Szene aus dem Film "Das Boot ist voll" von Markus Imhoof (1981) |
Diese Frage stellen sich viele in diesen Tagen, und die Antworten darauf bestimmen die Wahlergebnisse: das Flüchtlingsthema gilt für die meisten Wähler der Wiener Gemeinderatswahl vom 11.10.2015 (55%) als wesentliche Aufgabe der Politik; 45 % der Wähler waren der Meinung, dass das Land noch mehr Flüchtlinge aufnehmen könne; 50% finden, dass unsere Kapazitäten bereits erschöpft sind. Die Meinungen sind also polarisiert, sie teilen sich auch ziemlich genau auf Grüne-Wähler (die meinen, dass noch mehr Flüchtlinge aufgenommen werden können) und FPÖ-Wähler (die meinen, dass die Grenzen dicht gemacht werden sollten) auf.
Wer oder was entscheidet darüber, wann es genug ist mit der Zuwanderung? Es ist offensichtlich, dass es kein objektives Kriterium gibt, doch wird das kaum irgendwo erwähnt. Wo auch sollte man das ansetzen? Wir sind ein reiches Land, in dem allein mit den Lebensmitteln, die laufend weggeworfen werden, Tausende Menschen ernährt werden können. Wir haben leerstehenden Wohnraum und können auch behelfsmäßige Unterkünfte errichten. Viele Menschen sind bereit, Geld und Güter zu spenden. Der Staat kann seine Gelder locker machen usw. Wenn ein armes und bürgerkriegsgezeichnetes Land wie der Libanon 1-2 Millionen Flüchtlinge aufnehmen kann und nicht untergeht, ist bei uns die Kapazitätsgrenze noch lange nicht absehbar.(Libanon: Einwohnerzahl: 30 % weniger als Österreich, Fläche: 87% weniger als Österreich)
Wo es keine objektiven Kriterien gibt, bestimmen die subjektiven die Meinungen und Diskussionen. Subjektive Kriterien sind von Gefühlen erzeugt, und da machen sich vor allem unterschiedliche Ängste breit, die eben den einen das „Gefühl geben“, dass es eng wird im Land und dass das Boot zu sinken droht oder, wie eine FPÖ-Metapher besagt, dass die Gesellschaft „kippt“ (als wäre die Gesellschaft ein Biotop), während andere „das Gefühl haben“, dass den armen Menschen geholfen werden muss. Bei den einen verstärkt das die Angst, dass sie selber nichts mehr kriegen und „die Fremden“ alles, was wieder bei den anderen die Angst auslöst, dass Notleidende im Stich gelassen werden sollen und sich Feindlichkeit statt Menschlichkeit ausbreitet.
Es scheint offensichtlich, dass in diese Gemengelage der polarisierten Gefühle viele transgenerationale Themen aufgewirbelt werden und mitmischen. Fast jeder Mensch in diesem Land hat den Zweiten Weltkrieg miterlebt, zumindest in den genetischen und epigenetischen Prägungen, die von Eltern, Groß- und Urgroßeltern übertragen werden. Viele haben eine Familiengeschichte von Flucht, Aus- Ein- und Zuwanderung, viele haben auf diese Weise direkt oder indirekt Formen von Fremdenfeindlichkeit und Menschlichkeit erlebt, am eigenen Leib oder in der Generationenübertragung.
In dieser Situation, in der die Gesellschaft durch den Zustrom und Durchstrom von Tausenden Menschen, die nichts oder fast nichts haben, aufgemischt wird, kommen all diese Themen hoch und beeinflussen die eigene Gefühlslandschaft. Da uns jedoch diese Themen und ihre Herkunft kaum bewusst sind, geraten wir in Verwirrung. Diese Verwirrung hat sich inzwischen weit ausgebreitet und treibt die unterschiedlichsten Blüten. Die einen erwarten den entscheidungs- und durchsetzungsmächtigen Politiker, der wieder Klarheit und Sicherheit herstellen wird (wie viele unserer Vorfahren in unserem Land 1938 den Österreicher, der in Deutschland zum starken Mann geworden war, hoffnungsvoll begrüßt haben), die anderen eine offene und hilfsbereite Gesellschaft (wie viele unserer Vorfahren erhofft, vermisst oder erfahren haben) usw.
Es ist klar, dass auf der Grundlage von verwirrten Gefühlen keine sinnvollen Entscheidungen getroffen werden können. Verwirrung führt zu Willkür und Panikreaktionen. Andererseits verfügen wir über keine rationalen Gründe zu sagen: Jetzt, genau jetzt, ist der Punkt erreicht, an dem wir es nicht mehr schaffen. Du darfst noch rein, und du nicht mehr.
Soll sich die gesellschaftliche Gefühlsverwirrung auflösen, bedarf es der inneren und kommunikativen Auseinandersetzung mit diesen Gefühlen und ihren Hintergründen in den eigenen Lebensgeschichten und denen unserer Vorfahren. Erst wenn sich die Gefühle in den Menschen und die Menschen in den Gefühlen verstanden fühlen, können wir der Vernunft wieder mehr Raum geben und menschengerechte Entscheidungen fällen.
Danke, Wilfried, für diesen Beitrag!
AntwortenLöschenFür die wohlwollende Auseinandersetzung mit diesen Gefühlen und inneren Stimmen in Eigenregie habe ich kürzlich eine hilfreiche Methode kennengelernt: "Das innere Team" im Band 3 von "Miteinander Reden" von F. Schulz v. Thun.
Auf S.39-45 wird die mögliche Herkunft dieser zT. auch widersprüchlichen Gefühle an einem Beispiel sehr eindrücklich beschrieben und ist für alle, die schon Erfahrung mit der inneren Arbeit haben, durchaus für das eigene "innere Team" nachzuvollziehen.
Gerade in so drängenden Fragen der Gegenwart finde ich es wichtig, den eigenen Standpunkt zu klären, weil das die Voraussetzung für wirksames Handeln ist.
Und: Aus eigener Erfahrung empfehle ich als wirksames "Mittel" gegen Mangelempfinden und Ängste die Dankbarkeit, das Wertschätzen dessen, was ist.
Liebe Grüße
Elisabeth