Donnerstag, 28. März 2013

Spirituelles Erleben und Krankheit

Spirituelles Erleben passt oft nicht in den engen Rahmen unserer Gesellschaft. Viele kleine Kinder haben einen direkten Bezug zu einer Welt, die den Erwachsenen fremd geworden ist. So tun sie es abschätzig oder irritiert ab, wenn Kinder von Naturwesen oder Geistern reden und wenn sie in andere Welten reisen – „Das sind halt noch Kinder mit ihrer seltsamen Fantasie. Wichtig ist es nur, dass sie rechtzeitig das logische und rationale Denken erlernen, damit sie in Schule und weiterem Leben erfolgreich sein können.“ Das erwarten wir von der Schule, und diese bemüht sich redlich, diese Erwartungen zu erfüllen. Es hilft nichts, jeder muss die Mathematik und die Grundbegriffe der Physik erlernen und das abstrakte Denken so lange einüben, bis die überschießenden Fantasien in ein kleines Gärtchen weit hinten in der kognitiven Landschaft verbannt sind.

Kinder kommen mit einer rechtshemisphärischen Dominanz auf die Welt. Deshalb erleben sie die Welt momentan, ganzheitlich und fließend.  Alles ist mit allem verbunden, die verschiedenen Weisen des Erlebens zwischen Wahrnehmung und Fantasie gehen ineinander über und kennen keine klare Abtrennung. Erst im Lauf des 2. Lebensjahres beginnt sich die linke Gehirnhemisphäre stärker zu entwickeln, verbunden mit dem Erlernen der verbalen Sprache und der grammatischen Strukturen. Die Wirklichkeit wird auseinandergelegt, in Einzelteile, die dann untersucht werden können. Grundformen der Logik bilden sich aus, z.B. der Zusammenhang von Ursache und Wirkung oder von Bedingung und Konsequenz: Wenn du mit dem Jammern aufhörst, kriegst du dein Spielzeug wieder.

In der Folge sind Kinder vor die Aufgabe gestellt, die unterschiedlichen Modi der beiden Hemisphären miteinander zu verbinden. Meist setzt sich gegen Ende des Vorschulalters die linke Hemisphäre durch, was eine gute Prognose für die Schullaufbahn ergibt, denn unsere Gesellschaft verlangt die rationalen und ökonomischen Denk- und Verhaltensweisen.

Gelingt die Integration nur mangelhaft, d.h. nicht den Erwartungen unserer modernen Gesellschaft gemäß, können sich Anpassungsschwierigkeiten ergeben, die dann nachhaltig die Lebensplanung beeinflussen – Schulprobleme gefolgt von Berufsproblemen bis hin zur Psychiatrisierung. Denn es gibt für solche „Störungen“ einen Krankheitsbegriff: Schizotypie.

„Eine Störung mit exzentrischem Verhalten und Anomalien des Denkens und der Stimmung, die schizophren wirken, obwohl nie eindeutige und charakteristische schizophrene Symptome aufgetreten sind.“ Unter anderem kommen folgende Symptome vor: „gelegentlich vorübergehende, quasipsychotische Episoden mit intensiven Illusionen, akustischen oder anderen Halluzinationen und wahnähnlichen Ideen.“ (ICD 10, F21)

Ich folge nun zu diesem Thema den Überlegungen von Edgar Harnack, der den Zusammenhang von diesem „Störungsbild“ und außergewöhnlichen spirituellen Erlebnissen untersucht hat. Er verwehrt sich dagegen, die mit der Diagnose verbundenen Phänomene zu pathologisieren, also als behandlungsbedürftig zu sehen. Statt dessen vertritt er die These, dass eine „pneumophobe” (das Spirituelle fürchtende) Gesellschaft spirituellen oder mystischen Erfahrungen, wie sie Kinder und Jugendliche machen, mit Abwehr und Ausgrenzung reagiert, wodurch sich erst die Störungen bei den betroffenen Menschen entwickeln, die lernen müssen, ihren eigenen Erfahrungen zu misstrauen und damit in Verwirrung geraten.

Denn die Erfahrungen, von denen dabei die Rede ist, sind in allen Kulturen verbreitet und gelten bei Naturvölkern als Anzeichen einer schamanistischen Berufung. In den tribalen Gesellschaften hatten verschiedene Welten ihren selbstverständlichen Platz, und es gab angesehene Mitglieder, die besondere Fähigkeiten hatten, sich zwischen den Welten zu bewegen. Erst die Moderne mit ihrer starken Betonung der Rationalität hat diese Formen einer tribalen Wirklichkeitssicht in den Bereich der Pathologie verbannt und damit Menschen mit besonderen Begabungen krank gemacht.

Ich möchte nun die Überlegungen von Edgar Harnack durch die Einbeziehung der Erkenntnisse der Gehirnforschung erweitern. Bei vielen Phänomenen, die (nach einer typisch linkshemisphärischen Leidenschaft) als Schizotypie klassifiziert werden, kann die Integration der beiden Gehirnhälften nicht der „Norm“ entsprechend abgelaufen sein. Dabei können familiäre Probleme in den ersten Lebensjahren, Bindungsstörungen (z.B. unterschiedliche Bindungsmuster zum Vater und zur Mutter) ebenso eine Rolle spielen wie Folgen des Geburtstraumas (Probleme beim Zusammenwachsen der Fontanelle) und schließlich pränatale Traumatisierungen bis hin zur ersten Zellteilung.

Als Folge können Menschen aufwachsen, deren rechte Hemisphäre ein seltsam anmutendes Eigenleben entfaltet, seltsam für eine gesellschaftlich geprägte Wahrnehmung, die sequentiell und kategorisierend denkt. Und für alles Seltsame werden dann pathologisierende Kategorien entwickelt, wie die der Schizotypie. Dann geht es nicht mehr um innere Erfahrungen und darum, wie diese mit dem Alltagsbewusstsein und den Abläufen der technisierten Gesellschaft verbunden werden können. Statt dessen wird alles, was den engen Normen der Rationalität nicht entspricht, zur Krankheit erklärt.

Wollen wir bei diesem Trend nicht mitmachen, geht es auch darum, dass wir uns in mehr Toleranz und Verständnis üben, wenn wir Menschen begegnen, deren Erlebniswelt und ihre Versprachlichung uns bizarr, abgehoben oder esoterisch erscheinen mag. Wenn wir therapeutisch mit transpersonalen Themen arbeiten, brauchen wir auch das Hintergrundwissen und die Einsicht in Zusammenhänge, damit wir nicht eine Krankheit kurieren oder eine Störung beheben müssen, sondern einem Menschen helfen können, sich selber besser zu verstehen und sich selber mit sich besser zu verständigen sowie einen sicheren Platz in einer nüchternen und harten Realität zu begründen.

Literatur:
Edgar W. Harnack: Außergewöhnliche Wahrnehmungen und schizotype Sprachmuster im Kreislauf von gesellschaftlicher Ursache und Wirkung. Bewusstseinswissenschaften. Transpersonale Psychologie und Psychotherapie. Unabhängige Fachzeitschrift 2/2012, 68 - 78

Webseite von Edgar Harnack: www.transpersonale-psychotherapie.de

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