Freitag, 24. April 2015

100 Jahre Völkermord

Die schwarzen Flecken auf der historischen Weste sind immer blutige Flecken, und sie haben auch mit schmutzigen Geldspielen zu tun. Das aktuelle Beispiel bietet die türkische Republik, die nach ihrem Belieben gerade die Welt aufteilt in solche, die die Gräueltaten gegen die Armenier im damaligen osmanischen Reich, die vor 100 Jahren begannen, als Völkermord bezeichnen, und jene, die sie als bedauerliche Zwischenfälle in einer Reihe anderer schlimmen Geschichten dieser Zeit betrachten. Auf der einen Seite befindet sich die Weltgesellschaft einschließlich der dafür zuständigen Experten, der wissenschaftlichen Historiker, darunter auch Türken, und auf der anderen Seite das politische Establishment der türkischen Republik einschließlich der Teile der türkischen Bevölkerung, die sich von diesem emotionalisieren lassen.

Es ist also ein reichlich unausgewogenes Verhältnis, vor allem, weil die türkische Seite so wenig in die Waagschale werfen kann. Das Hauptargument ist, dass nicht sein kann, was nicht sein darf. Es darf kein Völkermord gewesen sein, weil damit auch klargestellt würde, dass die Gründungsväter der türkischen Republik als Nachfolger des osmanischen Reiches aus dem Umfeld der Drahtzieher der systematischen Ausrottung der Armenier stammten. Die Wurzeln der türkischen Republik sind also mit armenischem Blut befleckt, und gilt jede kritische Auseinandersetzung mit dem Thema als Beleidigung des Türkentums und steht unter Strafe. Würde die Republik anerkennen, dass ihre Identität zu einem Teil auf der Ausrottung einer Minderheit im eigenen Land beruht, wäre das sehr schmerzhaft (und zugleich sehr mutig). Der andere Grund ist ein banaler: Wäre die Türkei als Rechtsnachfolgerin des osmanischen Reiches dafür verantwortlich, was den Armeniern angetan wurde, müsste sie Schadenersatz leisten, Güter zurückgeben usw., was eine Menge Geld kosten würde. Deshalb ist die aggressive Selbstverteidigung der Türkei die verständliche Reaktion aus dem Gefühl der Bedrohung.

Der Preis der Einigelung und propagandistischen Abschottung ist nicht gering. Es entsteht nicht nur Schaden in den zwischenstaatlichen Beziehungen, es geht nicht nur Vertrauen in die Modernisierungsfähigkeit der türkischen Gesellschaft verloren. Noch schlimmer kann sich die Emotionalisierung auswirken: Die Türken befestigen ihre nationale Identität auf wackeligen Fundamenten gegen den Rest der Welt und fühlen sich scheinheilig als Opfer von falschen Anschuldigungen. Der Rest der Welt, vor allem in vielen europäischen Ländern, in denen vielen Menschen Probleme mit Türken oder dem Türkischen=Islamischen haben, verstärken sich Ressentiments und Aversionen. Gräben werden vertieft, Vorurteile befestigt.

Das Beispiel zeigt die Macht der Geschichte dort, wo sie nicht in ihren Schrecknissen gesehen wird, und folglich Schuld, die nicht anerkannt wird, massiv verdrängt werden muss. Verdrängte Schuld wandelt sich automatisch in Aggression um, Aggression gegen die, die an die Schuld erinnern. Sie sollen zum Schweigen gebracht werden. Dieser einfache psychische Mechanismus, der uns als Individuen ebenso im Griff hat wie Kollektive, entfaltet schnell seine destruktive Macht. Er kann nicht durch Mundhalten außer Kraft gesetzt werden, nicht durch ein schonungsvolles Verschweigen der historischen Tatsachen, weil man doch nicht gute (Wirtschafts- und Militär)Beziehungen aufs Spiel setzen will. Nur der Mut, die schwarzen Flecken zu untersuchen und sich der Verantwortung, die damit verbunden ist, zu stellen, kann aus der Geiselhaft der verdrängten Geschichte befreien.

Die Türkei hat sich in dieser Frage außerhalb der Weltgemeinschaft gestellt. Sie ist nicht der einzige Staat, der eine solche Strategie fährt, aber sie wird hier erwähnt, weil das Beispiel aktuell ist. Jedenfalls hat der österreichische Nationalrat versucht, eine höhere Ebene zu erreichen - wie auch viele andere Gremien in der westlichen Welt. In seiner Erklärung verweist der Nationalrat auf die Mitwisserschaft und damit Mitverantwortung der damaligen österreichisch-ungarischen Regierung. Statt dass die türkische Seite erkennt, dass sie eine Teilung der Schuld entlasten und ermutigen könnte, betoniert sie sich noch tiefer ein.

Die Aufklärung kann nicht mit Gewalt oder Wahrheitsverweigerung aufgehalten werden.  Die Macht der Wissenschaften, die in ihrer Offenheit und Korrigierbarkeit besteht, ist unbarmherzig. Einzelne Wissenschaftler lassen sich ideologisieren oder kaufen, aber nicht die übernationale scientific community. Selbst wenn sich einzelne Staaten und Regierungen von Drohungen der Türkei erpressen lassen, deren schwarze historische Flecken zu verharmlosen, wird die Forschung weitergehen und die Beurteilung der Vorgänge erhärten. Die Verantwortlichen sind benannt, ob ihre Nachfolger das zur Kenntnis nehmen wollen oder nicht.

So mahlen die Räder der Geschichte langsam, wieder einmal viel zu langsam, dennoch mahlen sie sicher.

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