Samstag, 19. Februar 2022

Schamkonflikte in der Kommunikation

In kommunikativen Situationen geschehen immer wieder Beleidigungen, Abwertungen und Geringschätzigkeiten. Eine häufige Form, auf solche Verletzungen zu reagieren, besteht darin, die andere Person zu beschämen. Durch diesen Racheakt soll das, was einem angetan wurde, ausgeglichen werden. Eine Zusatzwaffe besteht darin, die andere Person in einen Schamkonflikt zu verleiten. Mit diesem Akt soll der Ausgleich verdoppelt werden.

 „Du hast das oder jenes getan, was mich verletzt hat. Dafür solltest du dich schämen. Und du solltest dich schämen, dass du ein Mensch bist, der so etwas tut.“

Was läuft hier ab? Die Person, die die Verletzung ausgeübt hat, soll sich erstens für das schämen, was sie einem angetan hat, und zweitens soll sie sich schämen, weil sie sich selber gegenüber untreu geworden ist, sich selber also verraten hat. Mit dem Hinweis auf den inneren Konflikt, den ein derartiges Verhalten auslösen kann, soll die Wirkung der Mitteilung verdoppelt werden und damit soll sichergestellt werden, dass sie ankommt und eine nachhaltige Verhaltensänderung bewirkt. Das ist die Intention, die in jeder Form der doppelten Beschämung enthalten ist: Die Verdopplung der Ladung, damit die Botschaft in jedem Fall tief im Inneren des Adressaten ankommt. Die Hoffnung ist, dass damit eine Wiederholung der Verletzung für immer verhindert werden kann.

Beschämungen sind Lähmungen

Die Schwierigkeit liegt allerdings darin, dass jede Beschämung die betroffene Person in einen handlungsunfähigen Zustand versetzt  und das Denken lähmt. Erst recht wirken sich verdoppelte Beschämungen hemmend und blockierend auf die betroffenen Menschen aus. Manche Menschen reagieren sofort mit einem Gegenangriff, um ihren Hals aus der Beschämungsschlinge herauszuziehen. Damit ist eine Verlängerung und Eskalation des Konflikts programmiert. Diejenigen, die nicht mit dieser Strategie ausgestattet sind, neigen zum Verstummen und Erstarren. Sie wissen nicht weiter. Es braucht dann einige Zeit fürs Auftauen und für das in den Moment Zurückkommen. Das Lernen, das sich die Person, von der die Beschämung ausgeht, wünscht, kann freilich unter diesen Bedingungen nicht stattfinden. 

Erschwerend wirkt in dieser Situation, dass zu dem Phänomen der verdoppelten Scham der Schamkonflikt kommt, den die anklagende Person der angeklagten einflößen möchte. Sie will aus der Reaktion auf die erlittene Verletzung die andere Person in eine innere Spannung versetzen und sie damit auf ihre Widersprüchlichkeit aufmerksam machen, an der sie dann leiden soll. Die Botschaft lautet, dass die Person nicht nur nicht in Ordnung ist, weil sie etwas Verletzendes getan oder gesagt hat (Schamgrund 1), sondern weil sie mit sich selber uneins ist und sich selber untreu geworden ist (Schamgrund 2). 

Der Appell in der Botschaft lautet, sich erstens für die Verletzung zu entschuldigen und zweitens durch die Lösung des inneren Konflikts ein neuer Mensch zu werden. So soll es ausgeschlossen sein, aus diesem Grund hinkünftig verletzend zu wirken. Der erste Appell zielt auf die Wiederherstellung einer gemeinsamen Basis der Gleichrangigkeit. Der zweite nimmt eine pädagogische oder therapeutische Ebene ein, die von einer angemaßten Über- und Unterordnung gekennzeichnet ist. Die eine Person erteilt der anderen ungebeten eine Lernaufgabe, die sie aus der ebenso ungebeten erstellten Diagnose des Schamkonflikts ableitet. Sie gibt die Richtung vor, wie sich die andere Person entwickeln soll, damit sie zukünftig verlässlich der eigenen Erwartungshaltung entspricht.

Solche Kommunikationsmuster in Beziehungen sind immer sensibel für Schamverletzungen: Auf innere Schamkonflikte aufmerksam gemacht zu werden, ist dann beschämend, wenn es mit der Forderung verbunden ist, diese Konflikte gefälligst aufzulösen, weil implizit kommuniziert wird, dass die Person nur dann Achtung und Würde verdient, wenn sie ihren inneren Widerspruch gelöst hat. Damit wird über das Ziel hinausgeschossen, weil vom Verhalten, das einem nicht gefallen hat, auf die Person als ganze geschlossen wird. Es geht dann nicht mehr nur um ein entgleistes, vom Unbewussten gesteuertes und unachtsames Handeln oder Nichthandeln, das einmal passieren kann, sondern um die Täterperson, die in ihrem Sein und in ihrer Würde in Frage gestellt wird.

Es wird dabei auch übersehen, dass innere Schamkonflikte allgegenwärtig sind. Die Abläufe in der kommunikativen Wirklichkeit sind so komplex, dass immer wieder solche Konflikte entstehen. Gerade, wenn sich in Beziehungen Kommunikationsmuster aufgebaut haben, die subtile Formen der Beschämung einsetzen, werden diese Konstellationen stets aufs Neue angefacht. 

Die Rolle der Rache

Angesichts der Mehrschichtigkeit der Beschämung ist es für eine auf diese Weise angesprochene Person schwierig, mit der Scham und der Beschämung zurechtzukommen. Aus der Natur der Sache folgt, dass im Inneren verschiedenen Verarbeitungs- und Reaktionsprozesse abzulaufen beginnen, die bei jedem Menschen unterschiedlich gestaltet sind. Als Resultat entsteht dann die Reaktion, die entweder eine Form des Angriffs oder der Flucht darstellt. Ein Aspekt wird bei jeder Form der Reaktion mitspielen: Die Rache. Denn jede Beschämung wird als Verletzung erlebt, und auf Verletzungen folgen nach der Logik des Unterbewusstseins Racheakte, die die Verletzung ausgleichen sollen. Freilich, wie immer bei der Rache,  findet aber der Ausgleich nur innerpsychisch und dort auch nur oberflächlich statt, während die Spannung im sozialen Zusammenhang bestehen bleibt und die Dynamik, die daraus resultiert, mit hoher Wahrscheinlichkeit zu weiteren Racheaktionen führt. 

Üblicherweise entsteht damit aus jeder rachegespeisten Reaktion auf eine Verletzung ein Interpunktionsmuster nach Paul Watzlawick: Ein Interaktionsprozess, bei dem jeder Beteiligte den jeweils anderen als Urheber der Kette und sich selber als ursprüngliches Opfer erlebt, bei dem aber objektiv betrachtet nicht festgestellt werden kann, wer begonnen hat und wer schuld am Ausbruch des Kettenprozesses ist. Es ist ein Prozess ohne Anfang und ohne Ende. Ein Ausstieg ist nur möglich, wenn es beiden Personen gelingt, die Natur des Prozesses aus einer übergeordneten Perspektive zu verstehen, sodass sie von der Ebene der persönlichen Betroffenheit auf die Ebene der systemischen Betrachtungsweise wechseln. Dabei gilt es, die Verantwortung für das eigene Tun zu übernehmen und Entschuldigungen anzubringen, wo die Grenzen und die Würde der anderen Person verletzt wurden.

Die Wichtigkeit der Ich-Perspektive

Wie können die Fallen der Schamverstrickung in der Kommunikation vermieden werden? Die goldene Regel besagt bekanntlich, Verletzungen aus der Ich-Perspektive mitzuteilen. Es wird dabei die Annahme vermieden, dass das, was verletzt hat, eine für alle Menschen schlimme Untat war, sondern etwas, was einen als der besondere Mensch, der man ist, betroffen hat. Mit dieser Reduktion des Geltungsanspruches fällt auch die Neigung zur Ausweitung der Anklage auf die andere Person, z.B. in der Form der Unterstellung eines Schamkonflikts. Damit wird nur das Verhalten benannt und als Ursache der Verletzung bezeichnet. Es wird nicht die ganze Person angegriffen, was eine Grenzüberschreitung darstellen würde und den Konflikt prolongiert. So aber versteht die andere Person, was ihre Unachtsamkeit war und kann sich leicht entschuldigen. Damit sollte die Sache erledigt sein und Friede und Entspannung in der Beziehung eintreten.

Zum Weiterlesen:
Die Kreativitätsscham und ihre Auflösung
Die verschüchterte und die böse Schwester: Scham und Rache


Montag, 7. Februar 2022

Die Kreativitätsscham und ihre Auflösung

Kreativität ist ein Grundwesenszug des Menschen, also etwas, was uns Menschen erst zu Menschen macht. Wir wollen Neues kennenlernen, erkunden, erforschen und erzeugen. Hinter der Kreativität stecken die Neugier, das Streben nach Veränderung und die Lust am Experimentieren. Wir fühlen uns ganz in unserem Element, wenn wir kreativ sind. Wir sind im Fluss, vergessen oft Raum und Zeit und sind ganz mit dem verbunden, was wir gerade tun.

