Mittwoch, 8. November 2017

Das Absolute im Beschränkten

In meinem Blogbeitrag zur absoluten Wahrheit im Moment bin ich von einem Zitat aus einem Artikel von Carsten Rachow ausgegangen. Der Autor hat dann auf meinen Beitrag reagiert und ohne Quellen- und Namensangabe meinen Text kommentiert. Hier folgt dieser Kommentar, der auch im Zusammenhang hier nachgelesen werden kann und hier gelb unterlegt ist, unterbrochen von meinen Anmerkungen. Ich danke Carsten Rachow für seine interessanten Anmerkungen und wünsche allen Lesern und Leserinnen eine gewinnbringende und heitere Lektüre.


„Wenn ich sage, dass Wahrheit niemals ohne Kontext sein kann, und einen Absatz später hinzufüge, dass ein solcher Kontext vor allem das erzeugende Wesen selbst ist, dann darf man diesen Absatz nicht verschweigen, wenn man meinen Beitrag diskutieren möchte. Tut man dies dennoch, dann verändert man meinen Kontext und diskutiert - ohne genau dies zu bemerken - nicht meinen, sondern seinen eigenen Kontext, welcher dann natürlich ein selbsterzeugter Kontext ist."
 

In seinem Blog geht ein Psychotherapeut auf meinen Beitrag "Kommentare: zur Wahrheit" ein und diskutiert unter anderem die Frage, ob das Absolute sich uns nicht doch irgendwie zeigen kann. Ein gut geschriebener Blog in meinen Augen, für mich flüssig zu lesen und sofort verständlich. Doch leider (oder glücklicherweise, je nach Perspektive) macht der Autor unbewusst (d.h.: ohne es zu bemerken) exakt das, was ich mit meinem Beitrag sichtbarer machen wollte: Er selbst erzeugt seine Sicht, seine Wahrheit und, mehr noch, seine eigenen Kontexte, die er dann diskutiert. 
 
Natürlich ist mir klar, dass ich im Rahmen eines eigenen Kontextes argumentiere. Die „absolute“ und unüberprüfte Behauptung („macht der Autor unbewusst (d.h.: ohne es zu bemerken)“) trifft nicht auf mich zu. Meine Sichtweise, meine Ideen und Erkenntnisse – mit dem Hintergrund meiner Erfahrungen –, entstehen aus dem Fluss meines Denkens, im Rahmen der Kontexte meines Weltbildes, meiner Werte, meiner Kultur usw., zunächst gar nicht mit dem Anspruch, damit eine Wahrheit auszusagen oder eine Wahrheit gegen die andere zu stellen, sondern Annahmen darüber in die Diskussion bringen, wie es sein könnte. Der Leser oder die Leserin kann dann entscheiden, was davon für sie oder ihn als Wahrheit plausibel ist oder einleuchtet. D.h. ich habe nicht die Absicht und den Anspruch, Wahrheit zu „produzieren“, sondern sinnvolle Angebote an das Erlebens- und Denkvermögen potenzieller Rezipienten zu formulieren.


Deshalb lohnt es sich vielleicht an dieser Stelle, noch einmal anhand eines konkreten Beispiels nachzuvollziehen, was ich meine, wenn ich die erzeugende Natur unseres Wesens einen Kontext nenne. Wer hier noch keinen geschulten Blick hat, wird wohl erst auf den zweiten oder dritten Blick erkennen können, wo der Hase im Pfeffer liegt (lacht). Beginnen wir mit meinem O-Ton. Dieser lautet:
 
"Wahrheit existiert stets kontextual.
Wahrheit kann deshalb mal dieses und mal jenes sein,
doch niemals kann sie ohne Kontext sein.
Ohne Kontext gäbe es nirgendwo Wahrheit."

 
Und hier der ergänzende Absatz:
 
"Nun ja, ich wage nun zu sagen, dass es viele geistige und materielle Kontexte gibt, die ein Mensch in sich und außerhalb von sich bemerken kann. Doch bemerkt er auch SICH SELBST als einen solchen Kontext?"

Aus meiner Sicht benötigen wir das Instrument der Selbstreflexion, um zu bemerken, dass wir mit jeder Bemerkung einen Kontext mitliefern, der beim Kommunikationspartner in der gleichen Weise nicht vorhanden sein kann. In vielen Situationen vergessen wir auf diese Ebene, woraus sich Widersprüche und Missverständnisse entwickeln können.

