Montag, 15. Juni 2015

Die Homophobie und die darwinistische Ideologie

Vor ca. 150 Jahren begann der Darwinismus den kulturellen und wissenschaftlichen Raum mit großem Erfolg zu erobern. Lange Zeit bekämpft vor allem von religiös geprägten Wertvorstellungen, ist mittlerweile der Gedanke der Evolution der Arten zum Allgemeingut der öffentlichen Meinung geworden. Auch die Theorie der Selektion, bekannt unter dem Motto „survival of the fittest“ – das Überleben der „Passendsten“, wird weithin akzeptiert.
 
Der sogenannte Kreationismus, der, ausgehend von konservativen bis fundamentalistischen religiösen Kreisen in den USA, versuchte, den Einfluss des Darwinismus zurückzudrängen, blieb dagegen marginal und ohne Chance, weil Behauptungen, Fehlschlüsse und Glaubensannahmen gegen wissenschaftliche Fakten in unserer Gesellschaft schlecht aussteigen.

Der Darwinismus hat sich nicht nur wegen seiner wissenschaftlichen Grundlagen,  sondern auch wegen seiner Allgemeinverständlichkeit als eine führende Realitätskonstruktion durchgesetzt: Das Überleben der "Fittesten", der "Tauglichsten", und die Höherentwicklung der Arten orientiert an den Notwendigkeiten der Anpassung an die jeweiligen Unterschiede kann viele Phänomene in der Natur zutreffend erklären.

Er passt allerdings auch in den Kontext des modernen materialistischen Bewusstseins. Wir kennen den Gedanken der Konkurrenz, in der sich der "Beste" durchsetzen soll, aus dem tagtäglichen Leben in einer leistungsorientierten Gesellschaft. Wir sind auch mit dem Gedanken der Auswahl vertraut, sind vielleicht vorsichtig geworden, den Gedanken der Auslese allzu unbedacht zu verwenden. Wir teilen weitgehend den Glauben an die genetische Determination, auch wenn dieser nicht mehr dem Stand der wissenschaftlichen Diskussion entspricht. So dient der Darwinismus als eine der Leitmodelle unserer Gesellschaft. „Die darwinistische Ideologie kennt keine Werte außer der egoistischen Gier, und sie rückt diese in den Status eines Naturgesetzes.“ (Andreas Weber, Alles fühlt, S. 19)

Die Natur kann jedoch nicht nur über das deterministische darwinistische Modell verstanden werden. Natur ist mehr als der Kampf der Arten ums Überleben. Natur ist auch kreativer Überschuss. Z.B. zeigen Tiere Verhaltensweisen, die sich durch die Evolutionstheorie nicht erklären lassen, vielmehr nach ihr überhaupt keinen Sinn ergeben. Sie spielen und tollen herum, entwickeln Varianten ihres Bewegungsrepertoires oder ihrer vokalen Ausdrucksmöglichkeiten, die keine Bedeutung haben für das individuelle Überleben noch für das der Gattung. Selbst die Entwicklung der feinen Unterschiede bei unterschiedlichen Blättern von Bäumen lässt sich auf darwinistischer Grundlage nicht erklären. Ein Nachtigallenmännchen singt bis zu 22 Stunden am Tag, bloß um einem evolutionären Zweck zu dienen?


Gender-Variabilität


Was die Geschlechtlichkeit des Menschen anbetrifft, gibt es auch da die großzügige Variabilität der Natur. Sie produziert gerne Fülle und Überschuss, und kümmert sich viel wenig um die Überlebenschancen aller ihrer Produkte als wir aufgrund unserer darwinistischen Prägungen vermuten. Es genügt, wenn eine bestimmte Menge von Lebewesen bis zur Fortpflanzung gelangt, damit die Natur als ganze weiterbestehen kann. Die Variabilität ist dafür eine notwendige Voraussetzung. Je mehr Unterschiede entstehen, desto mehr unterschiedliche Umweltbedingungen können ausgehalten und verarbeitet werden.

Von dieser Arten-, Unterarten- und individuellen Vielfältigkeiten ist auch die menschliche Sexualität nicht ausgenommen. Es gibt auch in diesem Bereich unterschiedliche Orientierung in einem breiten Spektrum. Nur wenige von ihnen sind im darwinistischen Sinn erklärbar: z.B. ergibt die homosexuelle Orientierung in Hinblick auf den Imperativ des Weiterbestehens der eigenen Art keinen Sinn, weil sie die Erzeugung von Nachkommen nicht beinhaltet.