Wie kann diese wunderbare Gabe mit Scham in Verbindung kommen? Die Wurzel liegt, wie so oft, in der Kindheit. Die Eltern oder Erziehungspersonen sind nicht immer glücklich mit der Kreativität ihrer Kinder. Es ist nur mäßig lustig, wenn plötzlich die weiße Wohnzimmerwand bemalt und bekritzelt ist oder das Küchengeschirr im Badezimmer aufeinander gestapelt vorgefunden wird. Der kreative Ausdruck braucht auch Grenzen, und das Respektieren der Bedürfnisse der Mitmenschen gehört zum normalen Lernen der Kinder.

Wenn aber die kreativen Experimente der Kinder auf keine oder auf eine vorwiegend ablehnende Resonanz bei den Eltern stoßen und das immer wieder passiert, dann entwickelt sich bei den Kleinen die Kreativitätsscham: „Ich bin nicht in Ordnung, wenn ich kreativ bin.“ „Ich enttäusche oder langweile meine Eltern mit dem, was mir so viel Freude gemacht hat.“ „Die Freude an meinen eigenen Schöpfungen und Entdeckungen ist nicht angebracht.“ 

Kreativität und Schamkonflikt

Die Kreativitätsscham erzeugt einen inneren Zwiespalt: Zwei mächtige Kräfte, der Drang nach Kreativität und Selbstentfaltung sowie der Wunsch, akzeptiert und geliebt zu werden, stehen im Widerstreit. Es handelt sich also um eine Form des Grundkonflikts zwischen Autonomie und Bindung. Er ist in diesem Zusammenhang auch ein Konflikt zwischen Abenteuer und Anpassung oder zwischen Neugier und Einschränkung. 

Obsiegt die Anpassung an die Wünsche und Bedürfnisse der Eltern, so muss das Streben nach kreativem Ausdruck blockiert werden. Die Scham hilft dabei. Sie macht darauf aufmerksam, dass das Ausleben der eigenen schöpferischen Impulse riskant ist und mit Liebesentzug, Schelte oder Ablehnung bestraft werden könnte. Im Inneren wird Kreativität mit Gefahr und Ablehnung assoziiert und geht in der Folge mit einem schlechten Gewissen einher.

Oft legt sich eine Rationalisierung über die Scham, die besagt: „Verschwende deine Zeit nicht mit kindischen Spielereien, sondern mach deine Arbeit, die du machen musst, auch wenn sie dir keine Freude macht.“ Viele Menschen, die in ungeliebten Jobs festhängen und sich keine Alternative dazu vorstellen können, leiden an dieser Scham vor ihrer eigenen Kreativität. Sie glauben, dass sie zu ihrem Unglück verurteilt sind und fühlen sich unfähig, Möglichkeiten zu erproben, wie sie aus diesem Gefängnis herausfinden könnten. Sie halten sich für weniger originell, weniger ideenreich und kreativ als ihre Mitmenschen, die sie dafür beneiden. Sie orientieren sich an anderen in dem, was sie denken, reden und fühlen. Sie misstrauen ihren eigenen Fähigkeiten und unterschätzen sie und stellen gerne das eigene Licht unter den Scheffel. 

Diese Menschen wurden in ihrer Kindheit in der Entdeckerfreude beschnitten und sie haben dann diese Beschränktheit zu ihrer zweiten Natur gemacht. Sie haben das Selbstvertrauen in die eigenen schöpferischen Kräfte verloren und zweifeln ihre Begabungen an oder lassen sie verkümmern. Sie denken, dass Kreativität nur besonderen, begnadeten Menschen gegeben ist und dass sie in ihrer Durchschnittlichkeit und Unbegabtheit nichts Neues zustande bringen könnten. Sie messen sich oft an unerreichbaren Vorbildern, nur um sich zu bestätigen, dass sie zu nichts geeignet sind und deshalb auch die Finger vor eigenen kreativen Versuchen lassen sollten, um sich nicht zu blamieren. „Ich kann ja nicht singen.“ „Ich kann ja nicht malen.“ „Ich kann ja nicht schreiben.“ So versuchen sie ihre Umgebung und sich selbst von den eigenen mangelnden Fähigkeiten zu überzeugen.

Das Menschenrecht auf Kreativität

Erst das Wiederfinden des Zugangs zum inneren Kind, das in seinem Expansionsdrang verletzt und eingegrenzt wurde, ermöglicht das Wiederbeleben der Freude am Neuen, das Wundern an der Vielfalt, das Genießen des schöpferischen Flusses. Jeder Mensch ist in seiner Weise kreativ, und das Erschließen und Entfalten der eigenen Kreativität ist ein Grundrecht, das wir uns zurückholen können und sollen, wenn es uns abhandengekommen ist. Denn das Erschaffen eigener Einsichten, eigener  Ideen und eigener Werke ist ein Beitrag zur Bereicherung der Welt und zur Erweiterung der Möglichkeiten, die die Menschheit hat. Jeder neue Ansatz verändert die Wirklichkeit und bietet den Anlass für weitere Veränderungen, die von einem selbst kommen oder von anderen aufgegriffen werden. Jeder kreative Schaffensakt enthält die Inspiration für weitere Schöpfungen. 

Kreative Menschen sind glücklich, weil sie im kreativen Handeln ganz mit sich und mit der schöpferischen Energie verbunden sind, die durch sie hindurch wirksam wird. Dieses Glück steht allen Menschen zu. Deshalb ist es so wichtig, den Bann der Kreativitätsscham zu durchbrechen und an die eigenen kreativen Fähigkeiten zu glauben.

Zum Weiterlesen:
Reaktive und kreative Lebensorientierung
Kreativitätshemmungen und ihre Lösung
Über die Einzigartigkeit


Montag, 24. Januar 2022

In der Welt der Wahrscheinlichkeiten

Was sollen wir mit Wahrscheinlichkeiten? Wir wollen genau wissen, was auf uns zukommt. Wir wissen z.B., dass wir durch eine Corona-Impfung wahrscheinlich besser aussteigen als ohne: Wir haben ein geringeres Ansteckungsrisiko und Aussichten auf einen leichteren Verlauf der Krankheit, außerdem sind die Impfrisiken niedriger als die Erkrankungsrisiken. Alles spricht also fürs Impfen, und dennoch sagen viele, dass sie die Impfung für riskanter einschätzen als eine mögliche Erkrankung. Sie vertrauen also nicht auf die Wahrscheinlichkeitsberechungen, sondern auf andere, subjektive Abschätzungen der Risiken, in die sie selektiv ausgewählte Informationen, die die eigene Position stärken, einfließen lassen.  

Jede Wahrscheinlichkeitsberechnung enthält einen Unsicherheitsbereich. Auch wenn 98% von einer Methode profitieren, könnte ich unter den 2% sein, denen sie nicht hilft. Wir hätten gerne die absolute Sicherheit zu allem, was uns selber und unsere Zukunft anbetrifft. Nur kann uns die Wissenschaft diese Sicherheit nicht bieten, sondern nur Wahrscheinlichkeiten. So stehen wir immer wieder vor Entscheidungen ohne ausreichende Absicherung. Wir sollten uns einer Operation unterziehen und werden über die möglichen Risiken aufgeklärt und spüren die Angst vor ungewissen Folgen. Zugleich hoffen wir auf Besserung. Wir brauchen den Mut zum Risiko und müssen uns letztlich auf uns selber verlassen und die Verantwortung für die Entscheidung übernehmen. 

Unschärfen und Ambivalenzen 

Wir befinden uns in der Welt des Relativen, in der es keine absoluten Sicherheiten und Wahrheiten gibt. Aus der Welt der Quantenphysik wissen wir um die Unschärfe und Ambivalenz, die im Grundgefüge unseres Universums wirksam ist. Nicht einmal die Grundbausteine der Welt verhalten sich verlässlich und berechenbar. Auch hier gelten Wahrscheinlichkeiten. Das war die große Enttäuschung, die mit den physikalischen Entdeckungen in den frühen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts einhergeht. Die Hoffnung auf ein durchgängiges physikalisches Modell, das auf der Gravitation beruht und alle Phänomene berechenbar macht, ist gescheitert. Andererseits wissen wir jetzt, dass dieses wunderbare Universum trotz oder wegen dieser Grundunsicherheiten entstanden ist und weiterbesteht. 

Die Probleme, die uns die Wahrscheinlichkeit auferlegt, erinnern an die grundsätzliche Unsicherheit , die wir alle mit unserem Leben haben. Wir suchen nach Sicherheiten, die es in dem Grad nicht gibt, wie wir es brauchen würden, um uns ganz angstfrei fühlen zu können. Relative Sicherheiten sind auch relative Unsicherheiten. Die Wahrscheinlichkeit macht uns nur darauf aufmerksam, wie Sicherheiten im relativen Bereich beschaffen sein können. Sie sind an ihren Rändern immer mit Unsicherheiten behaftet. Viele der menschlichen Anstrengungen im Lauf der Geschichte bestehen in nichts anderem, als diese Unsicherheiten zu reduzieren. Doch die Hoffnung, dass diese Fahnenstange ein Ende hätte, ist illusorisch.  