In Fettdruck und blau hervorgehoben frage ich klar und deutlich, ob der jeweils Sprechende sich selbst als einen möglichen Kontext erkannt haben könnte. Mit "Kontext" meine ich hier vor allem Begrenzung, Limitierung, Bedingung, wirkender Faktor. Ich will also sagen: "Ohne Bedingung gäbe es nirgendwo Wahrheit", und weiter: "Eine solche Bedingung ist das erzeugende Wesen selbst." Daraus folgt dann: Jede Wahrheit, die ein solches Wesen ausspricht, kann selbst nur eine bedingte, eine limitierte, eine begrenzte Wahrheit sein - niemals aber eine absolute Wahrheit. So weit, so klar ...

So weit, so klar. Die Frage stellt sich an diesem Punkt: Genügt es, die naiven Annahmen, aus sich heraus objektive oder gar absolute Wahrheiten zu produzieren, zu dekonstruieren, um die Möglichkeit von absoluten Wahrheiten prinzipiell auszuschließen oder ist damit die Sphäre des Absoluten noch nicht erledigt? Das erstere ist dem Anspruch der Aufklärung geschuldet: Es gibt keine Instanz auf dieser Erde, die von einem archimedischen Wahrheitspunkt aus absolute Wahrheiten verkünden könnte. Überall dort, wo solches versucht wird, verstecken sich partikulare Interessen hinter der Wahrheitsverkündung und machen diese zu Ideologien.

Ist damit aber vielleicht das Kind mit dem Bad ausgeschüttet? Wollen wir das Transrationale verbieten oder aus dem Diskurs ausschließen, weil es dem Prärationalen zum Verwechseln ähnlich schaut, und weil das Rationale die einzige Richtschnur der Orientierung darstellen soll? Begehen wir also mit dem theoretischen Verbot von absoluter Wahrheit einen Prä-Trans-Fehlschluss nach dem Modell von Ken Wilber?

Mir geht es darum, unter Aufrechterhaltung der rationalen Normen, die im Gefolge der Aufklärung und aller daraus abgeleiteten konstruktivistischen Denkmodelle zum Standard des modernen Vernunftgebrauchs geworden sind, die Möglichkeiten zu prüfen, mit denen der Unterschied von relativen und absoluten Wahrheiten einen Sinn macht und Menschen in ihrer inneren Entwicklung weiterhilft und vielleicht auch für die Menschheit insgesamt neue wichtige Perspektiven öffnet. Es geht, mit anderen Worten, darum, ob der Erkenntnisweise der spirituellen Vernunft und damit der Anspruch auf absolute Wahrheiten eine überindividuelle Verbindlichkeit und Gültigkeit erlangen kann.

Der Blogautor ergänzt nun meine Bemerkungen über bedingende Kontexte und zeigt unter anderem sehr schön formuliert auf, dass bereits die jeweils benutzte Sprache eine solche limitierende Bedingung darstellt, mithin einen Kontext. Ja, selbst die "Struktur der Kommunikation", der alle Menschen nicht entgehen können, wenn sie miteinander reden, erweist sich für ihn als ein solcher Kontext. Deshalb sagt der Autor mit meiner vollen Zustimmung: "Allein aus der einfachen Struktur von Kommunikation, nach der jede Mitteilung vom Sender codiert und vom Empfänger decodiert werden muss, geht hervor, dass es im Rahmen der Kommunikation keine kontextunabhängige, also keine absolute Wahrheit geben kann."  Doch dann fügt er ein kleines "Fenster" für das mögliche Erscheinen des Absoluten hinzu und sagt: "Allerdings wird durch diese Struktur die Möglichkeit einer absoluten Wahrheit nicht prinzipiell ausgeschlossen. Die Struktur der Kommunikation verhindert allerdings, dass absolute Wahrheiten im kommunikativen Raum als solche auftreten können."

