Mittwoch, 8. Januar 2014

Offene und geschlossene Konzepte


Wir tragen viele Konzepte (Meinungen, Überzeugungen, Denkzusammenhänge, Erklärungen usw.) in uns. Einige von diesen sind uns bewusst, wir haben über sie nachgedacht, über sie diskutiert und sie für uns selber anerkannt. Andere sind uns unbekannt, obwohl sie unser Denken und Handeln beeinflussen. Sie stellen Verallgemeinerungen von Erfahrungen dar, die wir lange schon vergessen haben.

Wenn wir über ein offenes Konzept verfügen, ist uns mehr innere Offenheit möglich. Die Umkehrung gilt in beide Dimensionen: Je mehr innere Offenheit, desto freiere Konzepte können wir verstehen und integrieren; je weniger innere Offenheit wir haben, desto engere Konzepte werden wir suchen, in unser Denken einbauen und anderen gegenüber vertreten.
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Wenn wir wachsen wollen, müssen wir auch unsere Konzepte verändern und öffnen. Je mehr Ängste wir haben, desto enger und einfacher sind unsere Konzepte, weil sie uns so am besten die  Sicherheit vermitteln, die wir suchen. Ein geschlossenes System gibt uns die vermeintliche Zusicherung, für jede Gefahr und jedes Problem das richtige Gegenmittel zu haben.

Unser Denken ist ja im Grunde ein Dienstleister. Es sucht oder schafft sich die Konzepte - Denkzusammenhänge, Argumentationslinien, Philosophien und Weltanschauungen -, die zum inneren Gefühlshaushalt am besten passen. Geschlossene Konzepte dienen uns dazu, unsere enge Gefühlslage zu begründen und zu unterstützen, z.B. das Konzept, dass die Welt von Bösewichtern beherrscht wird, oder das Konzept, dass das Leben mühsam ist. Wir bestätigen uns damit, wie wir uns gerade fühlen (ohnmächtig oder beladen), und verstärken die jeweilige Missstimmung, unter der wir gerade leiden.

Offene Konzepte nehmen wir leichter an, wenn wir uns innerlich locker und frei fühlen. Z.B. Konzepte wie: Alles ist im Grund gut so, wie es ist, oder: In jedem Schlechten steckt was Gutes, gefallen uns, wenn wir uns mit dem Leben stimmig verbunden fühlen.

Dann fällt es uns auch leichter, unsere eigenen Konzepte selbstkritisch zu betrachten und Denkmuster, die uns nicht mehr dienlich erscheinen, verabschieden. Mit offenen Konzepten können wir der Welt und unseren Mitmenschen toleranter und akzeptierender begegnen, während wir aus der Sicht von geschlossenen Denkformen unsere Außenwelt nur verzerrt und begrenzt wahrnehmen können. Offene Gedankensysteme lassen uns innerlich wachsen, während zugleich unsere Außenwahrnehmung weiter und umfassender wird.


Denkformen im Lauf der Bewusstseinsevolution



Im Modell der Bewusstseinsevolution findet sich der folgende Leitfaden: Je einfacher die Gesellschaftsformen, desto "einfacher" sind die Ängste. Ängste in frühen Stadien der Menschheitsgeschichte sind real, weil sie unmittelbar mit Überlebensbedrohungen verbunden sind. Die Angst vor einem Gewitter macht darauf aufmerksam, dass ein Blitzeinschlag das eigene Leben zerstören kann. Sie mobilisiert einfache Ressourcen, die vor der Gefahr schützen sollen, z.B. in einer Höhle Zuflucht suchen. Die Ängste sind insofern massiv und unausweichlich, als ihr Ursprung, die drohende Gefahr, nicht kontrolliert werden kann. Ein angreifender Löwe kann durch nichts mehr in die Schranken gewiesen werden.