Wir brauchen nur an das aktuelle Virus denken, das uns verschmitzt daran erinnert, auf welch unsicheren Beinen unsere Existenz ruht. Niemand hätte vor etwas mehr als zwei Jahren geahnt, in welche Unsicherheiten diese Entwicklung die gesamte Menschheit stürzen wird. Wir alle waren stolz auf die moderne Wissenschaft und Medizin und dazu noch auf all die alternativen Heilwege, die uns so viel Sicherheit in gesundheitlichen Belangen versprochen haben. Und doch zeigt sich, dass es bei all dem, was wir wissen, genauso vieles nicht wissen. Bei allem Zuwachs an Wissen wächst zugleich die Einsicht in das, was wir nicht wissen, mit. Gewissermaßen wissen wir immer so viel, wie wir nicht wissen, wobei nicht einmal das sicher ist. 

Es ist Teil der systemischen Vernunft, aus Beschränktheiten in Folge der Begrenztheit des menschlichen Erkennens Vorzüge zu gewinnen. Die Allgegenwart der Wahrscheinlichkeit, die uns ein fortwährendes Abwägen aufbürdet, verhilft uns zu einem Wirklichkeitsverständnis, das in der Relativität des Erkennens und Wissens gründet. Die Einsicht in die Vorläufigkeit und Korrigierbarkeit jeder Einflussnahme auf die Wirklichkeit verschafft dem menschlichen Geist mehr Flexibilität und öffnet mehr Möglichkeiten für das Handeln. Wir üben uns in Unsicherheitstoleranz.

Zwischen Wahrscheinlichkeiten und Ängsten 


Häufig oszillieren wir zwischen den Zahlen und den Gefühlen hin und her, zwischen Wahrscheinlichkeiten und Ängsten. Wir befürchten z.B., dass wir die Person sind, die aus einer Million Geimpfter diese oder jene schlimme Nebenwirkung erleiden muss, oder dass wir die Person sind, die aus ein paar Tausenden Ungeimpfter an Covid sterben muss. Wir hoffen, dass wir mit drei Impfungen davonkommen oder dass uns das Virus übersieht, obwohl oder gerade weil wir nicht geimpft sind. Wir setzen auf unser Immunsystem, im einen Fall dass es die Impfungen gut verkraftet und durch sie unangreifbar wird, im anderen Fall dass es ohne zusätzlichen Anreiz vor jedem Virenbefall schützt. Wir fürchten und hoffen alles Mögliche, und nichts bietet uns eine endgültige Sicherheit. 

Das einzige Hilfsmittel gegen die Unsicherheiten liegt in der Konfrontation mit den Ängsten, die hinter unserem Drang nach absoluter Sicherheit stecken. Die Ängste sind Reaktionen unseres Gehirns und Nervensystems auf äußere Unsicherheiten, die sich mit früheren Bedrohungen unseres Lebens auf einer unbewussten Ebene verbinden und von ihnen verstärkt werden. Wenn es uns gelingt, die Ängste in uns zu beruhigen und in ihren Wurzelsituationen, also in unserer Frühgeschichte zu befrieden, dann wächst unser inneres Vertrauen, sodass wir auch in Situationen der Unsicherheit handlungsfähig bleiben. 

Auf dieser Basis können wir die Einsicht nutzen, dass wir keine richtigen oder falschen Entscheidungen treffen können, sondern nur solche, die für uns selber und für die sozialen Zusammenhänge, in denen wir stehen, im Moment angemessen und vertretbar erscheinen. Unsere Entscheidungen sind der selben Ungewissheit unterworfen wie alle anderen Vorgänge in der Wirklichkeit. Wir verfügen nur über Wahrscheinlichkeitsabschätzungen und nicht über absolute Sicherheiten. Befreit von der bedrängenden und dominierenden Macht der Gefühle können wir all die anderen Areale unseres Gehirns oder Bewusstseins aktivieren, die uns ihre Informationen und Einsichten für das Entscheiden zur Verfügung stellen. Wir denken dann bei unseren Entscheidungen nicht mehr nur an uns selbst und an unser subjektives Überleben, sondern auch an all die anderen und deren Überleben. 

Die Konfrontation mit der Endlichkeit 


Es ist die Konfrontation mit unserer Sterblichkeit, unserer Endlichkeit, die sich in jeder Unsicherheit äußert. Unser Drang nach Sicherheit ist im Grund ein Drang nach Unsterblichkeit, die uns allerdings nicht zusteht. Es ist ein kostbares Element des Menschseins, das im Geheimnis des Todes steckt. Denn der Tod gibt dem Leben erst seine tiefste Bedeutung. In der Bescheidenheit und Selbstbeschränkung, die angesichts der Unausweichlichkeit des Todes auftreten, findet der Mensch zu sich selbst. Nicht die Überheblichkeit, die im Streben nach absoluter Sicherheit enthalten ist, sondern im Eingeständnis der eigenen Begrenztheit und im Annehmen der Ängste, die damit verbunden sind, liegt das menschliche Maß. 

Die Bewusstheit über die eigene Endlichkeit und ihre Unausweichlichkeit führt uns aus der Enge der Selbstbezogenheit heraus, in die uns unsere Ängste einsperren. Wir öffnen uns für die Ängste und Bedürfnisse der anderen Menschen, anstatt nur an die Absicherung des eigenen Überlebens zu denken. Wir bedenken mit, welche Auswirkungen unsere Entscheidungen auf unsere Mitmenschen haben. Außerdem können wir den größeren Horizont miteinschließen, der die Natur umfasst. 

Das Virus als Lehrmeister der Endlichkeit 


Auch wenn uns das Virus in einer Hinsicht dazu zwingt, Masken zu tragen, demaskiert es uns in anderen Hinsicht: Es reißt uns die Maske von Sicherheit und Gewissheit weg, die uns unsere vermeintlichen Fortschritte zu immer mehr Macht und Glück vorgegaukelt hat. Wir können nicht länger an den Illusionen festhalten, alles unter Kontrolle zu haben, bzw. alles unter Kontrolle zu kriegen. Selbst wenn wir uns an windige Theorien anhängen, die uns scheinbar Sicherheit geben, weil sie die Bösewichter, die hinter den Verunsicherungen stecken sollen, namhaft machen wollen, erinnert uns das Virus dauernd daran, dass uns keine Theorie sicherer machen kann. Sicherheit gibt es nur im Seelenfrieden, der in der bedingungslosen Akzeptanz der eigenen Sterblichkeit besteht. 

Zum Weiterlesen:

Vom Anfang des Universums zum Nichtwissen
Akzeptieren, was ist: Leben und Tod
Das spielerische Universum


Freitag, 21. Januar 2022

Vom Anfang des Universums zum Nichtwissen

Welchen Sinn macht es, wenn wir uns mit dem Anfang des Universums beschäftigen, außer, wir sind Physiker oder Kosmologen, deren Beruf und Berufung darin besteht, diese Anfänge zu erforschen? Ich möchte hier einen Aspekt näher beleuchten, der für unser Selbst- und Weltverständnis von Bedeutung ist: Die Frage nach der Existenz eines Schöpfergottes. 

Am Anfang war der Urknall, so wissen wir es seit geraumer Zeit, und fragen gerne keck, was denn davor war, schließlich muss es ja etwas gegeben haben, was da geknallt hat. Mit der Frage haben wir allerdings ignoriert, was die Physiker, die auf den Urknall gekommen sind, dazu herausgefunden haben: Mit diesem Ereignis beginnt das Universum, und mit dem Universum beginnen Raum und Zeit. Wir sind es gewohnt, dass jedem Krach eine Ursache zugrundeliegt – die Nachbarn haben Streit, jemand hat sein Handy nicht auf lautlos gestellt, usw. Überhaupt alles, was passiert hat, ein Vorher und ein Nachher, wir sind gar nicht in der Lage, uns irgendetwas als zeitlos oder als unverursacht vorzustellen.  

Unsere Wahrnehmung, unsere Vorstellungen, unser Handeln – alles ist in Raum und Zeit, wie auch der Körper, mit dem und durch den das alles abläuft, in Raum und Zeit existiert, als dreidimensionales Gebilde mit einer Geschichte. Deshalb ist die Frage nach der Ursache des Urknalls verständlich; sie stammt aber aus den Gewohnheiten eines Lebens in Raum und Zeit; bezogen auf die Anfänge führt sie allerdings ins Leere und bringt uns dazu, die Grenzen unseres Existierens anzuerkennen. Wir sind gewissermaßen eingesperrt in Raum und Zeit. Was darüber hinausgeht, ist nur mit Hilfe von mathematischen Modellen darstellbar. Jede Vorstellung oder Idee, die wir uns von Raum- und Zeitlosigkeit bilden, ist eine raum-zeitliche Vorstellung oder Idee, von der wir versuchen, das Raum-Zeitliche wegzudenken oder wegzuhalluzinieren, aber das alles passiert in Raum und Zeit. Wir kommen aus diesem Rahmen nicht heraus, weil wir ihn überall mithaben, wo immer wir unterwegs sind: Im Spüren, Fühlen, Vorstellen, Denken, Intuieren usw.   