Was den meisten Lesern hier wohl nicht auffallen wird (und vermutlich dem Autor auch unbewusst geblieben ist), ist nun Folgendes: Ich weise auf das erzeugende und sprechende WESEN hin und nenne es "bedingt", nenne es einen Kontext. Der Autor aber diskutiert die Frage, dass die "Struktur der Kommunikation" einen bedingenden Kontext darstellt - zwei völlig verschiedene Baustellen, nicht wahr? Die Struktur der Kommunikation ist in meinen Augen gar nicht das Problem - das Problem ist die "Struktur des sprechenden Wesens" (!). Es mag ja sein, wie der Autor meint, dass durch diese Kommunikationsstruktur die "Möglichkeit einer absoluten Wahrheit nicht ausgeschlossen wird" - doch durch die Wesensstruktur, so meine Argumentation, WIRD DAS ABSOLUTE AUSGESCHLOSSEN. Der Autor diskutiert nicht meine Kontexte, sondern seine eigenen. Diese habe nicht ich erzeugt, sondern er selbst. Die Bedingung für "Wahrheit" ist das erzeugende Wesen selbst - quod erat demonstrandum. 

Weil er also hier Kommunikation diskutiert, nicht aber das Wesen selbst, kann er nun den folgenden Satz notieren: "Insofern ist die Aussage, dass jede Wahrheit einen Kontext hat, trivial: Jedes Medium sperrt jede Äußerung in einen kontextuellen Kasten, und ohne vermittelndes Medium existiert keine Wahrheit." - Mir gefallen diese Sätze, doch haben sie mit meinem Beitrag herzlich wenig zu tun. Der Autor diskutiert sich selbst ...



Ich diskutiere das Thema „Aussage und Kontext im Zusammenhang mit Kommunikation“, aber nicht mich selbst. Nicht alles, was sich in meinem Text nicht auf den Artikel von Carsten Rachow bezieht, ist eo ipso selbstbezüglich. Es war auch gar nicht meine Absicht, alle Aspekte des Rachow’schen Artikels zu diskutieren, sondern das an den Anfang des entsprechenden Blogbeitrages gestellte Zitat als Ausgangspunkt für eigene Überlegungen zu nehmen.


Abgesehen davon, dass solche Erkenntnisse vielleicht nicht für jeden Menschen "trivial", sondern auch hilfreich sein können (der Autor hätte besser in erzeugender Ich-Sprache gesagt: "Für mich sind solche Aussagen trivial."), bemerkt der Autor auch hier nicht, wie er zunehmend seinen eigenen Kontext diskutiert und nicht meine Sichtweise. 


Auch hier zeigt sich die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis. Natürlich sollten wir, so meine Meinung, bei jedem Satz dazuschreiben und sagen, dass das unsere Ansicht ist, aber in der Praxis ersparen wir uns oft, so denke ich, diesen Zusatz, weil dann, wie es mir erscheint, der Text unleserlich und die Rede umständlich wird.

Der Autor zeigt, dass "jedes Medium jede Äußerung in einen kontextuellen Kasten sperrt" - doch ich wollte zeigen, dass jedes Medium bereits ein solcher "Kasten" ist. Ein himmelweiter Unterschied (und daher vielleicht auch nicht ganz so "trivial" ...)

Das Medium als solches wird zum Kasten, sobald es für den Austausch von Nachrichten genutzt wird und sorgt dafür, dass Aussagen übersetzt werden müssen und dass deshalb keine „objektiven“ Bedeutungen in der Kommunikation auftauchen können. Das Triviale zeigt sich, sobald dieser Zusammenhang bewusst wird. Wenn wir beginnen, die Komplexität von Kommunikation zu verstehen, wird die Grundeinsicht, dass die Bedeutung von Aussagen im Subjekt liegt, bald trivial. Im Alltag vergessen wir leicht darauf, und dann ist es wichtig und nicht trivial, uns und andere daran zu erinnern.

Statt also meine Sicht zu diskutieren, hat der Autor still und leise begonnen, seine eigenen Konstruktionen zu erörtern. Das Medium, so meine Ausführungen, muss Wahrheit gar nicht mehr in irgendeinen kommunikativen Kasten sperren und dadurch zwangsläufig verengen - es ist selbst bereits der verengte Kasten, das limitierende Gefäß, der bedingende Kontext. Weil auf dieser Ebene der Betrachtung des agierenden Wesens bereits die wirkende Ursache zu finden ist, braucht sie nicht mehr auf der Kommunikationsebene angesiedelt werden. Wahrheit wird, wie ich glaube, nicht durch Kommunikation verändert - Wahrheit wird bereits durch das agierende Wesen verändert. 



Wenn das „agierende Wesen“ Wahrheit verändern kann, muss es diese Wahrheit vor dem Agieren des Wesens geben. Da stellt sich die Frage, wo sich die Wahrheit vor dem erkennenden und kontextualisierenden Subjekt befindet.

