Montag, 26. September 2016

Atemerfahrungen und Kunst

Ein Kunstwerk zu erschaffen bedeutet, etwas Individuelles gestalten, etwas Neues, das es zuvor noch nicht gegeben hat, etwas, das die Welt in besonderer, in dieser Weise noch nicht dagewesener Art bereichert. Kunst bricht mit Gewohnheiten, überrascht und konfrontiert. Ein Kunstwerk besticht nicht dadurch, den Hör- oder Sehgewohnheiten, die wir schon mitbringen, zu entsprechen und vorgefertigte Erwartungen zu bestätigen, sondern uns aus unseren Wahr-nehmungs- und Denkschablonen heraus zu reißen. Es wirkt nicht dadurch, dass ein bestehendes Bild bestätigt wird, sondern darin, dass neue Horizonte geöffnet werden.

Kunst ist diskontinuierlich, sie ist nicht ableitbar aus dem, was vorher da war und setzt einen augenscheinlichen und auffälligen Unterschied zu dem, was vorher da war. Sie sticht aus dem trägen Strom des Gewöhnlichen und Gewohnten heraus. Damit entstehen Risse im Gefüge der etablierten Ordnung, in denen Kreativität sprießen und wachsen kann. Wird die Kunst dieser Rolle nicht gerecht, so wird sie kitschig oder oberflächlich. Kunst muss, um Kunst zu sein, immer etwas Provokantes an sich haben, etwas Rebellisches, sei es durch die Form oder durch den Inhalt. Sie dient in ihren Wesen also nicht primär der Verschönerung oder Behübschung der Welt, nicht dem Bedürfnis nach Bequemlichkeit und Sicherheit, sondern der Verwandlung, der Wendung zum Besseren. Sie ist visionär, sie kümmert sich nicht um die scheinbaren Grenzen der Machbarkeit.

Jede Atemsitzung ist neu


Ähnlich können wir das Geschehen in einer Atemsitzung verstehen. Jede Atemsitzung ist neu, in dieser Weise noch nicht dagewesen, nicht ableitbar aus dem, was früher war. Sie bricht mit den Konventionen, die bisher Bestand hatten und die vorherrschende Komfortzone definierten. In der Atemsitzung ist jeder Atemzug als neuer erfahrbar. Mit jedem Atemzug wird erlebbar, dass sich das Leben auf neue Art fortsetzt und dass das Alte hinter sich gelassen werden kann, dass wir es nicht festhalten, bedauern und betrauern müssen, weil es ja schon vorbei ist. Jeder Atemzug setzt einen neuen Anfang, lässt Neues beginnen.

Wir erfinden als Atembegleiter zusammen mit der Atemreisenden in jeder Sitzung eine neue Methode. Wir wenden zwar einige Grundprinzipien an, die wir gelernt haben, müssen sie aber immer auf die aktuelle Situation und auf den konkreten Menschen beziehen. Dadurch gewinnt die Methode eine individuelle Gestalt, eine noch nie dagewesene Form, ähnlich der Einzigartigkeit eines Kunstwerks. Mit jedem Klienten und mit jeder Sitzung erfinden wir eine neue Therapie.

Es ist der innere Prozess oder der Atem, und nicht das Wollen, die Erwartungen oder irgend-welche Regeln, die über den Verlauf der Sitzung bestimmen. Weder der Atmende noch die Begleiterin verfügen über diesen Prozess. Er ist es, der das Geschehen vorgibt, indem er seinen Gang mit allen Wendungen geht, die er gehen will, mal ruhig und mal heftig, stärker und schwächer, leichter und schwerer, oberflächlicher oder tiefer. Er führt durch Phasen der Verwirrung und der Klarheit. Doch ist es nur das Ganze des Prozesses, in dem sich die verändernde Wirkung Gestalt gibt, gewissermaßen das vollendete Kunstwerk.