Es gibt also einen absoluten Anfang des Universums, der vor ca. 13,8 Milliarden Jahren das Universum „aus dem Nichts“ entstehen ließ. Wohlgemerkt: Auch dieses Nichts ist eine abstrakte Idee unseres raum-zeitlich geprägten Denkens. Wir können weder wissen noch verstehen, was “vor” dem Urknall war, weil es kein Vorher gibt. Denn jedes Vorher erfordert Zeit, die es da noch nicht gegeben hat. Weil wir in diesem Universum entstanden sind, sind wir raum-zeitliche Wesen, deren Erleben untrennbar an diesen Rahmen gebunden ist. 

Seither gibt es Raum und Zeit, seither dehnt sich das Universum aus und schafft immer mehr Raum, während die Zeit weitergeht, solange dieses Universum noch besteht. 

Unser raum-zeitliches Gehirn

Mit unserem Gehirn sind wir in der Lage zu abstrahieren, uns also von der sinnlich wahrgenommenen Wirklichkeit zu lösen und Allgemeinbegriffe zu bilden. So bezeichnet z.B. das Wort „Idee“ etwas, das wir nicht in unserer Umgebung irgendwo finden können, sondern das als Realität in unserem Kopf existiert. Auch wenn eine Idee scheinbar keinen Raum einnimmt, gibt es sie nur, weil wir über ein räumliches Gehirn verfügen. Außerdem hat sie nur insoweit Bedeutung, als sie Auswirkungen auf das Leben im Raum hat. Alle Allgemeinbegriffe sind also raum-zeitliche Konstruktionen. 

Mit unserem Gehirn sind wir weiters in der Lage zu verneinen. Wir können also vor alles, was wir denken, ein Nicht- stellen, und schon ist es negiert. Da wir über diesen Denkmechanismus verfügen, sind wir übrigens in der Lage, die Anfänge des Universums zu verstehen, wofür wir die Begriffe von positiver und negativer Energie benötigen. Die Verneinung, die wir im Denken vornehmen, ist wiederum nur dann wirkungsvoll, wenn sie sich auf die Realität auswirkt.  

Universelle Gesetze 

Die universelle Geltung der Naturgesetze, also im Universum geltend. Das Universum verhält sich gesetzeskonform, bzw. sind die Gesetze das, was die Menschen an Regelmäßigkeiten berechnen und entdecken konnten und was durch Vorhersagen, die dann eintreffen, bewiesen werden kann. Die Entwicklung des Universums ab seinem Anfang hat eine Folgerichtigkeit, die es erlauben, Schlüsse auf die weitere Entwicklung zu ziehen. Die Entwicklung des Universums ab seinem Anfang hat sich nach diesen Richtlinien verhalten. Oder, umgekehrt betrachtet, konnten die Forscher herausfinden, welche Richtlinien im Universum gelten, sodass die Abläufe nach- und vorausberechnet werden können. Zu diesen Regeln zählen neben der Gravitation die Relativitätstheorie und die Quantenmechanik. Es fehlen der Physik noch ein paar Bausteine, um alle Phänomene in mathematische Modelle einordnen zu können und zu verstehen. Nach all den Fortschritten in den letzten hundert Jahren scheint es nicht mehr allzu lange zu dauern, bis alle wichtigen Puzzlesteine für ein geschlossenes physikalisches Weltmodell gefunden sind. 

Die Fragen nach der Funktionsweise des Universums kommen aus unserem Verstand, der eben verstehen und erklären will, um die Angst vor dem Unbekannten zu bannen. Die kosmologischen Fragen haben als Folge der Forschungen genialer Menschen weitgehend zufriedenstellende Antworten erhalten. Wie die Welt funktioniert, wissen wir in den Dimensionen, die die Physik untersucht, sehr umfassend. Unser Verstand kann also froh sein und die Arbeit der Wissenschaftler bewundern. 

Der Luxus eines Schöpfergottes

Wir können verstehen, warum die Physiker keinen Schöpfergott mehr brauchen, wie er z.B. im Alten Testament beschrieben wurde. Er ist ein Luxus, entsprungen der Fantasie unseres Verstandes. Er kann nichts zum weiteren Verständnis der Welt oder zu deren Weiterbestehen beitragen. 

Der Schöpfergott wäre nichts anderes als ein Exekutor der Gesetze, die ohne ihn auch bestehen. Er hätte höchstens die Freiheit, eine andere Welt nach anderen Gesetzen zu schaffen, aber müsste sich dann wieder genauso daran halten. Für den menschlichen Verstand, der verstanden hat, was es bei diesen Abläufen zu verstehen gibt, der die Logik nachvollziehen kann und der daraus Schlüsse für die Zukunft ziehen kann, die dann überprüft werden können, ist keine weitere Instanz notwendig, die da sagt: „Aber das habe alles Ich gemacht.“  

Jeder ist frei, eine solche Instanz einzuführen und an sie zu glauben, wie es auch freisteht, an andere Schöpfungsmythen als den biblischen zu glauben. Es bleibt aber nichts als eine reine Glaubensentscheidung, die einen Schöpfergott einführt und ihm eine Existenz zuspricht. Und ein Gott, dessen Existenz vom Glauben von Menschen abhängt, ist ein Widerspruch in sich. 

Schon Immanuel Kant, der als erster die Beschränktheit der menschlichen Erkenntnis in ihrer ganzen Tragweite untersucht hat, hat den Schöpfergott weggekürzt, weil die Annahme seiner Existenz in unlösbare Antinomien der menschlichen Vernunft verstrickt. Er konnte dann noch Gott als Postulat der praktischen Vernunft, also als Garanten einer moralischen Ordnung unter den Menschen für unverzichtbar erklären. In theoretischer Hinsicht hingegen, also was die Fassenskraft des Denkens anbelangt, bleibt es nach Kant unentscheidbar, ob ein absolutes Wesen existiert oder nicht; es lassen sich Gründe dafür wie dagegen finden. Damit wurde einem intellektuellen Zugang zum Beweisen der göttlichen Existenz ein Riegel vorgeschoben. 240 Jahre später können wir aus den Erkenntnissen der modernen Physik ableiten, dass wir ein solches Wesen für die Entschlüsselung und das Nachvollziehen der Grundgesetze des Universums nicht brauchen und dass es zum Verstehen der Welt nichts beiträgt. 

Die Rücknahme der Verantwortung

Es scheint zwar, dass es menschlichen Sehnsüchten entspricht, ein übermächtiges Wesen hinter den Abläufen des Universums anzunehmen. Oft fühlen wir uns hilflos und ohnmächtig angesichts der Herausforderungen des Lebens und wünschen uns eine allmächtige Figur, die uns beisteht. Diese Vorstellung hilft unserem Bedürfnis nach Sicherheit und erlaubt uns, nicht ganz erwachsen werden zu müssen. Ein Teil der Verantwortung für die misslungenen Ereignisse in unserem Leben und in der Menschheitsgeschichte lassen sich auf diesen Gott überwälzen. Wir können uns ausreden auf unsere Inkompetenzen, Schwächen und Bequemlichkeiten. 

Ohne Schöpfergott im Rücken, als Backup und Notnagel für die Härtefälle unseres Lebens sind wir hingegen ganz auf uns alleine gestellt. Wir müssen die Verantwortung für dieses Universum mit aller Kraft, mit Engagement und mit Mut für die Konsequenzen auf unsere Schultern nehmen. Es liegt an uns als Menschheit, ob wir es schaffen, unseren Heimatplaneten so zu verwalten und zu gestalten, dass er uns weiterhin als Heimat dienen kann, oder ob wir uns selbst ein vorgezogenes Ende antun, indem wir im Jetzt die Ressourcen verbrauchen, die für unser Überleben in der Zukunft notwendig sind. Auch in dieser Problematik ist ein Schöpfergott keine Hilfe; wir wissen es ohnehin, wie es steht, und wir wissen auch, was zu tun wäre. Unser Handeln auf Nachhaltigkeit umzustellen können nur wir selber. Ein Gott würde höchstens den Rat geben: Mach, was gut ist für die Menschen und für das Universum. Also nichts Neues, nichts, was wir selber nicht schon wüssten. 

Die Tür zum Nichts

Die Frage nach den Ursprüngen des Universums wirft uns ganz auf uns selber zurück. Wir entkommen der Beschränktheit nicht, die in diesem Universum grundgelegt ist. Wir sind den universellen Gesetzen vollständig unterworfen, auch wenn wir sie entschlüsselt und technisch in vielen Bereichen handhabbar gemacht haben. Diese Gesetze legen auch fest, dass wir sterblich sind, als Individuen und als Menschengattung, als Natur und als Universum. Was aus dem Nichts” entstanden ist, geht ins Nichts” zurück, ohne eine Spur zu hinterlassen. 

Das Akzeptieren dieser Endlichkeit und Begrenztheit bringt uns freilich an eine Tür, die zu öffnen riskant ist: Sie ist nämlich eine Falltür. Hinter ihr befindet sich ein Nichts, denn sie führt uns ins Jenseits des Begreifens und Verstehens, ins Jenseits der Worte und Zahlen, in einem Bereich, über den und in dem wir keine Kontrolle haben. Wir verstehen plötzlich, dass es nichts zu verstehen gibt, dass es nichts zu erklären gibt, sondern dass alles so ist, wie es ist. Wir haben keine Fragen mehr und brauchen keine Antworten.  