Je komplexer die Kulturstufe ist, desto mehr Ängste werden durch die Errungenschaften der Zivilisation gebannt. Es gibt Häuser, in denen die Menschen vor Gewittern in Sicherheit sind, und wilde Tiere gibt es in den meisten Gegenden nur mehr hinter Gittern. Der Fortschritt in der Zivilisation besteht auch darin, dass immer mehr Sicherheitssysteme aufgebaut werden können, sodass es eigentlich fast keine Ängste mehr geben müsste. Dennoch leiden die Menschen nach wie vor unter den unterschiedlichsten Ängsten, allerdings haben sie keinen Kontakt mehr zu den realen Bedrohungssituationen, die hinter ihren Ängsten stehen.

Einfachere Gesellschaften funktionieren mit einfacheren Deutungsmodellen. Die Bedrohungen durch die Natur werden z.B. mit Geistern oder Göttern erklärt und mit Opfergaben besänftigt. Die entsprechenden Denkkonzepte reichen für den Rahmen und die Grenzen des eigenen Stammes, es kann aber sein, dass sie vom Nachbarstamm gar nicht mehr verstanden werden, weil dieser über ein eigenes andersartiges Deutungsnetz verfügt. Es stellt sich auch keine Notwendigkeit für übergreifende, verallgemeinernde Interpretationen.

Mit dem Fortschreiten der Bewusstseinsevolution und der Auflösung der Stammesgrenzen wurden weiter gefasste Deutungskonzepte notwendig, die schließlich zur Entwicklung der Religionen und Weltanschauungen geführt haben. Diese bieten sehr weitgespannte und vielfältige, oft auch widersprüchliche Einsichten an, die viele Bereiche und Situationen des Lebens mit Sinn versehen und verstehbar machen konnten. Z.B. können viele Psalmen des Alten Testaments bis heute als Hilfe für schwierige Lebenssituationen dienen. 

Die Hochreligionen wurden von Menschen entwickelt, die zu einem Bewusstsein Zugang hatten, das weit über den Horizont ihrer Zeit und ihrer Zeitgenossen hinausragte. Sie konnten genügend Menschen für die neuen Sichtweisen begeistern, dass sie motiviert waren, die Idee weiter und weiter zu verbreiten, bis sich eine neue Glaubensrichtung gebildet hat. So konnten die Fundamente dafür gelegt werden, dass die meisten der alten Religionen über die Jahrhunderte bis in die Gegenwart bestehen geblieben sind. 

In der Zeit ihrer Gründung war ihr neuartiges Deutungs- und Sinnangebot sensationell und revolutionär. Es riss gewissermaßen die engen Konzepte der Menschen auf und öffnete neue weite Horizonte des Denkens und des Fühlens. Das erklärt ihre große Anziehungskraft.

Doch zeigte sich in der Geschichte aller Religionen, dass mit ihrer geografischen und demografischen Verbreitung und Ausweitung ihr Deutungsgehalt und ihre Aussagekraft eingeengt und festgeschrieben wurde. Die Wahrheiten wurden in den meisten Fällen in Kanones und Dogmen gegossen und verschriftlicht, so, als sollten sie ab nun bis ans Ende aller Zeiten unverändert Geltung behalten und von allen nachfolgenden Generationen und Zeitaltern in der immer gleichen Form nachgebetet werden. Die Befreiungsbotschaften, die die Anfänge einer neuen Weltanschauung kennzeichnen, wurden im Lauf der Zeit langsam, aber sicher mit engen Konzepten umgarnt und schließlich erstickt. Aus den Froh- wurden Drohbotschaften: Wenn du nicht den vorgegebenen Regeln und Vorschriften folgst, wenn du nicht in den vorgepredigten Bahnen denkst, wird es dir schlecht ergehen, nicht nur auf Erden, sondern auch im Jenseits, und damit für immer.

Mit der Verengung der Konzepte wurde nicht nur die Kraft der ursprünglichen Botschaft ausgezehrt. Es wurden auch die individuellen und kollektiven Ängste weiter am Leben gehalten und zusätzlich geschürt, die zu bannen die Religionsstifter ursprünglich angetreten waren. 

