Samstag, 10. Januar 2015

Der Achtsamkeitsboom und seine Grenzen

Als Achtsamkeitslehrer ist es mir auch wichtig, auf die Grenzen des Weges hinzuweisen. Jeder Weg hat seine Grenzen, links und rechts. Da gibt es andere Wege oder anderes Gelände. Wenn wir über die Grenzen eines Weges wissen, sehen wir ihn offen und veränderbar und können ihn mit einem Wegenetz in Verbindung bringen. Damit findet ein gegenseitiges Lernen statt, ein Lernen, das erweitert und bereichert. Die Grenzen sind offen und durchlässig, bleiben aber dennoch vorhanden.

Der Begriff "Achtsamkeit" (mindfulness) hat für viele Menschen das Tor zur Meditation geöffnet. Manche Menschen verbinden mit Meditation religiöse oder esoterische Praktiken, die in Sekten oder sektenähnlichen Organisationen gepflogen werden und meiden es deshalb. Andere wiederum sehen in Meditation einen mühsamen Weg - stundenlanges Sitzen ohne sich bewegen zu dürfen usw. "Achtsamkeit" dagegen klingt harmlos, unverfänglich und einfacher. Obwohl der Kern des Achtsamkeits-Weges die Meditation ist, geht es um noch mehr und um ein weiteres Feld: Achtsamkeit kann immer und überall praktiziert werden, in der Arbeit, in Beziehungen, in einfachen wie in komplexen Tätigkeiten.

Deshalb nimmt die Achtsamkeitspraxis immer mehr Raum ein, sodass man von einem Achtsamkeitsboom sprechen kann. Jon Kabat-Zinn, der Begründer von MBSR, mindfulness-based stress reduction, behauptet, dass Achtsamkeit "das Potenzial hat, eine universelle oder globale Revolution anzufachen, die .... sogar die europäische und italienische Renaissance in den Schatten stellen würde ... und die möglicherweise die einzige Hoffnung sein kann, die die Gattung und der Planet haben, um es die nächsten paar hundert Jahre zu schaffen." Achtsamkeitstrainings gibt es praktisch überall: für Promis, Geschäftsleute, Politiker und Sportler, in Kirchen und in Gefängnissen.

Beachtenswert ist auch der Boom an wissenschaftlichen Forschungen, die seit der Jahrtausendwende exponentiell wachsen. Waren es bis dahin 0 - 5 Forschungsarbeiten/Jahr, so ist inzwischen die Zahl auf 300 - 400 gestiegen. Sowohl die Stress- wie auch die Hirnforschung ist eingestiegen und hat wertvolle Erkenntnisse geliefert, die wiederum die Attraktivität des Achtsamkeits-Ansatzes bestärken.

Kann es stimmen, dass wir mit Achtsamkeit unser Leben so in den Griff bekommen, dass wir keine weitere Hilfe mehr brauchen? Müssen wir nur genug Achtsamkeit üben, unseren Geist beruhigen, und schon gleiten wir mühelos durchs Leben, frei von inneren und äußeren Konflikten, mit uns selber und mit allem um uns herum in ruhiger Aufmerksamkeit verbunden?

Jeffrey B. Rubin, selber Meditationslehrer und Psychoanalytiker, weist auf eine wichtige Grenze des Achtsamkeitsweges hin: "Meditation vernachlässigt die Bedeutung. Das öffnet nicht nur schweren Gefahren die Tür, sondern verwässert auch das radikale Potenzial der Meditation."

Jack Kornfield, Psychologe und buddhistischer Lehrer, schreibt: "Auch die besten Meditierer haben alte Wunden zu heilen". Es stimmt also nicht, wenn manchmal behauptet wird, dass Meditation oder Achtsamkeit alle Probleme auflösen kann und dass, wenn trotzdem noch Probleme bleiben, eben mehr meditiert werden muss. Hier schließt sich nämlich das System, die Offenheit des Weges geht verloren. Das Muster kennen wir: "Meine Methode funktioniert. Wenn sie nicht funktioniert, hast du sie zu wenig praktiziert." Da bleibt nur die Wahl: Sich voll und ganz der Methode zu verschreiben oder voll und ganz auszusteigen. Da gibt es dann die, die innen und die, die außen sind.

