In zwei vorigen Blogartikeln (s.u.) habe ich Ideen von Carsten Rachow zum Verhältnis von absoluten und relativen Wahrheiten zum Anlass für weiteführende Gedanken genommen. In diesem Beitrag möchte ich auf eine zentrale These seiner Ausführungen eingehen: Das erzeugende Ich.
Kernpunkt der Rachow’schen Theorie (die natürlich zugleich eine Anleitung zum Tun ist) ist die Schlüsselrolle der reflexiven Erkenntnis, dass ich die Wirklichkeit meines inneren Erlebens „produziere“ – sie diene als Schlüssel für die Erkenntnis des Absoluten. Ich muss also die Illusion der von mir unabhängigen Wirklichkeit, die sich im Wahrnehmungsakt in mir abbildet und dort als objektiv gültige Version dieser Wirklichkeit erschient, über Bord werfen, dann komme ich zur Einsicht in die allgemeine Relativität, und diese Einsicht ermöglicht mir den Zugang zum Absoluten: „mit der Bewusstheit über unsere erzeugenden Akte kommen wir diesem Absoluten vielleicht ein wenig näher - weil wir uns selbst damit näher kommen.“
Reflexion ist verwandt mit dem Über- oder Nachdenken. Die Sprache nutzt hier räumliche und zeitliche Attribute, um einen Kategorienwechsel zu veranschaulichen. Wir denken nicht nur etwas, sondern beziehen uns denkend auf etwas, das in unserem Denken geschieht. Wir begeben uns auf eine höhere Abstraktionsstufe als ein reiner Wahrnehmungsvorgang und beziehen uns selbst als Urheber der Wahrnehmung mit ein. Wir erzeugen „oberhalb“ oder „nach“ der Wirklichkeit 1. Stufe eine Wirklichkeit 2. Stufe. Statt: „Das Faktum X existiert“, erkennen wir, dass wir es sind, die die Existenz von X feststellen: „Ich erkenne, dass X existiert.“ Damit anerkennen wir, dass wir bei jedem Wahrnehmungsvorgang mitwirken und Produzenten (so Rachow) oder Mitproduzenten (so ich) jeder Wahrnehmungs-Wahrheit sind.
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Rachow thematisiert, bezogen auf das Modell der Bewusstseinsevolution, das ich immer wieder verwende, mit der Betonung der erzeugenden Funktion des Ich (wie ich meine: eine Ebenen-erzeugenden Funktion) einen Weg vom systemischen zum holistischen Bewusstsein. Die Einsicht in die Relativität, und das heißt auch Subjektivität aller Wahrnehmungen, Ideen und Konzepte verhindert, dass wir irgend einen Standpunkt verabsolutieren. Eine Verabsolutierung geschieht, wenn wir annehmen, dass das, was wir wahrnehmen und denken, objektiv wahr ist, ohne dass unser Zutun, unsere Gestaltung und Mitwirkung eine Rolle spielen würde. Wir sind mit unseren Gedanken zu Objekten, zu Gegenständen, identifiziert und tun so, als hätten diese mentalen Inhalte für sich Bestand. Daraus folgt die Annahme, dass alle anderen die Wirklichkeit, die aus lauter solchen feststehenden Dingen besteht, genauso wie wir für wahr halten müssen. Wir haben uns eine Welt von Verdinglichungen errichtet, die so starr ist wie wir selber, wenn uns eine Angst lähmt. Manchmal tun wir uns sogar schwer, einen offensichtlichen Irrtum einzugestehen, noch mehr sträuben wir uns dagegen, Schlussfolgerungen und Theorien, die wir einmal gefasst haben, zu revidieren. Daraus können wir schließen, dass die Welt der fixierten Objekte in der Außenwelt und in uns selber aus Projektionen unserer Angsterfahrungen fabriziert ist.
Die oft erbittert und manchmal sogar gewaltsam geführten Streitigkeiten über „die Wahrheit“ beziehen ihre Verbissenheit aus der Fixierung auf diese Ängste, die im Hintergrund diktieren, dass jede Abweichung von der „Reinheit der Wahrheit“ katastrophale Folgen haben könnte. Wenn nicht alles genau so, wie ich es sehe und denke, abgesichert ist und festgehalten wird, wenn also all das keine unverrückbare Wahrheit darstellt, kann es bedrohlich werden. Ich muss dauernd dafür kämpfen, dass meine Wahrheit nicht in Frage gestellt wird, weil meine innere Sicherheit auf der absoluten Gültigkeit meiner Weltsicht beruht. Wenn ich zu stark mit dieser Wahrheit identifiziert bin, muss ich sogar annehmen, dass ich selber in Frage gestellt werde, wenn jemand anderer meine Sichtweise nicht teilt. Mit meiner „Wahrheit“ verteidige ich meine Existenz.
Vollziehe ich hingegen den inneren Lernschritt des Nachdenkens, der zugleich ein Wachstumsschritt im Sinn der Verbesserung einer metakognitiven Kompetenz ist, muss ich mich auch mit den Ängsten konfrontieren, die aus dem Verlust der Sicherheit, die durch die Absolutsetzung garantiert werden soll, stammen. Doch nicht umsonst heißt es, die Wahrheit macht frei: Sobald ich die Angst überwunden habe und bereit bin, die Relativität meiner Weltsicht anzuerkennen, bin ich frei vom Zwang des Rechthaben-Müssens, der nicht nur andere unter Druck setzt, sondern auch mich selber: Ich darf ja auch nicht dazulernen, meine Sichtweise revidieren oder differenzieren, solange ich glaube, ich muss mein Rechthaben um jeden Preis behaupten.