Atemsitzungen dienen primär nicht dem Wohlfühlen, der angenehmen Wellness-Entspannung, wiewohl solche Effekte erwünscht sind und auch häufig auftreten, sondern es geht vor allem um das vertiefte Kennenlernen des eigenen Inneren, um die Erforschung von Schattenbereichen, um das Kennenlernen von versteckten Gefühlen. Es geht um mehr innere Wahrheit und Klarheit, auch um den Preis, dass der Prozess unangenehme, schmerzhafte und verwirrende Phasen durchläuft. Es geht um eine Wandlung zum Besseren, die nicht durch die bewusste Absicht und durch kluge Planung erzielt wird, sondern durch das Vertrauen auf einen organischen und emotionalen Ablauf, dem sich die atmende Person möglichst bedingungslos anvertraut.

Der künstlerische Schaffensprozess


Auf diese Weise entstehen auch Kunstwerke. Der Künstler initiiert den Prozess, der ihn bald mit sich reißt und sich seiner Willkür entzieht. Es ist also ob die Form, die das Kunstwerk von sich aus entwickelt, bestimmt, mit welchem Inhalt sie gefüllt werden kann und mit welchem nicht. Schriftsteller berichten oft, dass sich die Figuren, die sie für einen Roman entwerfen, im Zug des Schreibens verselbständigen. Wer Gedichte schreibt, weiß, dass wir so lange nach den richtigen Worten suchen müssen, bis das Gedicht selber zufrieden ist.

Dabei ist es gleichgültig, ob der Künstler wie Mozart scheinbar leichthin und schnell die Noten hinwirft, die dann den wunderbaren Klang ergeben oder wie Beethoven lange um die Fertigstellung einer Partitur ringt. Fertig ist das Kunstwerk erst, wenn alles in ihm seinen Platz gefunden hat und ein integriertes Ganzes ergibt. Dann stellt sich die Erfahrung von Schönheit ein.

Die Vormacht des Prozesses


Auch in der therapeutischen Arbeit mit dem Atem müssen wir uns dieser Vormacht des Pro-zesses unterordnen. Wir können Impulse geben und Eingriffe tätigen, diese wirken jedoch nur, wenn sie dem inneren Verlauf der Sitzung dienen, ähnlich wie der Pinselstrich dann passt, wenn er vom Ganzen des Bildes akzeptiert wird, ähnlich wie jede Note zur Harmonie des ganzen Stücks zusammenklingen muss.

Wir kommen mit unserer Alltagsatmung in die Sitzung. In den Atemmustern sind unsere Gewohnheiten und Schwierigkeiten abgespeichert. Der Anfang der Atemsitzung besteht meis-tens darin, diese gewohnte Form der Atmung zu erweitern und zu vertiefen. Wir unterbrechen die eingeübte und konditionierte Kontinuität, um einer neuen Entwicklung das Tor zu öffnen. Damit beginnt die künstlerische Schaffensarbeit. Manchmal mäandert die Atmung zurück ins alte Muster, doch sucht sie dann wieder wie von selbst den Weg auf die neue Bahn, die mehr Freiheit verspricht. Schließlich mündet sie ein in einen weiteren Strom, der weder heftig noch zaghaft sein muss, sondern seine eigene neue Form gefunden hat. Damit geht eine innere Stimmung einher, die einen größeren und helleren Raum einnimmt und die erstrebte Freiheit repräsentiert.

Im Ganzen betrachtet, erkennen wir den Prozess als Metakontinuität, einem übergreifenden, in sich stimmigen Gesamtgefüge, in dem die einfache Kontinuität, die in den normalen, bewusst wie unbewusst ablaufenden Muster repräsentiert ist, und die Diskontinuität, der Bruch mit dieser Gewohnheit, der im bewussten Atmen geschieht, enthalten ist. Beide zusammen haben zu einer besseren Form des Atemflusses beigetragen, der nun ein befreiteres Bewusstsein bewirkt und dieses auch über die Sitzung hinaus durchs Leben begleiten kann.