Ich sehe es so, dass die Wahrheit im Subjekt entsteht, sobald eine innere oder äußere Wahr-Nehmung bewusst wird. Wenn wir in der Früh aufstehen und die Sonne sehen, nehmen wir die Existenz der Sonne und das aktuelle Wetter als Wahrheit. Wenn jemand käme und sagte, da gibt es keine Sonne, würden wir dennoch nicht an der Wahrheit zweifeln. Es macht in diesem Fall nicht viel Sinn, darüber zu reflektieren, ob diese Wahrheit im eigenen Inneren erzeugt wird. Es geht um die äußere Existenz der Sonne, und diese hängt nicht von den Bedingungen der Wahrheitsproduktion ab, und es geht nicht um das Zustandekommen der Wahrheit. Doch auch wenn ich mich um diese Frage kümmere, nehme ich die von mir unabhängige Existenz der Sonne als Voraussetzung. 


Ich verstehe die Wahrheit nicht als einen Kontext für Erfahrungen, da gibt es sowieso unzählige davon schon in der einfachsten Wahrnehmung, sondern meine, dass man Wahrheit als spezifischen Wert ansehen
kann, den wir einer Aussage anheften: Das, was ich sage (schreibe, denke …), bezieht sich auf ein Gegebenes in der Wirklichkeit (Philosophen würden sagen: Seiendes oder „Was der Fall ist“).

Zum Beispiel: Der Wiener Stephansdom hat eine Höhe von 136 Metern. Wir können den Wahrheitswert dieser Aussage in der Wirklichkeit nachprüfen und dann feststellen, ob er zutrifft oder ob die aussagende Person die Unwahrheit gesprochen hat. Von Wahrheit sprechen wir in diesem Fall, wenn die Aussage mit der Wirklichkeit übereinstimmt (korrespondiert). Wenn nicht, kann es sein, dass die Person gelogen hat (sie hat absichtlich eine Unwahrheit verbreitet) oder dass sie sich geirrt hat. In jedem Fall heißt es, dass die aussagende Person zwar einen Wahrheitsanspruch formulieren kann (Der Südturm des Stephansdoms hat die Höhe von 136 Metern, und das ist die Wahrheit), aber die „Wahrheit“ der Wahrheit entsteht erst in der Prüfung, also in einem sozialen Kontext, wo Menschen die Aussage einfach glauben, mit anderen Aussagen vergleichen, andere Quellen konsultieren oder mit einem Maßband auf den Turm klettern. Anders gesagt, der Wahrheitsanspruch, den wir oft erheben, wenn wir etwas mitteilen oder etwas in uns selber denken, muss sich bewähren, bis daraus eine allgemein konsensuell akzeptierte Wahrheit wird.

Es ist das limitierte Wesen selbst - also ich, du, wir alle -, welches Wahrheit zu einem relativen Phänomen werden lässt, und zwar in jedem Moment seines Seins ALS RELATIVES WESEN - also praktisch immer. Es spielt keine Rolle, was das Wesen tut, wie es spricht, ob es meditiert, selbstbewusst oder unbewusst für sich agiert - immer und stets kann es seine eigene fundamentale Begrenztheit nicht überwinden.

Alles, was ist, ist auch begrenzt, und das Absolute gilt als die Zusammenfassung alles Begrenzten. Die Frage, die sich zur Möglichkeit von absoluter Wahrheit stellt, lautet, ob wir einen Zugang zu diesem Ganzen haben oder nicht. Da scheiden sich tatsächlich die Geister.

Wir können allerdings – zumindest nach dem Zeugnis vieler Wahrheitssucher und Mystiker – unsere innere Wahrnehmung erweitern und in einen Zustand kommen, in dem uns absolute Wahrheiten erscheinen, die sich gerade darin bemerkbar machen, dass sie eine beschränkte Sicht erweitern und das Ganze, das wir das Absolute nennen können, erfahrbar machen. Oder, um es anders auszudrücken, ist es eine absolute Wahrheit, die uns aus dem beschränkenden Kontext der konditionierten Wahrheitszuschreibungen herausholt und uns einen neuen Blick auf die Wirklichkeit und unser eigenes Leben erlaubt.