Das ist das Erbe der Aufklärung, die sich gegen alle Formen der vorgeschriebenen und autoritativ versiegelten Wahrheiten wandte. Dieses Projekt ist noch lange nicht abgeschlossen und stellt auch eine Eingangspforte für die Diskussion um absolute Wahrheiten dar. Jede Form der Aufklärung hat sich eines besonderen Mutes zu befleißigen. Die Überwindung der komfortablen und durch langfristige Einprägungen festgezurrten Gewohnheiten erfordert die Bereitschaft, Altes hinter sich zu lassen und Neues zuzulassen. Diejenigen Teile der eigenen Identität, die mit einer bestimmten Wahrheit verbündet waren, müssen aufgegeben oder umgestaltet werden.
Schließlich geht es darum, nicht mehr und nicht weniger als Schritt für Schritt jede fixierte Ich-Identität preiszugeben. Dazu ist es erforderlich, alle Ängste zu konfrontieren, die sich in den Weg stellen. Der Weg, sich immer wieder zu vergewissern, dass es dieses Ich ist, das sich die Wirklichkeit nach den eigenen Prägungen herrichtet und dass all unsere Ideen und Konzepte, alles, was wir für richtig und falsch halten, alle unsere Wertungen aus diesem Ich stammen. Erst wenn das Feste flüssig wird, wenn also die Relativität in allen Erscheinungen durchsichtig wird, reichen wir an das Absolute an, sind wir bereit, sein Wirken zuzulassen, sodass es uns ansprechen kann, oder, wie Rachow schreibt: „Aspekte des Absoluten blitzen auf, in jedem Moment, in mir, in dir, einfach überall.“
Missverständlich erscheint mir der Rachow’sche Terminus der „Erzeugung“ oder „Produktion“ der Wirklichkeitswahrnehmung, die vom „Ich“ vollzogen wird. Wir erzeugen zwar Dinge (Tische und Raumschiffe usw.), aber keine Wahrnehmungen bzw. deren innere Repräsentationen (das, was wir von der Wahrnehmung in uns selber wahrnehmen). Wahrnehmung erscheint mir besser verständlich als Zusammenwirken von äußeren Sinneseindrücken und inneren Verarbeitungsprozessen. Wir produzieren nicht die äußere Wirklichkeit in unserem Kopf, sondern brauchen diese für die Weiterverarbeitung zur inneren Wirklichkeit.
Allerdings bietet Rachow einen komplexeren spirituellen Ansatz zu dieser Thematik. Gewissermaßen von der Hinterseite her erweise sich das Absolute als der eigentliche und allumfassende Akteur und Produzent, und das, was das Ich als Erzeugungen zuwege bringt, schuldet es diesem Absoluten: „Nicht unsere relativen Wahrheiten künden vom Absoluten, sondern die simple Tatsache, dass wir solche Wahrheiten oder Erzeugnisse erzeugen können. Es ist, so meine ich, die erzeugende Quelle, das erzeugende Wesen, das schöpferische ICH, welches SELBST der Hinweis ist, nach dem so viele suchen, auch ich. Im ‚ICH bin erzeugend‘ zeigt sich eine Facette des Absoluten.“ Oder einfach: „Weil das Absolute erzeugend ist, kann auch ich erzeugen.“
Nun, in aller Konsequenz weitergesponnen, heißt es, dass alles, was ist, wirkt, sich entwickelt und austauscht, schafft und erzeugt, verschwindet und endet, das Absolute in seinen vielfältigen Formen ist. Das Erzeugen, das Rachow ins Zentrum seiner Überlegungen stellt und das ich mit Reflexion in Verbindung bringe, ist nur einer von vielen Prozessen dieser Wirklichkeit, die zugleich das Absolute darstellt, das uns jedoch in den allermeisten Situationen nur als Relatives begegnet. Der Reflexionsvorgang, der bei jeder Selbsterkenntnis abläuft, ist unterschieden von anderen Abläufen in der Wirklichkeit, weil er eine Metaebene erschafft, von der aus Relatives als Relatives identifiziert werden kann, womit die Frage nach dem Absoluten „hinter“ dem Relativen auftaucht. Jede Frage trägt die Antwort in sich – insoferne rühren wir mit der selbsterkennenden Reflexion an die Grenzen des Absoluten.
Ob wir damit der inneren Wirkmacht des Absoluten auf die Spur gekommen sind, kann wohl nur jede forschende Person für sich selber entscheiden; in diesem Feld gibt es keine objektive Instanz, die über richtig und falsch entscheiden könnte. Für ein praktikables Verständnis des Relativen hingegen erscheint es mir wichtig, den Produktionsbegriff im Zusammenhang mit der Wahrnehmung zu einem Ko-Produktions- oder Konstruktionsbegriff zu erweitern.
Die Zitate stammen aus dem Blogartikel: Über das Absolute im Relativen
Zum Weiterlesen:
Absolute Wahrheiten existieren im Moment
Das Absolute im Beschränkten
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