Interessanterweise könnte in dem Wort eine weitere Bedeutung stecken: Jemand schreibt uns den Mut zu, dass wir das oder jenes machen oder nicht machen. Ich soll morgen früh um sechs aufstehen, weil du mit mir frühstücken willst? So eine Zumutung! Du hältst mich also für so mutig, sprich kraftvoll und entschlussfreudig, dass ich es schaffe, so früh aufzustehen. In der Zumutung steckt die Anerkennung von Qualitäten, derer ich mir selbst vielleicht gar nicht so bewusst bin.
Ich kann mir dann noch immer überlegen, ob ich diesen speziellen Mut, den mir der andere zuschreibt, aufbringen will; das ist ja letztlich noch immer meine eigene Entscheidung. Aber wenn ich die Zumutung im wörtlichen Kontext verstehe, entspanne ich mich leichter, und wenn ich mich entspanne, kann ich leichter in mich hineinhorchen und dem nachspüren, was ich wirklich selber will. Ich kann dann auch den Mut aufbringen, zum Wunsch der anderen Person Nein zu sagen, oder den Mut, meine Müdigkeit am Morgen zu überwinden.
Wenn wir anderen etwas zumuten, signalisieren wir, dass wir ihnen auf Augenhöhe begegnen: Wir anerkennen sie als gleich mächtig wie wir selber. Wir vertrauen ihnen, dass sie das schaffen, was wir von ihnen möchten, weil wir sehen, wozu sie in der Lage sind. Wir fordern sie heraus, zu ihrer eigenen Kraft zu stehen und aus ihr heraus zu handeln. Wir glauben von ihnen, dass sie über ihren Schatten springen und ihre Komfortzone überschreiten können.
Allerdings ist es wichtig, dass wir bei der Zumutung die Grenzen der anderen Person achten und nicht blind auf unserer Erwartungshaltung beharren. Wenn wir anderen etwas zumuten, gehört dazu, dass wir uns selbst zumuten, eine Ablehnung der Zumutung auszuhalten und zu respektieren. Wir können den Blick der anderen auf ihre Möglichkeiten richten, aber es steht uns nicht zu, zu verlangen, dass sie danach handeln. Schließlich müssen sie unsere Sichtweise nicht teilen. Wir müssen uns also zumuten, unsere Zumutung zurückzuziehen, wenn sie bei der anderen Person auf Ablehnung stößt.
Andererseits brauchen wir auch nicht aus Höflichkeit oder vermeintlicher Anspruchslosigkeit auf jede Zumutung zu verzichten. Wenn wir von anderen Personen nichts verlangen, aus welchen Gründen auch immer, glauben wir, dass sie nicht in der Lage sind, sich innerlich zu dehnen und zu strecken und über sich und ihre Gewohnheiten hinauszuwachsen. Die Aufgabe von Lehrern ist es immer, an die weiteren Möglichkeiten, die in jedem Menschen stecken, zu appellieren. Da wir im täglichen Umgang miteinander immer auch Lehrer füreinander sind, trifft es auch dort zu, dass wir uns selber zumuten können, anderen mehr zuzumuten, als sie sich selber zutrauen.
Mut ist der Gegenspieler der Angst, und wir schauen der Angst der anderen ins Auge, wenn wir eine Zumutung aussprechen. Dazu müssen wir oft selber über die Schwelle einer eigenen inneren Angst steigen. Doch wenn wir dem anderen signalisieren können, dass wir uns der Angst stellen, motivieren wir sie, sich nicht völlig ihren Ängsten auszuliefern. Dann wird aus der Zumutung eine Ermutigung und aus dieser eine Ermächtigung.
Die Zumutbarkeit der Wahrheit
Ein Beispiel für die Rolle der Zumutung kommt in dem berühmten Zitat von Ingeborg Bachmann zur Sprache: Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar." Die Dichterin formuliert einen Anspruch, der aus dem Menschsein selbst hervorgeht: Die Wahrheit repräsentiert die Ganzheit des Menschseins und fordert die beständige Suche danach. Das Fragmentierte am Menschen ist das, was all die Probleme verursacht, unter denen die Menschen und die Menschheit leidet. Wird die Suche nach der Wahrheit nicht mehr zugemutet, wird also der Selbstverblendung kein Spiegel mehr vorgehalten, dann versinkt die Menschheit in der Dunkelheit, in der auch Spiegelbilder nicht mehr gesehen werden.
Hier folgt der Zusammenhang des Zitats aus einer Rede, in der Ingeborg Bachmann
auf die Aufgabe der Schriftsteller zu sprechen kommt: "Wie der Schriftsteller die anderen zur Wahrheit zu ermutigen versucht durch Darstellung, so ermutigen ihn die andren, wenn sie ihm, durch Lob und Tadel, zu verstehen geben, dass sie die Wahrheit von ihm fordern und in den Stand kommen wollen, wo ihnen die Augen aufgehen. Die Wahrheit nämlich ist dem Menschen zumutbar." (Aus: Dankrede bei der Entgegennahme des "Hörspielpreises der Kriegsblinden" 1959)
An einer anderen Stelle schreibt sie: "Denn wir wollen alle sehend werden. Und jener geheime Schmerz macht uns erst für die Erfahrung empfindlich und insbesondere für die der Wahrheit. Wir sagen sehr einfach und richtig, wenn wir in diesen Zustand kommen, den hellen, wehen, in dem der Schmerz fruchtbar wird: Mir sind die Augen aufgegangen. Wir sagen das nicht, weil wir eine Sache oder einen Vorfall äußerlich wahrgenommen haben, sondern weil wir begreifen, was wir doch nicht sehen können. Und das sollte die Kunst zuwege bringen: dass uns, in diesem Sinne, die Augen aufgehen." (Ingeborg Bachmann, Werke, IV, S. 276 [Über die Kunst])
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