Eine weitere Folge war die Hemmung der inneren Weiterentwicklung der Wahrheiten. Es wurde auch die Verständigung mit den anderen Religionen immer schwieriger, sodass bis heute mehr Konkurrenz als Kooperation und mehr Abneigung als Dialog zwischen den einzelnen Großreligionen besteht. 


Geschlossene Konzepte



Geschlossene Konzepte sind dadurch gekennzeichnet, dass jemand nur innen oder außen sein kann. Wenn du nicht für mich bist, bist du gegen mich, ist ein einfaches geschlossenes Konzept. Es gibt eine und nur eine Wahrheit, wer sie teilt, gehört dazu, wer nicht, ist ein Ketzer, Ignorant oder Dummkopf. Das ist eine einfache Art, um geschlossene Konzepte zu erkennen: Wer sie infrage stellt, wird abgewertet oder verfolgt. Denn er stellt eine Bedrohung für das Konzept dar und muss so oder so zum Schweigen gebracht werden 

Geschlossene Konzepte haben für alles eine vorgegebene Erklärung. Was immer geschieht, es hat aufgrund des Konzeptes so sein müssen. Weil die Menschen in Sünde leben, werden sie mit einer Katastrophe bestraft. Weil sie sich gebessert haben, sind sie von einer noch schlimmeren Katastrophe verschont geblieben. 

Solche geschlossenen Systeme verfügen über eine Art von Erklärungsgenerator, der für jedes neue Ereignis, das in der Wirklichkeit auftaucht, regelkonforme Erklärungen produziert und dafür sorgt, das das Konzept unter allen sich verändernden Umständen beibehalten werden kann.

Zum Beispiel gibt es das Konzept der Gedanken, die die Realität erschaffen. Was wir denken, wird real. Was real ist, ist deshalb real, weil wir es gedacht haben. Ich denke an jemanden, und die Person ruft an. Die Regel ist bestätigt. Denke ich an jemanden, und die Person ruft nicht an, habe ich zuwenig klar oder intensiv an die Person gedacht, oder hatte eine unbewusste Abwehr dagegen, angerufen zu werden. Die Regel ist wieder bestätigt, mit Hilfe von aus der Regel generierten Zusatzregeln. Was immer mich in der realen Erfahrung überrascht, weil ich nicht daran gedacht habe, dient als Beweis für das Konzept.

Ein anderes Beispiel: Jemand vertritt eine bestimmte Heilmethode oder ein bestimmtes Heilmittel. Es hat ihm geholfen, und nun will er es auch anderen weitergeben, gleich, ob mit oder ohne materiellem Gewinn. Nun probiert das jemand anderer aus und hat keinen Erfolg damit. Da könnte man annehmen, dass das Mittel oder die Methode nicht für alle und für alles eine taugliche Hilfe ist. Dann bleibt das System offen: Es kann genauer erforscht werden, wo und wann ein positiver Nutzen entsteht und wo und wann nicht. Wird das System geschlossen gehalten, dann heißt es, dass die Person einen Fehler bei der Anwendung gemacht hat, bis hin zu dem Vorwurf, dass sie zu wenig an eine positive Wirkung geglaubt habe.


Spiritualität und Religion



Die sich immer mehr verdichtende Weltgesellschaft muss über die Deutungshöfe der einzelnen Religionen hinausgehen, weil diese voll von defensiven und aggressiven geschlossenen Konzepten sind. Der Begriff "Spiritualität", der langsam über den der "Religion" hinaus wächst, ist ein Indiz dafür. Aus der Sicht der "Spiritualität" unterscheiden sich die tieferen Wahrheiten, also die offenen Konzepte der einzelnen Religionen kaum. Es erscheint vielmehr so, als ob sich jede Tradition auf einem anderen Weg dem Allerheiligsten nähert und es in seiner jeweils eigenen Sprache beschreibt und in einzelnen Aspekten besonders deutlich beleuchtet.