Es braucht meiner Ansicht nach gar keines denktheoretischen Beweises, ob solches möglich ist. Es genügt zunächst einmal die innere Erfahrung, die aus den Beschreibungen vieler Autoren im Bereich der Mystik und Spiritualität zugänglich ist und vermutlich auch dazu geführt hat, warum der buddhistische Lehrer und Autor Shantideva schon vor 1400 Jahren die Unterscheidung von relativen und absoluten Wahrheiten diskutiert hat. Heutzutage gilt die Diskussion der Frage, ob die innere Erfahrung (die Erste-Person-Perspektive) erkenntnistheoretische Relevanz hat, ob wir also gültiges und brauchbares Wissen über die Innenerfahrung finden können. Für die Arbeit von Psychotherapeuten ist die innere Erfahrung des Klienten eine ganz wichtige Quelle von Erkenntnissen. Zum Beispiel gäbe es die umfangreiche Traumdeutung von Sigmund Freud ohne das Ernstnehmen von Innenerfahrung als Erkenntnisquelle nicht.

Das Aufblitzen oder Erkennen absoluter Wahrheiten könnte also nur dann denktheoretisch möglich sein, wenn die Natur des Wesens selbst (seine Wesensstruktur) genau dies ermöglichen könnte. Dies halte ich für ausgeschlossen. Sollte - wie auch immer gedacht - das Absolute wirklich einmal die Absicht haben, sich selbst DURCH ein bedingtes Wesen zu zeigen oder zu äußern, so müsste es sich dafür gewaltig "verengen" - oder eben nur gewisse verdauliche Teile von sich präsentieren, andernfalls würde das viel zu kleine Gefäß namens "Wesen" oder "ICH-Bewusstheit" explodieren angesichts der Fülle und unfassbaren Größe des Absoluten.

D.h. Carsten Rachow geht davon aus, dass es eine absolute Wahrheit gibt, die aber dem Menschen nicht zugänglich ist. Woher allerdings sollen wir dann von ihr wissen? Wie können wir ihre Dimensionen ermessen, wenn wir keine Innenerfahrungen haben können, die uns mit einer absoluten Wahrheit in Kontakt bringen?

Doch dieser Hinweis sei nur am Rande erwähnt. Viel wichtiger ist mir, auf die Bedeutung von "Wahrheit" aufmerksam zu machen, wenn das Wesen selbst als ein limitierender Kontext erkannt wurde. Denn das Wesen, so meine immer wiederholte Hauptbotschaft, ist ein ERZEUGENDES Wesen (!) - und diese Fähigkeit könnte nun aus "Wahrheit" etwas ganz anderes machen als das, was wir üblicherweise darunter verstehen: richtige Abbildung, korrekte Repräsentation, objektives Erkennen usw. "Erzeugung" könnte der erste spirituelle Hinweis darauf sein, dass wir nicht Wahrheiten "erkennen" oder "entdecken" oder "wahrnehmen", sondern aktivisch formen, konstruieren, aus UNS SELBST herausholen und DANN in kommunikative Symbole gießen, in Sprache, Gedanken, Sichtweisen. Deshalb lehre ich: "Wahrheit ist der Selbstausdruck des erzeugenden Wesens." Und dieser kann niemals "falsch" sein ...

Ich finde, dass „der Selbstausdruck des erzeugenden Wesens“ besser mit Authentizität als mit Wahrheit in Verbindung gebracht werden sollte. Unser Selbstausdruck umfasst so viele Dimensionen, vom Körperlichen (z.B. Schwitzen) zum Hochgeistigen (z.B. in aller Bescheidenheit, Diskurse wie diese hier). Nicht jede dieser vielfältigen Möglichkeiten benötigt einen Wahrheitswert. Wie sollen wir unwahr vor Kälte zittern?

Es ist das bedingte und erzeugende Wesen, welches sich zeigt, wenn es selbst glaubt, repräsentative Wahrheiten auszusprechen, also etwa so, wie der Autor SICH zeigte, als er begann, SEINE Kontexte zu diskutieren und damit SEINE Wahrheiten sichtbarer machte. Dies ist im Übrigen ein spiritueller Vorgang, den ich in keiner Weise kritisiere oder für wenig wertvoll erachte. Im Gegenteil: Die Offenlegung unseres erzeugenden Wesens halte ich für dringend geboten(!) - das Verschweigen der eigenen erzeugenden Natur ist das, was ich kritisiere.

