Donnerstag, 10. Mai 2018

Gott und das Ego

Es gibt viele Theorien, warum Menschen auf die Idee gekommen sind, dass es einen Gott (oder mehrere Götter) geben kann und dass es wichtig ist, an die Existenz einer solchen Wesenheit zu glauben. Es fällt ja auf, dass die meisten Kulturen eine Form des personalisierten Jenseits kennen und dass die großen Religionen, die sich daraus entwickelt haben, Milliarden von Menschen als Anhänger haben. Andererseits gab es immer wieder Bestrebungen, den Glauben an Gottheiten in Frage zu stellen, so schon bei den griechischen Philosophen der Antike. Mit der Aufklärung gewann diese Richtung des Skeptizismus immer mehr an Breitenwirkung. Zusammen mit der Ausbildung des materialistischen Bewusstsein, das die Motivationen und Interessen der Menschen zunehmend auf die innerweltlichen Dinge fokussiert, beobachten wir seit Jahrzehnten den kontinuierlichen Schwund an Kirchenmitgliedern und an traditionellen religiösen Einstellungen überall dort, wo die Modernisierung greift. Offenbar benötigen immer weniger Menschen einen Gott, um mit ihrem Leben zurechtzukommen.

Was hat es also auf sich mit dem Glauben an Gott? Ich möchte diese komplexe Frage in Bezug auf einen Aspekt näher beleuchten: Gott als das Gegenüber unseres Egos. Mit dem Ego ist hier die Ansammlung aller Überlebensstrategien gemeint, die Menschen aus ihren Lebenserfahrungen im Unbewussten abgespeichert haben. Weiterführende Gedanken dazu finden sich auf anderen Seiten dieses Blogs. Überlebensstrategien beziehen sich darauf, wie Menschen mit der Unübersichtlichkeit und Unberechenbarkeit des Lebens umgehen. Solche Situationen lösen Ängste aus, und die Religionen bieten dazu verallgemeinerte Bewältigungskontexte an. Sie helfen also, Sinn und Halt zu finden, wenn die Lebensbedingungen riskant und bedrohlich sind.

Daraus können wir ableiten: die Menschen brauchen Gott, wenn sie sich in prekären Situationen befinden. Gott als jenseitige Instanz, die über den Widrigkeiten des Lebens steht, bietet eine bedingungslose und unbegrenzte Unterstützung an und gleicht die Schwäche des menschlichen Egos aus, das sich überfordert fühlt. Zugleich dient diese Instanz zur Eingrenzung der menschlichen Hybris, der Überheblichkeit, die aus einem überaktiven Ego stammt, das sich auf dem Weg der Gier und der Machtausübung aus seinen Ängsten befreien will. 

Wo immer das Ego an eine Grenze seiner Möglichkeiten stößt, reagiert es mit Hilflosigkeit oder selbstschädigender Maßlosigkeit, Haltungen, die im Extrem in existentielle Überlebensängste münden. In solchen Grenzsituationen erkennt das Ego ein Jenseits, etwas, das sich außerhalb der Grenze befindet und grenzenlos erscheint. Es stößt, im Scheitern seiner Strategien, auf ein Gegenüber, das nicht von der eigenen Ausweglosigkeit betroffen ist, und nennt es die unbegrenzte Macht des Göttlichen. Diese Instanz kann jetzt liebevoll Unterstützung bieten und streng Mäßigung einmahnen. Die unbedingte Kraft der Liebe und der Gerechtigkeit, wie sie im Bild Gottes verankert ist, dient zugleich als Stütze und als Mahnung. Die Leidenden werden getröstet, um wieder zu Kraft zu kommen, und die Täter werden zurechtgewiesen, damit sie umkehren. 

Das Ego braucht ein Gegenüber, sonst zerbricht es angesichts der unzähligen Möglichkeiten des Scheiterns und des Leidens einerseits und der Verlockungen zur Unmenschlichkeit auf der anderen Seite. Wenn die Überlebensstrategien versagen, wird die Not so groß, dass der Ruf nach Gott unausweichlich ist: De profundis clamavi ad te, Domine – Aus der Tiefe rufe ich zu dir, Herr (Psalm 130). 

Eine Komponente dieser Reaktion wurde schon von Sigmund Freud analysiert – die Sehnsucht nach einer übermächtigen Vaterfigur angesichts der eigenen Beschränktheit und Fehlerhaftigkeit. Sie dient für eine unbewusste Identifikation, welche dann die schon von Kindheit an erlebte eigene Machtlosigkeit kompensiert. Damit kann sich das Ego beruhigen oder bescheiden, indem es sich in einem größeren Ganzen geborgen, geschützt und geschätzt fühlt. Es hat einen Rahmen, der ihm die Sicherheit vor Bedrohungen, auch denen des Ausuferns garantiert. 

Wechselseitige Abhängigkeit: Ohne Ego kein Gott


Die Konsequenz des Modells, dass Gott das Pendant des menschlichen Egos darstellt, liegt allerdings darin, dass die Existenz Gottes am Ego hängt, wie dieses an der Existenz Gottes. Tritt das Ego zurück, tritt Gott zurück. Konsequenterweise heißt das: Geht das Ego unter, geht Gott unter. In diesem Zusammenhang wird verständlich, warum der Buddhismus, dessen Ziel darin liegt, die Menschen zur Erleuchtung, also in den egolosen Zustand zu führen, ohne Gottesbegriff und Gottesvorstellung auskommt. Gott zeigt sich an dieser Schwelle als Hilfskonstruktion, als Selbstkorrekturinstanz.

