Freitag, 7. Juli 2017

Früher Stress und die Anfälligkeit für Depressionen

Früher Lebensstress enkodiert eine lebenslange Empfänglichkeit für Stress durch langlebige transkriptionale Programmierung in einer Gehirnbelohnungsregion, die mit Stimmungen und Depression zusammenhängt. Das geht aus einer Studie hervor, die an der Icahn School of Medicine auf dem Berg Sinai durchgeführt und im Journal Science publiziert wurde.

Die Studie konzentriert sich auf epigenetische Veränderungen, also Veränderungen in der Genaktivierung. Diese Art der Regulation leitet sich teilweise aus der Funktion von Transkriptionsfaktoren ab, das sind spezialisierte Proteine, die sich an bestimmte DNA-Sequenzen in unseren Genen anbinden und den Ausdruck, also die Aktivität dieses Gens entweder anregen oder verhindern.

Frühere Studien bei Menschen und Tieren haben schon die Vermutung unterstützt, dass früher Stress im Leben das Risiko für Depressionen und andere psychiatrische Syndrome steigert, aber die neurobiologische Bestätigung war bis jetzt ausständig.

Die vorliegende Studie hat die molekulare Grundlage für Stress während eines empfindlichen Entwicklungsfensters identifiziert, in der die Stressreaktion einer Maus für später programmiert wird. Wenn die Versorgung durch die Mutter unterbrochen wird, kommt es zu Änderungen bei Hunderten von Genen im ventralen tegmentalen Areal (VTA), wodurch diese Gehirnregion auf einen depressionsähnlichen Zustand geprägt wird. Dieser Bereich zählt zum mesolimbischen System, das einen wichtigen Einfluss auf die Gefühlszentren des Gehirns ausübt. Es ist stark durch den Botenstoff Dopamin geprägt und spielt bei der Entstehung von freudvollen Gefühlen insbesondere in Zusammenhang mit Belohnung eine Rolle. Allerdings kann es auch bei der Ausbildung von Suchtverhalten mitwirken.

Als Folge der Unterbrechung der epigenetischen Entwicklung der Gene in diesem Areal entsteht eine erhöhte Empfänglichkeit für Depression für den Rest des Lebens, die latent bleiben kann, bis die Störung irgendwann einmal durch zusätzlichen Stress ausgelöst wird.

Insbesondere haben die Forscher eine Rolle des Transkriptionsfaktors Otx2 (orthodenticle homeobox 2) als Hauptregulator für diese langlebigen Genveränderungen identifiziert. Babymäuse, die in der sensiblen Phase zwischen 10 und 20 Tagen nach der Geburt unter Stress gesetzt wurden, hatten diesen Faktor im VTA unterdrückt. Obwohl sich der Otx2-Spiegel bis in die Erwachsenenzeit normalisierte, hatte die Unterdrückung bereits Genveränderungen in Gang gesetzt, die bis ins Erwachsenenalter weiterbestanden, sodass der Schluss gezogen werden kann, dass früher Lebensstress die altersspezifische Programmierung, die durch Otx2 gestaltet wird, unterbricht.

Weiters zeigte sich, dass die Mäuse, die im frühen Leben unter Stress gesetzt wurden, als Ausgewachsene eher zu einem depressiven Verhalten neigten, aber nur dann, wenn sie zusätzlich unter Stress gesetzt wurden. Alle Mäuse verhielten sich normal, aber ein zweiter Stressschlag führte bei den frühgestressten Mäusen leichter zu depressivem Verhalten.

Die Studie konnte nachweisen, dass die frühe Otx2-Unterdrückung für die Erklärung einer gesteigerten Stressempfänglichkeit im späteren Leben sowohl notwendig wie ausreichend ist. Es kommt zu dieser Schwächung der vagalen Bremse, um die Terminologie der Polyvagaltheorie zu verwenden, also zur Verringerung der Fähigkeit zur Stressbewältigung, wenn früher Stress epigenetische Veränderungen im mesolimbischen System des Gehirns (VTA) hervorruft. Und die erwachsene reduzierte Stresstoleranz kann auf neurobiologischer Ebene ausreichend durch diese epigenetische Modifikation erklärt werden.

Während kritische Phasen in der Kindheit in Bezug auf das Sprachlernens schon verstanden wurden, besteht zur Frage nach sensiblen Phasen in der Kindheit zur Beeinflussung bestimmter Gehirnregionen für die Stressempfänglichkeit und emotionalen Regulation noch viel Klärungsbedarf. Mäuse sind nicht Menschen, doch wissen wir aus der praktischen Erfahrung mit uns selbst und mit vielen, wenn nicht allen Klienten, wie maßgeblich kindliche und pränatale Erfahrungen die Stressreaktionen erwachsener Menschen beeinflussen.

Ein überraschender Effekt der Studie bestand darin, dass die Stressempfindlichkeit bei den ausgewachsenen Mäusen zumindest kurzfristig durch eine Manipulation von Otx2 reduziert werden konnte. Es gibt also Möglichkeiten der nachträglichen Beeinflussung oder sogar der Korrektur der epigenetischen Veränderungen, und das erleben wir in der klinischen Praxis immer wieder. Interessant ist dann vor allem die Frage, welche Methoden besonders gut und direkt auf die Otx2-Regulation im VTA Einfluss nehmen können. Zu hoffen ist, dass weitere Forschungen nicht nur nach pharmakologischen Korrekturmöglichkeiten suchen, sondern auch ihren Blick auf die schon bestehenden therapeutischen Zugänge insbesondere im Entspannungsbereich richten, z.B. inwieweit sich eine entspannte Atmung genau auf diese Bereiche und deren epigenetischen Veränderungen   der Stressregulation im Gehirn auswirkt.


Link zur Studie
Zum Weiterlesen:
Materialien zur Epigenetik
Epigenetische Weitergabe von Stress
Kindliche Traumatisierung verändert die Gene
Epigenetik und die Verantwortung der Mütter

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