Wir sind im Bereich der Weisheit, von wo Lao Tzu zu uns spricht: 

Der Mensch richtet sich nach der Erde. 
Die Erde richtet sich nach dem Himmel. 
Der Himmel richtet sich nach dem Sinn. 
Der Sinn richtet sich nach sich selber. 
(Tao Te King 25) 

Zum Weiterlesen:
Letzte Fragen ohne Antwort
Der Anfang der Welt und das spekulative Denken
Das spielerische Universum


Mittwoch, 12. Januar 2022

Geld, das Symbol der Autarkiescham

Die Scham, die damit verbunden ist, das eigene Leben aus eigenen Kräften schaffen zu müssen, heißt Autarkiescham. Sie drückt sich in dem Glaubensprogramm aus, nichts wert zu sein, wenn man es alleine nicht schafft. 

Die Verfügung über Geld ist ein Symbol oder sogar Synonym für Freiheit und Autarkie in unserer Gesellschaft. Geld öffnet alle Türen und ist der Schlüssel für den Zugang zu wichtigen Ressourcen, die wir zum Überleben und leben benötigen. Wenn wir kein Geld haben, brauchen wir jemanden, der uns erhält oder der uns Geld gibt. Ohne Geld sind wir also abhängig vom Wohlwollen von anderen und können uns selbst nicht erhalten.

In unserer Gesellschaft wird deshalb auch der Wert eines Menschen in den meisten Alltagsabläufen über Geld definiert, und das geht bis zur Frage der Überlebensberechtigung: Wer genug davon hat, kommt überall durch, wer mehr als genug davon hat, kann sich Luxus leisten, wer nicht genug davon hat, muss im Mangel leben, und wer nichts davon hat, muss darum betteln, um überleben zu können. Bettler erinnern uns an den schamvollen Zustand, der entsteht, wenn wir ohne Geld sind; Bettler werden aus manchen Städten vertrieben, weil sie uns darauf aufmerksam machen, an welch dünnem Faden unsere eigene wirtschaftliche Existenz hängt. Wir wollen nicht sehen, wie abhängig wir sind. Und wir wollen nicht sehen, wie ungerecht die Ressourcen und der Zugang zu Geldquellen in der Welt verteilt sind. Außerdem wollen wir die eigene Scham nicht spüren, die uns befällt, wenn wir Unseresgleichen im Elend sehen.

Der Mangel an Geld beschämt

Die Autarkiescham ist wie von selbst und unweigerlich aktiv, sobald ein Mangel an Geld auftritt. Wir fühlen uns weniger wert, so als würden wir zu einer minderen Klasse von Menschen gehören. Alle anderen sind autark, sie können sich leisten, was sie brauchen und wollen, wir selber müssen uns einschränken und sind im äußersten Fall abhängig von Almosen, also von der Willkür der Vermögenden.

Diese Schamform wirkt ins Sozialsystem hinein, das deshalb geschaffen wurde, um die Existenz möglichst vieler Mitglieder der Gesellschaft abzusichern und auch jenen, die es nicht schaffen, sich selbst zu erhalten, oder die ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen können, noch einen Notgroschen zukommen zu lassen. Das Überleben soll für alle auf einem untersten Niveau garantiert werden. Doch sollten sich jene, die „der Allgemeinheit auf der Tasche liegen“, dafür schämen, denn die Scham könnte sie motivieren, sich aus der Not herauszuziehen. Verstärkt wird die Schambelastung dadurch, dass die anderen, die genug haben, auf sie mitleidig und verächtlich herabschauen. Es ist also eine beschämende und beschämte Situation, kein Geld selbst zu erwirtschaften und von mehr oder weniger gnadenhalber gewährten Zuwendungen abhängig zu sein.

Selbst Arbeitslose leiden unter dieser Scham. Zwar handelt es sich theoretisch um einen Versicherungsvorgang: In die Arbeitslosenversicherung einbezahltes Geld wird im schlagenden Fall zurückgezahlt. Aber viele davon Betroffene reagieren mit Schuld- und Schamgefühlen, die immun gegen die rationale Einsicht sind, dass einem das Arbeitslosengeld zusteht und keine Gnadengabe ist. Sie haben das Existenzsymbol der kapitalistischen Gesellschaft internalisiert: Existieren darf, wer genug Geld hat, um es sich leisten zu können. Existieren darf, wer sich selbstständig die notwendige Menge Geld erwirtschaften kann. Wer das nicht schafft, ist es zwar noch wert, am Leben erhalten zu werden, zumindest dort, wo es einen Sozialstaat gibt. Aber er soll sich dafür schämen. Diese Schamverordnung hat den Zweck, einen Druck zu erzeugen, der die Betroffenen dazu zwingen soll, sich „zusammenzureißen“ und wieder zu wirtschaftlich wertvollen Elementen der Gesellschaft zu werden.

Wenn wir Glück hatten, spielte die Autarkiescham keine Rolle in der frühen Kindheit. Wir sind mit dem Grundgefühl aufgewachsen, dass die Grundbedürfnisse abgedeckt sind: Nahrung, Kleidung, Wohnung usw. sind einfach da. Unter anderen, prekären Umständen ist diese Schamform von Anfang an da: Ein Kind wird geboren, und die Eltern wissen nicht, wie sie es wirtschaftlich schaffen sollen. Das Kind spürt die Ängste und Sorgen der Eltern und fühlt auch, dass es dafür verantwortlich ist. Es schämt sich dafür, dass es da ist und die Nöte der Eltern verursacht, was eine Form der Urscham darstellt. Außerdem wird die Grundlage gelegt, dass sich, sobald ein Verständnis für Geld und seine Macht entwickelt ist, die Autarkiescham einstellt. Sie ist also häufig eine Ableitung aus einer Existenzscham, indem Existenz und Geldbesitz gleichgestellt werden, eine Gleichung, die zu den Leitlinien des kapitalistischen Systems gehört. 

Selbst wenn unsere Anfänge frei von Existenzängsten und Versorgungssorgen waren, kann die Autarkiescham in Verbindung mit dem Geld später auftreten. Kinder sammeln häufig die ersten Erfahrungen mit der Bedeutung des Geldes, wenn sie Taschengeld bekommen. Sie fangen dann an, ihren Geldbesitz mit dem ihrer Kolleginnen im Kindergarten und in der Schule zu vergleichen. Diese Vergleiche bringen entweder Stolz oder Scham im Schlepptau mit sich: Stolz, wenn der Anschein entsteht, finanziell besser dazustehen als andere Kinder, und Scham, wenn es umgekehrt ist. 

So wachsen die Kinder in eine Gesellschaft hinein, in der der finanzielle Status einen wichtigen bis ausschlaggebenden Anteil am Selbstwert verkörpert. Die Lebens- und Entfaltungschancen werden nach diesem Maßstab bemessen, und wer hier schlecht abschneidet, kommt schwerlich ohne Schamgefühle damit zurecht. Das Leistenmüssen wird zum Antrieb, um diesen unangenehmen Gefühlen zu entrinnen, und führt in vielen Fällen zur Selbstausbeutung, getrieben von Versagensängsten.

Die vielen Burnout-Erkrankungen, die vielen psychosomatischen Erkrankungen und die vielen depressiven Störungen, die zu unrühmlichen Kennzeichen der modernen Welt geworden sind, treten als Folge des inneren Drucks auf, der durch die Autarkiescham ausgelöst wird. Wir sollten uns gegenseitig darin bestärken, dass der Wert von Menschen nicht über Geld definiert werden darf, und wir sollten uns dafür einsetzen, dass die wirtschaftlichen Verhältnisse so gestaltet werden, dass niemand durch den Rost fallen und in eine schamvolle Armut geraten kann. Wir können selber nur schamfrei in einer Gesellschaft leben, in der alle genug zum Auskommen haben. Es ist ein zentraler Teil der Menschenwürde, ohne Existenzängste ein gutes Leben führen zu können.

Dienstag, 11. Januar 2022

Verschwörungstheorien und Normalitätsscham

Auch wenn es schon lange Verschwörungstheorien gibt und sie immer wieder einen mächtigen Einfluss auf die Gesellschaft und Geschichte ausgeübt haben – ich denke hier nur an die vielen Mythen, die zum Zweck der Entfachung der Judenfeindschaft seit dem Mittelalter erfunden wurden –, stehen wir doch in letzter Zeit in Zusammenhang mit der Pandemie stark im Bann dieses Phänomens. Was sich in der Debatte um den Klimaschutz und um die Regierungsführung des US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump geoffenbart hat, wurde seit der Ausbreitung des Corona-Virus mittlerweile zum allgegenwärtigen Diskussionsthema. Denn ein Großteil der Gespräche, die die Menschen führen, dreht sich um die Pandemie, und dabei ist es kaum mehr möglich, Inhalte, die aus dubiosen Quellen stammen, zu vermeiden. Die Lage ist inzwischen so unübersichtlich, dass es einem Laien schwer möglich ist, hieb- und stichfeste, auf Fakten beruhende Aussagen zu treffen. Die Aufgabe, wissenschaftlich valide Erkenntnisse von Spekulationen und Extrapolationen aus Einzelbefunden zu unterscheiden, ist zwar notwendig, um sich in dem Feld orientieren und sinnvolle Positionen beziehen zu können, aber zeitaufwändig und mühsam.