Eine offene Methode weiß um ihre Grenzen. Sie kann sagen, was sie leisten kann und was nicht, wo sie helfen kann und wo andere Methoden besser sind. Sie weiß, dass sie, auch wenn sie schon vielen Menschen geholfen hat, sich weiterentwickeln muss.

Es ist unbestritten, dass das Üben von Achtsamkeit unser Leben in vielen Bereichen verbessern und verändern kann. Aber wir müssen auch dorthin schauen, wo das Training der Aufmerksamkeit nicht weiterführt, ohne deshalb die Methode an sich schlechtzumachen.

Wenn z.B. jemand der Meinung ist, zuwenig zu meditieren, weil noch dies und jenes im Leben als störend und verstörend erlebt wird, so kann ein tieferliegendes Minderwertigkeitsgefühl und eine Angst vor Liebesverlust dahinter stecken. Je mehr nun die Person meditiert, desto stärker wird die Übung zu einem Kampf gegen das Persönlichkeitsproblem, das sich dadurch nur verstärkt. Wenn wir für uns die Meditation üben, verändert sich vieles in uns, doch bleiben die eingespielten Verhaltensmuster unberührt, weil unser Unbewusstes Mechanismen etabliert hat, sich selber gut zu schützen. Damit bleiben tiefliegende Themen für die Meditation unerreichbar. 

Den Weg der Therapie gehen wir immer mit einer anderen Person, der Therapeutin. Sie zeigt uns auf, wo wir uns selber täuschen und in die Irre führen. Sie bildet ein aktives und unbefangenes Gegenüber, das aus unseren Reaktionen ablesen kann, wo wir etwas vermeiden und uns selber beschwindeln. Dadurch öffnet die Therapie den Zugang zu tieferliegenden Themen, die ans Licht gehoben und aufgelöst werden können.

Die beiden Wege stehen aber nicht im Gegensatz, vielmehr können sie einander gut ergänzen. Wer meditiert, wird sich in der Therapie leichter tun, nach innen zu spüren und Rückmeldungen von außen anzunehmen. Klienten der Psychotherapie kommen gut weiter, wenn sie mit Meditation beginnen. Das Üben von Achtsamkeit wird den Therapieprozess beschleunigen und vertiefen. Außerdem bildet es ein Gegengewicht zur therapeutischen Beziehung, die damit auch von allzu hohen Erwartungen entlastet wird. Der Klient erkennt, dass er für sich und mit sich selbst auch arbeiten kann, und dass ihm diese Arbeit in der Therapie weiterhilft.

Für den Meditierer kann auch die Meditation eine neue Wirksamkeit bekommen: Inhalte, die bei der Meditation auftauchen, nach ihrer Bedeutung zu befragen, die dann in der Therapie entschlüsselt werden kann. Ein therapeutischer Rückhalt kann sich auch hilfreich oder sogar lebensrettend erweisen, wenn der Meditierende durch die Meditation in Zustände gerät, die er selber nicht mehr bewältigen kann. Um hier professionell unterstützen zu können, muss allerdings der Therapeut Erfahrungen mit spirituellen Krisen und deren Bewältigung haben. 

Sucht also jemand, der viel Erfahrung auf dem Weg der Achtsamkeit und Meditation hat, eine therapeutische Begleitung, was von Selbstverantwortung und Einsicht in die Grenzen der Meditation zeugt, dann sollte er bei der Auswahl darauf achten, dass der Therapeut oder die Therapeutin Meditationserfahrung hat und Achtsamkeit praktiziert. Erfahrungen im Umgang mit spirituellen Krisen und Notfällen sollten auch zu den Auswahlkriterien zählen.

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