Fast alle frühen Gesellschaftsformen haben die Homosexualität strikt abgelehnt, verfolgt und verfemt, obwohl das Phänomen in allen Kulturen ziemlich regelmäßig vorkommt, völlig unabhängig von der Härte der jeweils angedrohten Strafen. In einfachen tribalen Zusammenhängen mag das verständlich sein: das Überleben des Stammes ist von möglichst vielen gesunden Nachkommen abhängig, deshalb muss der geschlechtlichen Fortpflanzung ein wichtiger Stellenwert eingeräumt werden, und alles, was dem Weiterbestehen der Gemeinschaft nicht dient, muss verboten werden.

Die höher entwickelten  Gesellschaften haben diese Sichtweise aus pragmatischen Gesichtspunkten aufgegeben. Es gibt eine genügend große Zahl von heterosexuellen Personen, die das Weiterbestehen der Gemeinschaft garantieren. Zudem herrschten in Gesellschaften mit beschränkten Ressourcen ständische Einschränkungen der Fortpflanzung, die z.B. die Heirat an Besitz knüpften, sodass legitimer Nachwuchs nur bei begüterten Familien möglich war. Dennoch blieb die Homosexualität verboten.

Der steigende Wohlstand und die Verallgemeinerung der Eheschließung seit der Industrialisierung führten zu einem rasanten Wachstum der Bevölkerung. Der Fortbestand der eigenen Gattung ist seither kein objektives Problem mehr, sondern die Frage, wie die große Zahl von Menschen auf dem Planeten ernährt werden kann. Deshalb haben demographische Argumente gegen die Homosexualität keine Basis mehr.

Die Entwicklung der allgemeinen Menschenrechte seit der Aufklärung führte konsequenterweise zur Anerkennung des Rechts auf die Wahl der eigenen geschlechtlichen Orientierung, der Freiheit, diese auch zu praktizieren, und zum Verbot von Diskriminierungen. 1990 wurde die Homosexualität von der WHO aus der Liste von psychischen Erkrankungen gestrichen. Gleichzeitig steigt seit einigen Jahrzehnten die Akzeptanz für gleichgeschlechtliche Partnerschaften in den westlichen Gesellschaften an. So ist es nur eine Frage der Zeit, dass in immer mehr Ländern die gesetzliche Gleichstellung mit heterosexuellen Partnerschaften vollzogen wird. Dort, wo es noch nicht der Fall ist, wird darüber diskutiert, und es ist damit zu rechnen, dass zunehmend liberalere Regelungen eingeführt werden.


Homophobie oder Hass auf Gleichgeschlechtlichkeit


Umso erschreckender wirken Berichte über Gewalttaten gegen Homosexuelle, die für gleiche Rechte demonstrieren oder paradieren, wie kürzlich in der Ukraine, vor einiger Zeit in Serbien und Polen. Sind es nur Ängste vor einer latenten eigenen Homosexualität, die Menschen aggressiv auf Homosexualität machen?

Die klassischen homophoben Ideologien taugen nicht mehr. Im Hintergrund wirkt vermutlich zusätzlich das popularisierte darwinistische Modell, mit dem solche Menschen unbewusst ihre gewalttätigen homophoben Impulse rechtfertigen. Sie meinen, damit auf der Seite der Stärkeren zu sein, die zum Überleben ausersehen sind, und das gibt ihnen das Recht, auf die Schwächeren loszugehen. Wer in der Lage ist zuzuschlagen, kann sich dem Geschlagenen überlegen fühlen und ihn zugleich verachten.


Darwins Entideologisierung


Neben der Verurteilung von jeder Form von Homophobie müssen wir uns auch für die missbräuchliche Verwendung darwinistischer Hypothesen sensibilisieren. Charles Darwin war Wissenschaftler, und die Wissenschaft schreitet in ihren Erkenntnissen weiter, damit lassen sich Ideologisierungen von Hypothesen aus den Angeln heben. Darwins Evolutionstheorie wurde auch auf das Soziale übertragen, allerdings in sehr eingeschränkter biologischer Sicht und mit einer falschen Übersetzung der Selektionstheorie: Es sollen nicht die „Fittesten“ überleben, sondern die „Stärkeren“. Dieser Sozialdarwinismus wurde zu einer der Grundlagen der nationalsozialistischen Ideologie des deutschen Herrenmenschen, die damit ihre massiven Gewaltverbrechen legitimierte, die sich auch gegen Homosexuelle richtete. Der Sozialdarwinismus hat weitgehend die kulturelle Dimension der menschlichen Evolution ausgespart und damit zur einseitigen Sichtweise der Nazis beigetragen. 


Literatur zur Darwinismuskritik:
Andreas Weber: Alles fühlt. Mensch, Natur und die Revolution der Lebenswissenschaften. Berliner Taschenbuchverlag 2007



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