Samstag, 21. Januar 2012

Durchschnitt und Individualität

Markus Hengstschläger, Genetiker an der Uni Wien, hat ein Buch mit dem Titel „Die Durchschnittsfalle“ (Ecowin-Verlag) verfasst. Die These darin lautet, dass es die Gesellschaft darauf abgesehen hat, alle auf einen Durchschnitt hin zu trimmen, und dass sich die Menschen auch dahinein fügen. Als Beispiel nennt er einen Schüler, der in der Schule in einem Fach sehr gut ist, aber in vier Fächern hängt. Alle sagen zu ihm, dass er darauf schauen muss, in den vier Fächern besser zu werden. So wird er das eine Fach, in dem er Spitze ist, vernachlässigen, und schließlich in allen Fächern nur Durchschnitt sein. Hengstschläger meint nun, dass es im Gegenteil besser wäre, sich noch mehr auf das Fach zu konzentieren, in dem die Begabung liegt und in den anderen Fächern nur das Notwendige zu machen. Dann könne in diesem Fach eine Spitzenleistung entstehen. Wenn alle sich an das Prinzip hielten, gäbe es viel mehr kreative herausragende Beiträge zur Gesellschaft. Alle dagegen, die sich am Durchschnitt orientieren, übersehen, dass sie etwas ganz Individuelles besteuern können und stagnieren in ihrem Mittelmaß. Auch die Gesellschaft zielt darauf ab, alle auf ein Durchschnittsniveau zu bringen.

Dahinter steckt die aus der historischen Erfahrung gewonnene Einsicht, dass die Evolution dort Fortschritte macht, wo etwas unerwartet Neues geschieht. Menschen, die ein Risiko eingehen, die über Konventionen hinweggehen, bringen die Menschheit weiter. Und dass es solche Menschen schwer haben, weil sie zumeist von ihren Zeitgenossen belächelt, bekämpft oder sogar umgebracht werden.

Hengstschläger votiert aber nicht für ein Elitesystem, wie das häufig von konservativer Seite vertreten wird, die von Begabtenförderung reden und eigentlich wollen, dass die traditionellen Oberschichten unter sich bleiben, dass also die höhere Ausbildung und damit die besseren Verdienstmöglichkeiten und Machtpositionen den Angehörigen der eigenen Sozialschicht vorbehalten bleiben.

Solche Konzepte funktionieren nicht. Denn da entsteht wieder nur ein Durchschnitt innerhalb der Elite, und die, die kreative Impulse beisteuern könnten, aber nicht in die maßgebliche Schicht hineinkommen können, bleiben auf der Strecke und ebenso die Gesellschaft, die auf diese Ideen verzichten muss.

Predigt Hegstschläger einen neuen Elitebegriff der Individualisten, derjenigen, die es schaffen, aus dem Durchschnittsmaß auszusteigen? Gerät er in die Falle des personalistischen Weltbildes, das schließlich jeder individuell herausragenden Leistung ein Denkmal setzt und die Genies verehrt, die idealisiert werden? Es ist die besondere Zugabe zur Evolution, die wir aus dieser Entwicklungsstufe übernehmen können, die von Hengstschläger nochmals betont wird. Die Schöpfung oder die Evolution bringt lauter Individualisten hervor, nicht einmal ein Ei gleicht dem anderen, geschweigedenn ein Mensch. Selbst eineiige Zwillinge unterscheiden sich voneinander. Und die besondere Kraft, die in dieser Vielfalt liegt, wird erstmals auf der Stufe des personalistischen Bewusstseins in seiner Bandbreite erkannt und wertgeschätzt.

Frühere Gesellschaftsformationen, vor allem diejenigen in der hierarchischen Bewusstseinsstufe, deren soziale Steuerungen und technische Produktionsmittel schwach entwickelt waren, konnten sich die Entfaltung der Individualität nur in eingeschränktem Maß leisten. Deshalb wurden Minderheiten brutal unterdrückt, abweichende medizinische, sexuelle, philosophische und spirituelle Orientierungen grausam verfolgt und die Behinderten und Schwachen sich selbst überlassen. Alles, was nicht in den Durchschnitt passte, wurde beseitigt. Menschen sind leichter beherrschbar, wenn sie möglichst gleich sind. Deshalb haben die Nazis die Wiener Schlurfe verfolgt, die sich die Haare länger wachsen ließen, und deshalb sollten sich die Chinesen unter Mao nicht einmal in der Kleidung voneinander unterscheiden.