Rekonstruktion statt Kausalität


In der Therapie wie in der Kunst rekonstruieren wir die Wirklichkeit. Im Atemprozess tauchen wir ein in die unterirdischen Ströme der Erinnerung, die beim Atmen als Körperphänomene, Empfindungen und Gefühle auftauchen können. Dabei entsteht ein neues dynamisches Abbild von früheren Erfahrungen und Erlebnissen, wie die neue Zusammensetzung eines Puzzles aus Bruchstücken, die vorher ohne Zusammenhang waren. Auch in der Kunst erzeugen wir mit deren verschiedenen Ausdrucksweisen eine neue Form der Realität aus dem, was vorhanden ist, indem wir es in Teile zerlegen und neu verbinden.

Wir wenden zwar in beiden Bereichen Techniken an – die Techniken der Komposition z.B. oder die Techniken des bewussten Atmens. Allerdings bleiben die Techniken Randphänomene: Denn das Geschehen, das in Gang gesetzt wird, hat keinen kausalen Verlauf im Sinne einer Wenn-Dann-Beziehung: Wenn ich mit der Komposition in einer bestimmten Weise beginne, dann nimmt sie einen vorhersehbaren Verlauf. Wenn ich die Atmung in bestimmter Weise anleite, kommt ein vorbestimmtes Resultat heraus. Vielmehr wird die Kausalität außer Kraft gesetzt, so gut es geht: Denn die Wenn-Dann-Beziehungen sind die musterhaft ablaufenden Zwänge, unter denen die Menschen leiden, und die alle Formen des Gebrauchsdesigns von der Kunst unterscheiden. Schönheit beginnt dort, wo es keine mechanischen Abläufe und stereotype Muster gibt, sondern wo sich das Fließen des Einmaligen in noch nie dagewesener Form zeigt. Mit der Schönheit gelangen wir ganz in den gegenwärtigen Moment, in den uns jeder bewusste Atemzug führt. Damit sind wir frei von den Konditionierungen und Abhängigkeiten, die unsere Freiheit einschränkten.

Künstlerische Kreativität


Die Kreativität ist die Domäne der Kunst. In ihr drückt sich die schöpferische Fantasie der Künstler in immer wieder neuen Formen aus. Kunst versteht sich als Nachschöpfung der Natur, in der die unendliche Vielfalt und Wandlungsfähigkeit des Lebens als Vorbild des kreativen Fließens auftritt.
Auch als Atmende und Atembegleitende sind wir kreativ Schaffende. Wir lassen das Fließen, das sich durch das freie Atmen öffnet, in neue Bereiche unserer Seele strömen und vertrauen uns dieser Schaffenskraft an, die entsteht, wenn sich die Blockierungen aus unseren festgefügten Gewohnheiten lösen. Als Prozessbegleiter gehen wir mit diesem kreativen Prozess mit und fügen unsere Impulse, die wieder aus einem inneren Fließen kommen, zum Geschehen hinzu.

Jede Atemsitzung ist eine Co-Kreation, ein gemeinsam erschaffenes Werk, das der Welt ein Stück Schönheit schenkt, ein Stück der Wandlung in die Richtung auf mehr Menschlichkeit und Freiheit. Das innere Erleben, das zum inneren Reichtum beiträgt, findet immer auch seinen Niederschlag im Äußeren, alles, was in uns zu einem besseren Fließen gelangen kann, erleichtert auch das Leben in der Welt, mit den Menschen um uns herum. Wir können die Gaben, die uns durch das Atemerlebnis geschenkt werden, nicht nicht teilen; sie teilen sich von selbst an das große Ganze in und um uns mit, von dem sie, wie jede Form der schöpferischen Gestaltung, ursprünglich herstammen.


Hier zu meinem Interview: Die geheime Macht des Atmens (mit Matthias Wittfoth)
Zweiter Link: https://soundcloud.com/matthias-wittfoth

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