Donnerstag, 6. November 2014

Halbwahrheiten - schlimmer als Unwahrheiten

Eine Halbwahrheit kann schlimmer sein wie eine Unwahrheit. Denn die Halbwahrheit verführt und verwirrt. Die Unwahrheit ist leichter durchschaubar, wir verfallen ihr entweder ganz oder durchschauen sie gleich. Die Halbwahrheit dagegen benutzt einen Aspekt der Wahrheit und verschleiert ihn gleichzeitig. Sie gibt eine unhaltbare Zusicherung oder erhellt, was sich im gleichen Atemzug wieder verbirgt. Sie will befreien, bereitet aber in Wirklichkeit ein schlechtes Gewissen. Sie vermischt Relatives mit Absolutem, so als könnte das Absolute das Relative rechtfertigen. Deshalb oszilliert die Halbwahrheit, sie will uns beruhigen, während sie uns gleichzeitig aufregt. Thornton Wilder meinte einmal: "Jede Halbwahrheit ist eine Dreiviertellüge."

Ein Beispiel dazu ein bekannter Text, der in verschiedenen Versionen durch die Netzwerke geistert und eine Reihe von Kettenbriefen initiiert hat:

"Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte, im nächsten Leben würde ich versuchen, mehr Fehler zu machen. Ich würde nicht so perfekt sein wollen, ich würde mich mehr entspannen.
Ich wäre ein bisschen verrückter, als ich es gewesen bin, ich würde viel weniger Dinge so ernst nehmen. Ich würde mehr Eis und weniger Bohnen essen. Ich würde mehr riskieren, würde mehr reisen, Sonnenuntergänge betrachten, mehr Bergsteigen, mehr in Flüssen schwimmen.
Ich war einer dieser klugen Menschen, die jede Minute ihres Lebens fruchtbar verbrachten; freilich hatte ich auch Momente der Freude, aber wenn ich noch einmal anfangen könnte, würde ich versuchen, nur mehr gute Augenblicke zu haben.
Falls du es noch nicht weißt, aus diesen besteht nämlich das Leben; nur aus Augenblicken; vergiss nicht den jetzigen.
Wenn ich noch einmal leben könnte, würde ich von Frühlingsbeginn an bis in den Spätherbst hinein barfuß gehen. Und ich würde mehr mit Kindern spielen, wenn ich das Leben noch vor mir hätte.
Aber sehen Sie … ich bin 85 Jahre alt und weiß, dass ich bald sterben werde."

Schon die Geschichte des Zitates hat mit Halbwahrheiten zu tun. In manchen Quellen wird es Jorge Luis Borges zugeschrieben, dessen Herausgeber und Witwe die Zuschreibung vehement bekämpfen. Der Text passt ja so überhaupt nicht zum Schreibstil von Borges. Tatsächlich dürfte der Urheber der ersten Fassung ein amerikanischer Humorist namens Don Herold gewesen sein. Manche Ähnlichkeit scheint es mit einem "Abschiedsbrief" von Gabriel Garcia Marques zu geben, den dieser lang vor seinem Tod verfasst hat. Und immer wieder scheint eine Frau namens Nadine Stairs oder Nadine Strain als Verfasserin auf. Offenbar hat sich eine Art Stille-Post-Effekt ergeben, dass irgendeine Urfassung des Textes mit jeder Weitergabe verändert, ergänzt und/oder gekürzt wurde, sodass mittlerweile die unterschiedlichsten Fassungen kursieren.

Abgesehen von der Herkunfts- und Zuschreibungsgeschichte des Zitats liegt die halbe Wahrheit seines Inhalts darin, dass es die Menschen darauf aufmerksam machen will, dass sie das Leben jeden Augenblick genießen und annehmen sollen, was viele als hilfreichen Hinweis auf eine gültige Wahrheit verstehen können: das Leben besteht nur aus den Augenblicken, in denen es erlebt wird.

Verpackt ist diese Wahrheit allerdings in einen Kontext des erbaulichen Ermahnens und des Bedauern über Versäumtes: Begehe nicht die Fehler, die ich begangen habe, iss rechtzeitig genug Eiskreme, mit 86 könnte es zu spät sein, und dann ist der Appetit darauf möglicherweise dahin. Die Leserin wird erkennen, dass sie bisher zu wenig barfuß gelaufen ist, und dann wird ihr vielleicht einfallen, dass sie schon zu lange in der Großstadt lebt, wo das nicht so einfach geht zwischen Frühling und Spätherbst.

Offenbar sollen wir uns fragen, ob wir nicht doch ziemlich falsch gelebt haben. Solange noch Zeit ist, sollten wir auf die richtige Lebenslinie einschwenken, denn schnell könnte es zu spät sein, und dann droht ein in der Rückschau verpfuschtes Leben.

So liest sich der Text unterschwellig als eine Aufzählung von Versäumnissen, von "Zuwenigs". Wir sollen unser Leben als ein Leben erkennen, das anders gelebt hätte werden sollen. Hier wird es allerdings zu einem Zeitpunkt festgestellt, an dem es schon zu spät ist - von jemandem, der von sich behauptet, im Augenblick zu leben. Der Text dürfte wohl in einem Augenblick entstanden sein, indem das Bedauern über die Mängel und Versäumnisse der Vergangenheit überhand genommen haben.

Niemandem ist zu verdenken, melancholisch auf das Unwiederbringliche der Vergangenheit zurückzuschauen, und niemand ist angehalten, widerspruchsfreie oder schlüssige Texte zu schreiben. Der Text kann ja auch unter Poesie eingereiht werden, und da gelten andere Kriterien als die des Wahrheitswertes.

Es verwundert jedoch, welch weite Verbreitung solch ein Text finden kann, der eine besondere Qualität der Weisheit für sich reklamiert und es doch nur zur Hälfte schafft. So schwingt er zwischen Erbauung und Ermahnung, vergleichbar den Ungewissheiten seiner Herkunft.

Dem Bereich der Wahrheitssuche hingegen entzogen und in elegant frivolen Humor übertragen hier die Version von Marlene Dietrich: "Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte, würde ich die gleichen Fehler machen. Aber ein bisschen früher, damit ich mehr davon habe."

Zum Weiterlesen:
Die Jagd nach der Erfahrung

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