Hier geht es um die Frage, warum Menschen dazu neigen, Verschwörungstheorien zu entwickeln bzw. ihnen Glauben zu schenken. Was treibt sie dazu, nicht den allgemein für verlässlich geltenden wissenschaftlichen Quellen zu vertrauen, sondern Einzelpersonen und Einzelmeinungen? Welche Rolle spielt die Scham in diesem Zusammenhang? Ich möchte für diesen Zweck den Begriff der Normalitätsscham einführen. Diese Schamform tritt auf, wenn sich jemand nicht wohl fühlt, wenn er sich als gewöhnlich, normal oder durchschnittlich wahrnimmt. Nichts Besonderes zu sein, ist schambesetzt; stolz kann man nur sein, wenn man auf etwas verweisen kann, was sonst niemand hat oder kann. Es gibt Menschen, die es brauchen, etwas Einzigartiges darzustellen und sich von allen anderen abzuheben. Es ist, als ob sie nur scheinen können, wenn Scheinwerfer auf sie gerichtet sind. Natürlich ist jeder Mensch auf seine Weise einzigartig, aber nicht alle brauchen den Beweis und die Bestätigung dafür, die den früher erlittenen Mangel an Bedeutsamkeit ersetzen sollen.

Die Angst vor der Durchschnittlichkeit

Wie hängt diese Schamform mit Verschwörungstheorien zusammen? Die Spur ist schnell gefunden. Denn ein wiederkehrendes Argument bei solchen Gedankengebäuden lautet, dass es zwei Wahrheitsquellen gibt: Den „Mainstream“ mit seinen gleichgeschalteten Medien einerseits, und das alternative Wissen mit seinen „alternativen Fakten“, das von der Mehrheitsmeinung unterdrückt wird andererseits. Die alternativen Wissensträger werden oft als Opfer dargestellt oder präsentieren sich selbst auf diese Weise: Sie werden nicht gehört, sie werden nicht zu Debatten oder zur politischen Entscheidungsfindung eingeladen, sie werden wegen ihrer Meinung gekündigt oder sogar verfolgt. Mit den Opfern eines anonymen „Systems“ identifizieren wir uns leicht, vor allem wenn wir eine Empfänglichkeit für die passive Opferscham und den korrespondierenden Opferstolz in uns tragen. 

Das Misstrauen gegenüber der Mehrheitsmeinung hat eine Verbindung zur Normalitätsscham. Was normal ist, verdient Skepsis, was aus der Norm fällt, ist interessant und lehrreich. Mit einer alternativen Sichtweise, die aus einem Eck kommt, das die Mehrheit übersieht, haben wir einen Vorteil und stehen besser da. Wir haben den Durchblick, der allein dadurch schon sinnhafter ist, dass er der Mehrheitsmeinung widerspricht.

Soweit haben wir es mit Gesetzmäßigkeiten der Wahrnehmungspsychologie zu tun: Das Seltene, nicht Vorhersehbare hat mehr Bedeutung als das Regelmäßige und Gewohnte. Wenn es irgendwo im Raum kracht, schauen wir hin und wollen wissen, was los ist. Es könnte ja eine Gefahr drohen. 

Ideologie und Scham

Aber die Theorien werden dann zur Ideologie, wenn sich die Scham einmischt. Sie muss abgewehrt werden und dann verwandelt sich eine einfache Wahrnehmungspriorität in eine zentrale innere Gestalt, um die herum sich ein Weltbild aufbaut. Dieses innere Bild ist emotional aufgeladen, weil es der Gefühlsabwehr dient. Diese Aufladung tarnt sich als Wichtigkeit und missionarischer Eifer, so als ginge es um Leben und Tod. Psychologisch betrachtet, wurde also eine Überlebensstrategie aktiviert: Ich habe den Schlüssel zur Überlebenssicherung gefunden und darüber muss ich jetzt alle informieren und überzeugen. 

Die Auserwählten und die Masse

Um den exklusiven Zugang zur Wahrheit zu verteidigen, wird die Mehrheit oft als dumm, ignorant und naiv dargestellt. Manchmal wird sie mit Schafen, denen irrtümlicherweise geringe Intelligenz zugebilligt wird, und mit Lemmingen verglichen, die sich einer Legende (die aus einem Disneyfilm stammt) zufolge massenweise in den Selbstmord stürzen. Die Gegner mit dummen Tieren zu vergleichen (auch wenn die Vergleiche den Tieren gegenüber unfair sind), bringt einen selber in die Position des überlegenen Vernunftwesens. Wer die allgemeinen Wahrheiten vertritt, hat Scheuklappen auf, ist das arglose Opfer von dunklen Machenschaften und macht sich zum nützlichen Idioten der Machteliten, die im Hintergrund alle Fäden ziehen. Der ganze Ruhm des Aufklärers der bösen Umtriebe fällt auf den, der aufdeckt, was im Verborgenen hinterhältig Schaden anrichten will. Der Stolz dessen, der alles durchschaut hat und es besser weiß als alle anderen, ist der psychische Lohn für den Verschwörungserfinder und für seine Gläubigen. Materiellen Lohn gibt es meist auch genug, wie diverse Recherchen herausgefunden haben. Es gibt viele reiche Leute, die solche Mythenbildner finanzieren, weil sie sich davon Vorteile für die eigene Reichtumsmehrung und die dafür notwendige politische Macht erwarten. In dieser Hinsicht sind also die Verschwörungsanhänger die willfährigen Erfüllungsgehilfen für diese Finanziers.

Religiöse Denkschablonen

Wenn die Allgemeinheit schon allein deshalb im Unrecht ist, weil sie die Mehrheit bildet, folgt daraus, dass das Heilswissen nur von einer Minderheit stammen kann. Eine Denkschablone, die in diesem Zusammenhang mitspielt, stammt aus der Religionsgeschichte: Die Erlösung kommt nie aus der normierten und bornierten Mehrheit (nicht von den „heuchlerischen Pharisäern“), sondern über Außenseiter, die angefeindet und z.T. verfolgt wurden, die aber der bornierten Mehrheit mutig den Spiegel vorgehalten haben. Alle großen Religionsgründer (Buddha, Christus, Muhammad) sind diesen Weg gegangen und haben Großes bewirkt.

Eine zweite religiöse Denkschablone ist die der Auserwählung. Esoterisches Wissen im ursprünglichen Sinn war ein solches, das nur einer eingeweihten Kleingruppe zugänglich war und nur im engsten Kreis weitergegeben werden durfte. Die, die an der Botschaft des Erlösers teilhaben, sind besonders begnadete Menschen, weil sie über ein exklusives Wissen verfügen. Sie unterscheiden sich von allen anderen Menschen, weil sie die Avantgarde darstellen: Sie sind in einen Bereich des Geheimnisses des Lebens eingedrungen, den sonst niemand kennt. Sie sind unter den vielen anderen die Auserwählten.

Die dritte Denkschablone besteht darin, dass die Wahrheit „einleuchtet“ und beim bloßen Anhören überzeugt. Sie ist einfach und braucht keine anstrengenden Studien, um verstanden zu werden. Alles, was nicht sofort intuitiv ankommt, weil es genaueres Nachdenken und komplexere mentale Fähigkeiten erfordert, kann nicht von Wert sein, sondern ist gedacht, die Menschen zu verwirren und in die Irre zu führen. Auserwähltes Wissen 

Ideologie und Wissenschaft

Allerdings geht es bei den Themen, um die sich die Verschwörungsmythen ranken, nicht um Religion, sondern um Gesundheit, Klimaentwicklung usw., also um Themen, die durch die wissenschaftlichen Forschungen erst in ihrer Dringlichkeit erkannt wurde und auf der Basis eines gesicherten Wissens gesellschaftlich gelöst werden müssen und nur auf dieser Basis gelöst werden können, wozu Ideologien und Religionen nichts beitragen können. Im Gegenteil: Alle ideologischen oder religiösen Einflüsse in diese Themen helfen nicht bei der Problemlösung, sondern verkomplizieren die Diskussion und verwirrten viele Menschen, wodurch die Probleme zusätzlich verschärft werden. 

Die Mythenerzähler greifen die Wissensbasis an, indem sie wissenschaftliches Wissen mit nichtwissenschaftlichem Wissen gleichsetzen bzw. sogar überordnen. Damit gibt es keine verbindlichen Standards mehr, mit denen freie Erfindungen und fakten- und evidenzbasierte Erkenntnisse unterschieden werden können. Und das ist auch das Ziel dieser Bestrebungen. Wissenschaftliches Wissen ist gewissermaßen der Hauptfeind der Verschwörungstheoretiker. Deshalb wird auch gerne behauptet, dass die Wissenschaftler von irgendwelchen Geldgebern gekauft sind und deshalb alle Studien und Forschungsergebnisse Fälschung und arglistige Täuschungen darstellen. Je mehr die Wissenschaften diskreditiert werden, desto leichter ist es, die eigenen Behauptungen am Meinungsmarkt durchzusetzen. Die Wissenschaften, die aus dem Zusammenwirken von Tausenden von Forschern bestehen, werden als Summe von Einzelmeinungen dargestellt – das ist ein wichtiger Teil, gewissermaßen der zentrale Hebel bei allen Verschwörungstheorien. Denn das Evidenzmonopol, das die Wissenschaften in der modernen Gesellschaft errungen haben (die es nicht geben würde, wenn es keine Wissenschaften gäbe), ist der natürliche Gegner aller Ideologien und Mythen. 