Ein tröstender und die Schmerzen beruhigender Gott braucht einen leidenden Menschen. Braucht ein nicht leidender Mensch einen Gott? Offenbar braucht er das Gotteskonzept, das zur Kompensation des leidenden Egos konstruiert ist, nicht mehr. Er ist an die Grenze des Modells gelangt, an der sichtbar wird, dass Modell und Wirklichkeit auseinanderklaffen. Werkzeuge, die keine Verwendung haben, legen wir zur Seite, solange, bis wir sie wieder brauchen. 

Das Ende des Gebrauchsgottes


Ein Gebrauchsgott jedoch widerspricht allem, was von den Menschen als das Göttliche verstanden werden kann. Das Jenseitige ist damit in den Niederungen menschlicher Zwecke und Neigungen gelandet und hat die Aura der Transzendenz unrettbar verloren. Sobald ein ausgeklügelten Wirtschaftssystem die Bedürfnisse der Menschen bis in alle Details unter seine Obhut nimmt, verkümmert das Göttliche zum Lückenbüßer für die Engpässe der Versorgungssysteme der Marktwirtschaft. Die Selbstperfektion, die im kapitalistischen Erfolgsstreben angelegt ist, hungert systematisch die Bedürfnisse nach transzendenten Wesenheiten aus. Der Glaube an Gott erodiert mit dem Fortschritt der materialistischen Bedürfnisbefriedigungsmaschinerie. Wer alles hat, was zum Überleben notwendig ist und dazu noch jede Menge an Geräten, mit denen jeder Langeweile durch einen Knopfdruck Einhalt geboten werden kann, braucht keinen jenseitigen Trostspender. Wo die Qualität des Lebens vom Gehalts- und Bankkonto abhängig ist, ist kein Platz mehr für einen allmächtigen Segensspender. Und wo Versicherungen gegen alle Eventualitäten des Lebens Vorsorge bieten, hat sich der Nothelfer in eine menschengemachte bürokratische Organisation verwandelt.

Klarerweise ist die Frage nach der Wirklichkeit Gottes mit diesen Überlegungen noch nicht beantwortet. Der Prozess der Aufklärung hat in vielfältigen Weisen traditionelle Gotteskonzepte dekonstruiert, und dieser Prozess geht weiter und muss auch weitergehen, weil die menschliche Vernunft alle Bereiche des Bewusstseinsfeld einnehmen und besiedeln muss, die es erreichen und erfassen kann. Noch wissen wir nicht, ob jenseits davon eine Sinninstanz angesiedelt bleibt oder nicht. Gewiss ist wohl, dass wir in Form eines sicheren Wissens niemals eine derartige Gewissheit erlangen werden, und die Anzeichen mehren sich, dass wir eine solche Gewissheit gar nicht brauchen, um ein gutes und erfülltes Leben führen zu können.

7 Kommentare:

  1. Ein "gutes und erfülltes Leben" braucht anscheinend keinen Gott.
    Und doch gibt es Individuen (auch "glückliche"), die aus unerklärlichen Gründen von einer Sehnsucht gepackt werden, unbedingt zu erfahren, wer oder was "Gott" resp. die absolute Wahrheit ist. Dahinter steht wohl - außer dem Leiden - auch die ewige (unbeantwortbare?) Sinnfrage, das Warum des Universums, der Existenz, des Lebens an sich...

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    1. Natürlich gibt es keine definitive, für alle überzeugende Antwort auf diese Fragen. Wenn wir ganz im Moment sind, verbunden mit dem Inneren und Äußeren, brauchen wir keine Fragen. Sie kommen nur aus einer inneren Ungewissheit, die tiefere Wurzeln in erfahrenen traumatischen Verletzungen haben können. Wir wollen mit vorgefertigten Antworten auf diese Fragen Sicherheit, um der Unruhe der Ungewissheit zu entgehen.

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    2. Ungewissheit ist doch etwas beruhigendes. Welch Erleichterung, nicht alles wissen zu MÜSSEN. Dann wird alles zum Spiel, auch die "ernsten" Sinnfragen. Die Antworten KÖNNEN so oder so sein. Es gibt unzählige Möglichkeiten, die sich je nach Moment ergeben. Keine davon ist letztgültig, weil begriffliches Wissen die "innere Gewissheit" von Wahrheit nicht begreifen kann...

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    4. Bin da ganz bei Ihnen. Ich mache nur einen Unterschied zwischen dem Nichtwissenkönnen, über das wir eine Gewissheit gewinnen können, und das kann uns beruhigen. Ungewissheit hingegen kann uns beunruhigen, weil da etwas nicht unserer Kontrolle unterliegt.

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  2. Bin auch bei Ihnen. In meinen Begriffen heisst es dann "Gewissheit über die Ungewissheit". Oder nach Sokrates: "Ich weiß, dass ich nicht weiß." Den Unterschied sehe ich nur im persönlichen Umgang mit der Ungewissheit: Entweder akzeptiere ich Dinge, die ich nicht wissen/beantworten kann (Stichwort Demut), oder es kratzt so sehr an mein Ego, dass ich glaube es müsse unbedingt eine Antwort geben. Letzteres kann sehr mühsam und beunruhigend sein, weil endlose Suche...

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