, die bedingungslose Verehrung des Meisters ist, damit dessen Kraft, Klarheit und Weisheit ungehindert überfließt und sie selbst stärker, klarer und weiser macht. Je reiner und tiefer die Verehrung ist, desto stärker sollte der Rückfluss sein. 

Diese Erwartung ist nicht weiter verwunderlich und einer der Gründe, warum psychologische und spirituelle Lehrer einen regen Zulauf haben. Es ist auch nicht weiter verwerflich, mit solchen Projektionen im Rucksack zu Seminaren, Konferenzen und spirituellen Treffen zu gehen. Niemand ist frei von ihnen, und viele erwarten sich gerade die Befreiung von allen Projektionen, wenn sie sich unter die Fittiche eines Meisters begeben.

Narzisstische Dynamik: Verehrung und Verehrtwerden


Solche Projektionen können nur aufgelöst werden, wenn sich die Lehrerin ihren narzisstischen Tendenzen gestellt hat und die darin verborgenen Wunden geheilt hat. Häufig jedoch klappt an diesem Punkt die Guru-Falle zu. Die Bewunderung, die die Schüler der Lehrerin entgegenbringen, fließt ins Ego zum Zweck der Selbstbestätigung der eigenen Großartigkeit. Die narzisstische Dynamik hat sich entfaltet. Sie verleitet die Schüler zur Verehrung und kritiklosen Bewunderung, die leicht in eine Idealisierung mündet: Schwächen oder Fehler des Lehrers werden übersehen oder umgedeutet – ein Phänomen, das in vielen Schulen, Gruppen und Sekten beobachtet werden kann. Die Illusion des makellosen Meisters muss bestehen bleiben, damit sich das eigene Selbst daran stabilisieren kann. 

Auf der anderen Seite wird die Lehrerin zum Verehrtwerden und zum Baden in der dargebotenen Bewunderung verleitet und zum Übergehen von Lernchancen. Je mehr Bewunderung über sie ausgeschüttet wird, desto weniger wird sie eigene Fehler bemerken. Vielmehr wächst die Neigung, das idealisierte Bild der Verehrer zu bestätigen und zu verstärken. Das unbewusste Zusammenspiel beider Seiten stabilisiert die Dynamik, die nur aufgelöst oder transformiert werden kann, wenn sie erkannt und bearbeitet wird.

Wir alle lernen, aber die Guru-Falle blockiert das Lernen, für den Schüler wie für den Lehrer. Die narzisstische Wunde wird nicht durch Verehrung und bedingungslose Unterordnung geheilt, sondern vertieft. Schüler haben das Recht und können es von sich aus kaum verhindern, dass sie unbewusste und oft sehr mächtige Projektionen auf die Lehrerpersönlichkeit übertragen. Lehrer hingegen haben die Pflicht, so gut wie möglich darauf zu achten, dass sie auf die unbewusste Einladung zum Hochstilisieren der eigenen Grandiosität nicht eingehen. Sie erfüllen ihre Rolle nur, wenn sie die Dynamik durchbrechen und den Schülern dabei zu helfen, sich dieser Tendenzen bewusst zu werden, indem sie deren Innenreflexion und Selbstermächtigung unterstützen. Mit der Stärkung der Selbstakzeptanz lösen sich die Neigungen zu emotionalen Abhängigkeiten auf.  Ein Lehrer, der die Weisheit und Kraft in sich ausreichend gefestigt hat, weiß, dass die Schüler nicht durch die Vorzüge der eigenen Person weiterkommen, sondern durch das in ihnen wirkende Wachstumsmotiv. Er braucht keine Bestätigung durch Verehrung und Bewunderung. Die Hauptquelle der Befriedigung im Lehren liegt im Wohlgefallen am Wachstum der Schüler, und das sollte als Maß für die Neigung zu Bewunderung genügen.

Lehren ist Weitergeben von Empfangenem


Der Lehrer stellt den Rahmen und die eigene Erfahrung zur Verfügung, und innerhalb dieses Raumes entfalten sich die Selbstheilungskräfte und Wachstumsimpulse aus dem Inneren der Schülerin. Alles, was der Lehrer weitergeben kann, hat er von anderer Stelle erhalten. Lehren ist Bekommen und Geben in einem, oder, anders ausgedrückt, ein Weitergeben oder Durchfließenlassen. Keine Lehrerin ist im Besitz der Quelle und damit ihrer Lehrinhalte, vielmehr ist es die Quelle, die alles zur Verfügung steht, damit es möglichst im Geist der Selbstlosigkeit weitergegeben wird. Ihr gilt aller Dank und alle Verehrung. Das gilt sowohl im psychotherapeutischen Prozess als auch im spirituellen Lernen in Meditationsgruppen und Satsangs. Mehr braucht es nicht an Anerkennung für die leitende Person, außer sie hat eine noch nicht aufgelöste narzisstische Tendenz.

Der gesunde Teil in der Dankbarkeit besteht darin, das Geben und die authentische Präsenz der lehrenden Person anzuerkennen. Wer gibt, der soll bekommen, damit das Gleichgewicht hergestellt wird. Spirituell betrachtet: Geben und Nehmen kommen aus dem Ganzen, das über die Personen hinausreicht, doch die Personen danken sich gegenseitig stellvertretend für das Ganze. Jede echte Dankbarkeit, die ohne die Verehrung einer Person auskommt, schwächt den Narzissmus. Es kippt dort ins Ungesunde einer Abhängigkeitsfalle, wo dieses Gleichgewicht einseitig belastet wird und der Unterschied zwischen Lehrer und Schüler unüberwindlich und fixiert erscheint, so als wären die beiden Ebenen des Lehrens und des Lernens durch zwei Klassen von Menschen getrennt. Oben ist der Lehrer in einer anderen Sphäre des Seins, unten das eigene suchende Ich.

Von einer höheren Perspektive aus betrachtet, gilt: Alle Menschen sind gleichermaßen wertvoll und gleichermaßen durchschnittlich. Einer kann dies besser, ein anderer jenes. Einer kann Stabhochspringern, eine andere Integrale ausrechnen oder Beethoven-Sonaten spielen. Einer kann Satsangs geben oder Meditationen leiten, eine andere hat ein tiefes Verständnis für die Probleme anderer. Niemand ist aufgrund seiner persönlichen Fähigkeiten und Leistungen ein besserer Mensch; niemand ist verehrungswürdiger als irgendjemand anderer. Jeder verdient Anerkennung und Wertschätzung für das eigene Wesen, und all das geht ohne narzisstische Verstrickungen.

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