Was tut ein Mensch, der sagt, er sähe dort hinten einen Baum? Vorausgesetzt, dass dort hinten tatsächlich ein Baum steht, sagt er dann etwas Korrektes? Bildet er in erkennender Weise Wirklichkeit ab? Ist seine Aussage objektiv wahr? - Die meisten von uns würden hier spontan nicken und zustimmen. Wenn ich selbst dann den Baum auch noch sehen kann, sind wir uns sicher, hier eine objektive Wahrheit erkannt zu haben.  Doch ich behaupte nun, dass diese Wahrheit "der Selbstausdruck des erzeugenden Wesens ist". Wie kann das sein? - Nun, tatsächlich sieht der Mensch nicht nur einen Baum, wie er meint, sondern ein großes Bild: links vom Baum steht ein Busch, dahinter ein Auto, oben drüber ruht der Himmel usw. Zu sagen: "Ich sehe dort einen Baum", ist vollkommen zutreffend - doch diese Beschreibung ist nichts anderes als der sprachliche Ausdruck der eigenen Brennweiteneinstellung, der eigenen Aufmerksamkeit, der eigenen Ausrichtung. Dieser Ausdruck ist nicht "objektiv", er ist ein subjektives Konstrukt, eine partielle Fokussierung auf einen frei gewählten Ausschnitt. Mit anderen Worten: Das, was das erzeugende Wesen blitzschnell und aktiv schon getan hat ("Aufmerksamkeitsfokus"), ist schon geschehen, bevor dieser Mensch zu sprechen begann. Und das, was innerlich bereits geschah, DAS sprechen wir dann aus, nennen es "Wahrheit" und glauben dann, diese Wahrheit wäre unabhängig vom eigenen Wesen eine "objektive" oder "wahre" Repräsentation von Wirklichkeit. Tatsächlich jedoch ist diese Wahrheit ein subjektives Erzeugnis, eine Aus-Formung der Innerlichkeit desjenigen geistigen Wesens, welches hier agiert.

Wahrnehmungen kommen zustande, indem äußere Reize innerlich verarbeitet werden. Das bedeutet, dass jede Wahrnehmung eine Koproduktion von Objektivem und Subjektivem ist, und je besser dieses Zusammenwirken gelingt, desto besser können wir uns in der Wirklichkeit orientieren. Es kann keine allgemeine, für alle gleichermaßen gültige „wahre Repräsentation von Wirklichkeit“ geben, weil bei der Erkenntnisgewinnung immer subjektive Einflüsse mitspielen. Die „Wahrheit“, von der oben die Rede ist, ist demnach allerdings weder rein objektiv (wie wir naiverweise oder lebenspraktisch vereinfacht oft annehmen) noch rein subjektiv (sonst hätten wir kein Unterscheidungskriterium zwischen Halluzinationen, Träumen, Fantasien und inneren und äußeren Wahrnehmungen).

Ich denke, dass wir, wenn wir im Alltag Sinneseindrücke verarbeiten (in jeder Zeiteinheit sind das ungeheure Datenmengen), uns zunächst weniger mit der Frage beschäftigen, ob das Wahrgenommene wahr ist, als vielmehr damit, ob das Wahrgenommene wirklich ist, wenn wir Grund für einen Zweifel haben (z.B. wenn unser Sehsinn getrübt ist). Abgesehen davon gehen wir einfach selbstverständlich davon aus, dass Wahrgenommenes wirklich ist. Die Wahrheitsfrage stellt sich erst, wenn irgendetwas die Wirklichkeit im praktischen oder im sozialen Zusammenhang in Frage stellt, wenn wir z.B. die Tragfähigkeit eines Astes überschätzen, der uns beim Bäumeklettern Halt geben soll oder wenn wir darüber streiten, ob wir den Termin für den Besuch bei der Tante schon fix oder erst provisorisch ausgemacht haben.

Psychotherapeutisch hätte diese Erkenntnis große Folgen: Was immer ein Patient auch sagt, kann niemals "falsch" sein, kann niemals verzerrte Realität sein, kann niemals "krank" sein - sondern informiert uns Außenstehende regelmäßig über seine inneren Akte von Erzeugung und Konstruktion. Der Therapeut sollte daher den Patienten ermutigen, alternative Bilder zu konstruieren und deren Wirkungen AUF SICH SELBST einmal zu überprüfen. Der Patient wird, wie wir alle, stets SEINEN EIGENEN Bildern folgen wollen, selten aber nur den von außen angebotenen Wahrheiten über die Wirklichkeit.