Das materialistische Bewusstsein hat zwar einen enormen ökonomischen und technischen Fortschritt angekurbelt. Es ist jedoch nicht in der Lage, einen Qualitätsbegriff zu formulieren, der das Individuelle einer bestimmten Leistung herausheben wprde. Nachdem es vom Prinzip der Zahl dominiert ist, zielt es immer auf berechenbare Durchschnitte. Der statistische Mittelwert verbürgt den größten und sichersten Erfolg.

In diesem Klima entsteht das darwinistische Prinzip des „survival of the fittest“, das ja vor allem in Deutschland mit dem „Überlebenskampf der Starken“ übersetzt wurde. Damit ist gemeint, dass sich die Gene so verteilen, dass es überlebensfähigere Individuen einer Gattung gibt und weniger überlebensfähige. Daraus haben Rechtsextreme (bis zu manchen der bestverkauftesten Anwandlungen des deutschen Publizisten Thilo Sarrazin) den Fehlschluss gezogen, dass die Gene vorgeben, ob jemand tauglich ist für das Leben oder nicht. Folglich sollte nach genetischen Gesichtspunkten ausgesiebt werden: lebenswertes Leben gehört gefördert und lebensunwertes Leben ausgemerzt.

Nun bietet uns die Genetik keinen Selbstbedienungsladen, wo auf jedem DNS-Segment ein Etikett mit allen Informationen drauf steht – Preis, Inhaltsstoffe, Haltbarkeit usw. Bekanntlich können die genetischen Ähnlichkeiten zwischen einem blonden blauäugigen „nordischen“ Menschen und einem Schwarzafrikaner größer sein als zwischen ihm und seinem ebenso blonden blauäugigen Nachbarn. Und wir können nicht wissen, welche genetische Ausstattung für Probleme der Zukunft, die wir noch gar nicht kennen, optimal wäre. Vielleicht brauchen die Gesellschaften Mitteleuropas gerade jene Gen-Cocktails, die die vielgeschmähten Zuwanderer aus Mittelanatolien mitbringen. Jedenfalls ist nicht gesagt, dass der Fundus, den Mitteleuropa genetisch und kulturell bereitstellen kann, dafür ausreicht, die Herausforderungen, die die Zukunft bringen wird, zu meistern.

Aus den Argumenten, die Hengstschläger vorbringt, folgt jedenfalls, dass wir am besten für diese Zukunft aufgestellt sind, wenn wir möglichst viel an Variabilität und Individualität zulassen und fördern. Das heißt, dass der Weg zu einer multikulturellen Gesellschaft, auf dem wir uns offenbar befinden, die besten Zukunftschancen bietet, während alle „Österreich den Österreichern“ und „Ausländer raus“-Parolenschreier nicht nur das Klima in der Gegenwart vergiften, sondern auch der Weiterentwicklung in die Zukunft das Wasser abgraben. Jeder, dem ein kreativer Fortschritt wichtig ist, müsste die Zuwanderung unterstützen (nicht nur jene, die an die Absicherung der eigenen Pension denken). Und wir liegen auch falsch, wenn wir von „qualifizierter Zuwanderung“ sprechen, also nur jene in unser Land hereinlassen wollen, die eine besondere Ausbildung oder Begabung vorweisen können. Denn wir können nicht wissen, welche Qualifikationen wir für die Zukunft brauchen. Das wird sie uns erst mitteilen, wenn sie da ist. 

Nebenbei: Das ehrwürdige England erschüttert gerade eine Debatte über Elitebildung: Eine 19-jährige Apirantin hat der Universität Oxford nach dem Aufnahmegespräch, noch bevor sie das Ergebnis erfuhr, mitgeteilt, die Uni habe „leider nicht den Standards entsprochen“, die Nowell an Unis anlege, solle deshalb aber „nicht enttäuscht“ sein. Die Uni könne gerne noch einmal bei ihr antreten, ihre Chancen stünden jedoch schlecht, wenn Oxford es nicht schaffe, zu einer fortschrittlicheren Uni zu werden.

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