Natürlich treffen diese Aktionen die Wissenschaften nicht direkt, die weiter im Rahmen ihrer ausgefeilten Normen und Standards Forschung betreiben und die Forschungsergebnisse laufend weiterentwickeln und verbessern. Aber es betrifft die öffentliche Wirksamkeit der Wissenschaften und damit ihre Zukunft. Wenn große Teile der Gesellschaft zur Überzeugung gelangen, dass Wissenschaftler nur in ihre eigene Tasche wirtschaften und falsche und manipulierte Ergebnisse produzieren, dann macht es auch keinen Sinn mehr, die wissenschaftliche Forschung mit öffentlichen Geldern zu finanzieren. Außerdem sehen sich Regierungen zunehmend genötigt, alternative Wahrheitsbehauptungen ebenso in ihren Entscheidungen zu berücksichtigen wie die Wissenschaften, weil sie ja die verschiedenen Bevölkerungsteile vertreten wollen und von diesen gewählt werden.

Der Kampf gegen die Komplexität

Es geht also Verschwörungstheoretikern darum, mehr Macht und Einfluss auf die Öffentlichkeit zu nehmen, und sie nutzen zur Mobilisierung ihrer Anhängerschaft die psychischen Mechanismen der Normalitätsscham. Sie wollen den wissenschaftlichen Konsens zerstören und rütteln damit an den Grundpfeilern der Moderne. Die Vereinfachungen, die typisch für solche Mythen sind (ein Bösewicht oder eine Gruppe von Verschwörern steckt hinter allem Übel, ein Wissenschaftler weiß alles besser als all die anderen…), fachen die Hoffnung an, dass wir mit den Mitteln des vormodernen Denkens die Probleme der Gegenwart lösen können. Die Realität belehrt uns permanent eines anderen: Die Zusammenhänge sind komplex, und deshalb sind auch die Maßnahmen, die ergriffen werden müssen, um die Probleme zu lösen, komplex.

Das aktuell grassierende Virus ist ein Lehrmeister für die Komplexität, weil es zwar eines der einfachsten Lebewesen ist (es weist nicht einmal alle Eigenschaften eines Lebewesens auf), aber durch seine Mutationsfähigkeit laufend neue Bedingungen schafft. Die Erforschung dieser Variationen und ihrer Auswirkungen muss laufend evaluiert und aktualisiert werden, und das geht nur, wenn Tausende von Wissenschaftlern zusammenarbeiten, die es gewohnt sind, komplex und vernetzt zu denken. Sie präsentieren dann die Erkenntnisse, und die Politiker müssen dann in Verbindung mit den Komplexitätsforschern und anderen Experten ihre Entscheidungen treffen. Die Menschen, die an die Mythen glauben statt an die Komplexität der Wirklichkeit, sind dann misstrauisch, wenn sie sich auf komplexe Bedingungen einstellen müssen, die zudem immer wieder angepasst und verändert werden. Verschwörungswissen ist stabil, Wirklichkeitswissen muss flexibel sein, weil sich die Wirklichkeit dauernd verändert. Verschwörungswissen ist emotional, Wirklichkeitswissen ist nüchtern. Dem Virenproblem und auch den anderen großen Herausforderungen der Menschheit werden wir nicht mit starrem und emotional geladenem Wissen Herr. Vielmehr müssen wir uns der Komplexität stellen, mit einem forschenden und lernenden Geist und nicht einem, der auf Gefühlserlebnisse und Auserwähltheitsfantasien ausgerichtet ist.

Zum Weiterlesen:
Angstkonditionierung und Corona-Reaktion
Wird die Demokratie von Manipulatoren gekidnappt?
Komplexe Themen und komplexes Denken
Impfen, Wissen und Wissenschaft


Samstag, 18. Dezember 2021

Langeweile: Keine Abenteuer im Kopf

Die Langeweile, die in die Länge gedehnte Weile, hat viele Gesichter. Sie kann ein kurzzeitiges Gefühl sein, das kommt und wieder geht. Sie kann sich bei bestimmten Gelegenheiten regelmäßig melden, bei denen wir irgendetwas, was gerade los ist, nicht interessant finden. Sie kann den Arbeitsprozess begleiten, wenn wir Tätigkeiten machen müssen, für die wir keine Motivation aufbringen und die unseren Neuigkeitsdrang nicht befriedigen. 

Wenn wir die Langeweile von innen her betrachten, können wir sie als eine Art Erschöpfungs- und Erstarrungsreaktion des Denkens verstehen. Sie ist ein mentales Phänomen und tritt auf, wenn wir vom Lebensprozess unseres Körpers abgespalten sind. Wir sind fixiert auf das Denken, das gerade mit dem, was ist, nichts anfangen kann und selber nichts Neues, Interessantes zustande bringt.

Dem Rest des Körpers ist nie fad. Die Nieren, die Leber, die Milz haben immer etwas zu tun, ebenso jede Zelle, jedes Gewebe, jeder Muskel. Der Körper ist dauernd in Bewegung, in Schwingungen, in Veränderungsprozessen. Informationen werden ausgetauscht und Prozesse optimiert, damit das komplizierte Regelwerk reibungslos funktioniert. Auch unsere Wahrnehmung ist im Wachzustand beständig aktiviert, die Augen und die Ohren müssen sogar die Menge an Eindrücken filtern, die von außen einströmen, damit sie mit ihrer Fülle zurechtkommen. 

Die Ablenkungsmaschinerien

Die Langeweile existiert also nur in einem kleinen Teil des Kopfes. Dennoch hat dieser Teil eine große Macht über unsere Befindlichkeit. Denn die Gefühle der Langeweile erleben wir als ziemlich unangenehm und lästig und wollen sie schnell loswerden. Die moderne Unterhaltungsindustrie hat ein riesiges Geschäftsmodell entwickelt, um die Menschen vor ihrer Langeweile zu bewahren. Trotz des massiven Angebots an Zerstreuung scheint es nicht so zu sein, dass die Menschen weniger an Langeweile leiden. Vielmehr ist es offenbar so, dass sich die Unterhaltungsangebote immer mehr selbst entwerten. Wir brauchen uns nur Fernsehshows anzuschauen, die wir vor dreißig Jahren lustig und abwechslungsreich gefunden haben und die heute träge und mäßig amüsant erscheinen.

Der Suchtcharakter der Unterhaltung

Die Zerstreuung als Gegenmittel zur Langeweile hat also Ähnlichkeiten mit Suchtmechanismen: Wir brauchen immer mehr, wir gieren nach Neuem und Intensiverem, um der Fadesse zu entrinnen. Deshalb müssen die Produkte der Ablenkungsindustrie immer greller, schneller und hektischer werden, um unsere Reize zumindest für einige Zeit zu fesseln. Es sind nicht mehr die Themen und Erzählstränge, die einen Film interessant machen, sondern die Reizkaskaden, die das Nervensystem der Zuschauer in Bann halten sollen. Ein Film oder ein Roman darf keine Längen und Leerläufe haben, eine Pointe muss die nächste jagen, sonst werden die Konsumenten nicht ihrer Langeweile gerettet, die sich in jeder Lücke, in der etwas Entspannung eintritt, melden wird. Schon ist das Publikum für immer verloren.

Langeweile und Routine

Immer wieder die gleichen Handgriffe zu machen, stereotype Bewegungen fortwährend zu wiederholen, die gleichen Gedanken nach vorne und nach hinten zu wälzen, routinierte Abläufe wieder und wieder auszuführen führt zu einer Form der Langeweile, in der sich die Zeit scheinbar ins Unendliche dehnt. Geistige Unterforderung wirkt genauso belastend wie Überforderung. Der Mangel an Anregungen lässt das Innere abstumpfen. Wo in der Erfahrung die Ecken und Kanten fehlen, die neue Reaktionen herausfordern, wo es keine unerwarteten Unterbrechungen in gewohnten Vorgängen gibt, die das Geschehen in eine unvorhergesehene Richtung lenken, geht die kreative Spannung verloren. 

Es ist diese aufregende Spannung, die uns ein besonderes Gefühl von Lebendigkeit und Wachstum gibt. Die Spannung der Neugier, die das Überraschende entdeckt und sich in seinen Zauber ergibt, bringt uns unmittelbar mit den expansiven Kräften des Lebens in Kontakt. Wo sie fehlt oder ausgezehrt ist, versiegt der Zugang zu diesen Lebensquellen. Auch wenn solche Routinetätigkeiten körperlich nicht anstrengend und geistig nicht beanspruchend sind, können sie Zustände von Erschöpfung und Ausgelaugtsein hervorbringen, die schwerer zu ertragen sind als die Arbeit von Möbelpackern.

Was können wir tun, um bei Laune zu bleiben, wenn wir Routine-Tätigkeiten machen müssen? Schlecht haben es jene, die sich mit eintöniger Arbeit ihr Einkommen verdienen müssen. Manche schätzen zwar die Überschaubarkeit und Gleichförmigkeit solcher Arbeiten, aber für viele stellen sie eine nagende Belastung dar, die zu drückenden Gefühlen und Verstimmungen als Folge einer Sinnentleerung führen kann. Hier können nur arbeitsorganisatorische Veränderungen helfen, um die Arbeitsabläufe menschengerechter zu gestalten, z.B. durch Job-Rotation.