Das ist das tägliche Brot in der psychotherapeutischen Arbeit, die inneren Wirklichkeiten von Klienten zu verstehen, ohne sie in irgendeiner Weise zu bewerten. Einem Paranoiker zu sagen, dass es die Gestalten, die ihn verfolgen, nicht gibt, hat keinen Sinn – er würde uns selbst für Komplizen der Verfolger halten, Wir müssen gemeinsam einen Weg finden, wie er innere und äußere Wirklichkeiten so unterscheiden kann, damit er ein leichteres Leben führen kann. 

Wenn, wie ich hier sage, Wahrheit Selbstausdruck ist, dann hat Einstein die große Relativität NICHT "außerhalb" von sich entdeckt - er hat sie zunächst IN SICH gefunden und sie DANN im Außen überprüft (weshalb zukünftige Generationen auch andere "Gesetze" da draußen finden werden, was ja schon begonnen hat, weil sie innerlich fündig geworden sind). Wir erkennen nicht die äußere Welt - wir erschaffen sie, wir formen sie, und wir bemerken genau dies so selten. Wir erkennen im Außen, was wir ZUVOR innerlich konstruierten. Wir SIND DIE BEDINGUNG, sind der erzeugende Kontext ...

Ich bin vorsichtiger, was die Produktion der Außenwelt anbetrifft. Woran wir mitwirken, ist ihre innere Repräsentation, also die Weise, wie uns die Welt erscheint. Die Annahme, dass sie im Außen unabhängig von uns existent ist, bewahrt uns vor dem Dilemma eines Paranoikers.

Selbst der Raum um uns herum ist nicht das, wonach er aussieht (lacht). Ich will hier noch einen weiteren Hinweis aussprechen über eine Erfahrung, die ich selbst in einer außerkörperlichen Bewusstheit hatte: Der Raum, den wir alle sehen, ist NIEMALS identisch für zwei Personen, sondern stets ein individueller Raum-im-Raum, erschaffen und konstruiert und "lebendig" gehalten durch das Wesen selbst. Siehst du den Raum, siehst du nicht "den Raum", sondern deinen Raum, deine eigene Schöpfung. Gleiches gilt für die Zeit. Wir haben alle ein sehr ähnliches Raumempfinden, können uns mühelos über "den Raum" verständigen - doch dies ist bloß eine gewollte Schnittmenge, damit wir hier ähnlichen Bedingungen ausgesetzt sind und interagieren können. Die Raumkonstruktion wird lebendig gehalten von Myriaden kooperierender Bewusstseinseinheiten, mit uns mittendrin, ein wahrhaft göttliches Gemeinschaftswerk, wo energetische Prozesse die Illusion eines gemeinsamen Raumes schaffen und jedes Bewusstsein tatsächlich stets nur seinen subjektiven Raum wahrnimmt (und seine Eigenzeit) - und beide, Raum und Zeit, werden unbewusst von Moment zu Moment erzeugt und erschaffen. Wer aus dem Körper austritt, tritt auch sofort aus diesem Konstrukt heraus ...

… und in das nächste Konstrukt hinein.

Nun bin ich ein wenig vom Thema abgekommen. Zeigen wollte ich, wie schnell und von uns unbemerkt (daher: unbewusst) wir alle als erzeugende Wesen arbeiten, so schnell, dass wir oft nicht bemerken, welche Sicht wir gerade diskutieren und wie leicht wir die eigenen Erzeugnisse hineinschmuggeln in die erzeugte Welt eines anderen Menschen. Mir geht das auch so, und ich bemühe mich, dies immer seltener zu tun ... 


Wir sind großartige Wesen, schöpferisch und kreativ und kooperierend in einer erzeugenden Weise, die unter den irdischen Bedingungen zu ganz speziellen Selbsterfahrungen führen, die nur hier und nirgendwo anders gemacht werden können. Bedenke: Im Himmel gibt es keine Currywurst ... (lacht) 



Gott sei Dank, es steht zu hoffen, dass Er auch Vegetarier ist…


Zum Weiterlesen:
Die zwei Wahrheiten 
Die zwei Wahrheiten und die Konfliktkultur
Die zwei Wahrheiten und die Religionen
Die zwei Wahrheiten und der Alltag 
Die zwei Wahrheiten und das Ego 
Die zwei Wahrheiten und die Sprache
Die absolute Wahrheit existiert nur im Moment
Relatives als Absolutes verkleidet 

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