Wenn wir also eine der gesamten Menschheit adäquate Form der Spiritualität finden wollen, brauchen wir die offensten Konzepte, die wir finden können. Wir müssen sie aufeinander abstimmen, sodass die unterschiedlichen Formulierungen in ihrem gemeinsamen inneren Klang gehört werden können.


Der innere Weg zu offenen Konzepten



Wir können nur Wahrheiten annehmen, wenn wir innerlich dazu bereit sind, sonst bedrohen sie uns auf der unbewussten Ebene, und wir wehren sie ab. Erst wenn sich unser Inneres von den Ängsten befreit hat, die sich an unsere eingeengten Konzepte angehängt haben, können wir eine Wahrheit, die wir vorher vielleicht intellektuell verstanden haben, in unserem Leben verwirklichen. Wir brauchen die innere Weite des Freiseins von Ängsten, um eine große Wahrheit tragen zu können.

Wenn wir eine Idee fassen, bevor wir sie noch wirklich tragen können, kann sie uns als Leitstern, als Antrieb dienen, um zu ihrer Verwirklichung zu gelangen. Konzepte können eine Veränderung vorbereiten, indem sie die gedanklichen Grundlagen bereitstellen. Sie können vorauseilen und schon vor der inneren Veränderung verstanden und verinnerlicht werden. Sie können eine Kraft bereitstellen, die wir brauchen, wenn wir den Ängsten begegnen, denen wir uns stellen müssen. Wir lesen ein Buch oder hören einen Vortrag, der uns inspiriert und unsere Denkformen verändert und erweitert. Dadurch sind wir motiviert, Neues in unserem Leben auszuprobieren und zu erkunden.

Andererseits können wir Ideen nutzen, um uns selbst zu täuschen. Denn Konzepte, die offener sind, als diejenigen, auf die wir bisher unser Leben stützten, bedrohen das dazugehörige emotionale Schema. Z.B. konfrontiert das Konzept: "Du brauchst keinen Glauben, um glücklich sein zu können", mit der Unsicherheit, wie es denn gehen könnte, ohne Glauben zu leben, vor allem bei jemandem, dem der Glaube eine besonders wichtige Stütze war. Die Idee stellt eine feste Überzeugung in Frage, die bisher zum Gerüst der inneren Sicherheit beigetragen hat.

Es ist deshalb auch wichtig, beim Übergang zu weiteren und offeneren Konzepten, wie wir sie in einer weiteren und offeneren Weltgesellschaft benötigen, die emotionalen Hemmungen und Blockierungen zu berücksichtigen, zu erkennen und zu bearbeiten. Nur dann können wir aus einer Idee eine Lebenswirklichkeit, eine gelebte Wirklichkeit mit mehr Weite und Offenheit machen.

2 Kommentare:

  1. Ohne Konzepte kommen wir nicht aus, um uns in der Welt zurecht zu finden und um das Zusammenleben zu organisieren. Dabei sind - auch meiner Meinung nach - offene Konzepte unabdingbar, um die Menschheit in guter Weise weiterzubringen.

    Neben den kollektiven Konzepten (wissenschaftlichen, weltanschaulichen, religösen, politischen, wirtschaftlichen, etc.) gibt es genauso viele Konzepte, wie es Menschen gibt (Selbstkonzepte und Konzepte des persönlichen Lebens).
    Jeder Einzelne trägt somit Verantwortung bzgl. dessen, wie es mit dieser Welt weitergeht.

    Deshalb ist es ebenso unabdingbar, dass sich jeder noch vor dem Annehmen eines jeglichen Konzepts bewusst für eine prinzipiell aufgeschlossene und positiv-kritische Haltung entscheidet. Das bedeutet auch, Konzepte immer wieder zu prüfen, ob sie den Umständen entsprechend noch angemessen sind.

    Ich denke, aus einer solchen Haltung Einzelner können nur offene Konzepte entstehen.

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    1. Danke für die wichtigen und interessanten Ergänzungen! Helfen wir uns gegenseitig, unsere Konzepte offen zu halten!

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