Das Leben ist impulsiv und spontan

In der Langeweile hoffen wir auf eine Erlösung durch das Äußere. Irgendein Reiz soll kommen, der uns das unangenehme Gefühl nimmt. Wie können wir aber die Brüche in uns selbst erzeugen, die uns dann zum Kitten anregen? Wenn wir genauer nach innen spüren, finden sich dort immer Impulse, die uns aus der Lethargie und der gedehnten Zeiterfahrung führen. Unser Körper ist in dauernder Veränderung, ebenso unser Geist. Es liegt an uns, im richtigen Moment auf einen dieser Impulse aufzuspringen und ihn zuzulassen. Es kann eine überraschende Bewegung sein, die uns aus der langweiligen Routine herausholt oder eine neue Idee. Es kann etwas Unscheinbares sein, das plötzlich als etwas Besonderes erscheint. Wenn wir die kleinen Veränderungen, die in jedem Moment ablaufen, mit Aufmerksamkeit verfolgen, gibt es keine Langeweile mehr.

Wir sind sofort spontan, sobald wir aus den Schleifen der Denkgewohnheiten herausgetreten sind. Offenbar sind es alte, verstaubte Ängste, die uns in diese Schleifen einspannen. Dann stellen sich die öden Gefühle der Langeweile ein. Achten wir stattdessen auf unsere innere Lebendigkeit, dann binden wir uns an den Flow-Zustand an, an das Fließen von einem Moment zum nächsten. Das ist die Spontaneität, das Gegenmittel zur Langeweile. Allerdings können wir sie uns nicht verordnen („Sei doch endlich spontan!“). Wir brauchen sie nur zuzulassen, und das geschieht, sobald wir aus dem Kopfkino aussteigen, das stets die gleichen Filme abspult.

Die Chance in der Langeweile

Die Langeweile kann durchaus etwas Konstruktives und Positives sein, wenn wir nicht mit ihr hadern. Sie macht uns auf eine Pause in der Kette der interessanten Lebensmomente aufmerksam. Wir können diese Unterbrechung zum Nachdenken nutzen und Entscheidungen für eine sinnvolle Gestaltung unserer Lebenszeit vorbereiten. Wir tauchen in eine unerwartete Auszeit ein, die wir als Zeit der Muße definieren können, als ein Ausklinken aus den Funktionsabläufen des Lebens. Damit schaffen wir einen Kontrast zu einer Welt, die dauernd zum Produktivsein und Performen drängt, eine Welt, in der wir fortlaufend unseren Wert beweisen müssen. Wer nichts tut und nichts zu tun hat, ist wertlos. Deshalb darf niemand zugeben, Langeweile zu spüren. Vielmehr gilt es, herauszustreichen, wie gestresst man doch ist. 

Statt dass wir uns den Druck antun, mit dem wir meinen, jeden Moment des Lebens mit Sinn füllen zu müssen, lassen wir eine Pause zu. Dann können wir die Freiheit vom Zwang des Tuns und des Gefallens genießen. Auf diese Weise lassen wir das Quälende der Langeweile hinter uns und entdecken einen eigentümlichen Sinn in ihr, der tiefer gegründet ist als der Sinn, den wir mit unserem Tätigsein erzeugen. Wir kommen mehr zu uns selbst und zu dem, was wir sind, unabhängig von den Erwartungen, Zwängen und Ängsten.

Die Langeweile als Transformationspunkt

Von hier ist es nicht weit zum Portal, das von der Langeweile ins Nirvana führt. Blaise Pascal schreibt dazu: „Nichts ist so unerträglich für den Menschen, als sich in einer vollkommenen Ruhe zu befinden, ohne Leidenschaft, ohne Geschäfte, ohne Zerstreuung, ohne Beschäftigung. Er wird dann sein Nichts fühlen, seine Preisgegebenheit, seine Unzulänglichkeit, seine Abhängigkeit, seine Ohnmacht, seine Leere. Unaufhörlich wird aus dem Grund seiner Seele der Ennui aufsteigen, die Schwärze, die Traurigkeit, der Kummer, der Verzicht, die Verzweiflung.“  („Rien n’est si insupportable à l’homme que d’être dans un plein repos, sans passions, sans affaires, sans divertissement, sans application. Il sent alors son néant, son abandon, son insuffisance, sa dépendance, son impuissance, son vide. Incontinent il sortira du fond de son âme, l’ennui, la noirceur, la tristesse, le chagrin, le dépit, le désespoir.“) (Pensées diverses II – Fragment Nr. 25/37)

Die Leere in der Zeit, durch die die quälende Langeweile charakterisiert ist, dreht sich ins Unendliche der Zeitlosigkeit, allerdings nur, wenn wir sie als Drehpunkt verstehen und nutzen, als Chance für eine transformierende Veränderung. Fallen wir jedoch auf uns selber und unser Ego zurück, so landen wir in der von Pascal beschriebenen Verzweiflung; gelangen wir über uns selber hinaus, indem wir uns gewissermaßen in die vollkommene Ruhe und ihr Nichts fallen lassen und jeden Widerstand gegen die in die Länge gedehnte Zeit aufgeben, dann gelangen wir in den Raum der inneren Freiheit. In diesem Raum gibt es keine Langeweile mehr.

Zum Weiterlesen:
Gier und Neugier
Meditation und Langeweile
Langeweile, eine Form der Selbsttäuschung
Muße als Lebenskunst



Samstag, 11. Dezember 2021

Gier und Neugier

Zwei Strebungen in uns, die ähnlich und unähnlich zugleich sind. Gemeinsam ist ihnen, dass sie etwas wollen, was gerade nicht da ist. Es sind stark drängende Kräfte, die mit dem aktuellen Zustand nicht zufrieden sind und darüber hinaus wollen. 

Hier sind schon die Unterschiede: die Gier will etwas, das sie schon kennt, während die Neugier eben auf Neues aus ist. Die Gier resultiert aus uralten Mängeln, die unbedingt erfüllt werden müssen, sonst wäre die Frustration zu groß. Sie ist prinzipiell unersättlich, hat also nie genug. Sie ist zeitweilig erschöpft, wenn sie sich einmal überfressen hat. Sobald der üppige Schmaus verzehrt ist meldet sich schnell der gierige Hunger wieder. So geht es dem Völler, ähnlich der Säuferin und dem Geldscheffler. Weit verbreitet ist auch die Gier nach Anerkennung und Sex. Im Grund können Menschen nach allem, was es so gibt, gierig sein.  

Jedoch ist jedes der vielen Objekte der Gier ein Ersatzobjekt, das für die erlittene emotionale Unterernährung der Kindheit herhält. Da Objekte nie die Liebe geben können, die das Kind gebraucht hätte, kann es nie zu einer Erfüllung kommen. Die Gier führt nur zu weiterer Gier. Das ist die Tragik, die in der Gier steckt und die von ihr getriebenen Menschen ins Unglück treibt und dort festhält. 

In der Gier steckt die Massivität der kindlichen Frustrationen, die aus einer frühen überlebensangst stammt. Das Kind spürt, dass es ohne emotionale Versorgung und Zuwendung untergehen muss. Es setzt alles ein, um das zu verhindern. Aus dieser Dynamik stammt die Skrupellosigkeit, mit der gierige Menschen sogar über Leichen gehen können. Sie zeigen die Rücksichtslosigkeit, die wir von Suchtkranken kenn, denen jedes Mittel recht ist, um an den Stoff zu kommen. 

Die Gier kennt ihre eigenen Sehnsüchte, als Spannung zwischen dem permanenten inneren Mangel und der fantasierten Befriedigung. Die Sehnsucht, die aus der Gier stammt, wird als Leiden erlebt, weil das Ziel der Sehnsucht unerreichbar erscheint. Das Leben wird als unauflösbare Spannung zwischen den Polen der unerfüllten Gegenwart und einer nie eintretenden Erlösung, die immer wieder in der Fantasie ausgemalt wird, empfunden.  

Auf einer tieferen Ebene deutet die Sehnsucht an, dass es ein Jenseits des destruktiven Zyklus von Mangel und Befriedigung gibt, eine Ebene, auf der die quälende Kraft des Getriebenseins überwunden werden kann. Für jedes Leiden gibt es eine Heilung, und der erste Schritt ist immer, es als Leiden, für das man selbst die Verantwortung trägt, zu erkennen.  

Die gierige Person vermeint, die Heilung läge in der Aneignung des Objekts; das ist die Illusion, die sie durchschauen muss, um zur eigentlichen Heilung zu kommen. Es geht darum, die Wurzel des giergetriebenen Musters zu erkennen: Die unerfüllten kindlichen Bedürfnisse, für die die Objekte der Begierde als Ersatz herhalten müssen. Die seelischen Schmerzen, die mit diesen Frustrationen verbunden sind, müssen gespürt und durchlebt werden, um zur Heilung und Befreiung von der Qual der Gier zu gelangen. 

Nach hinten oder nach vorne schauen

Während die Gier immer an die Vergangenheit zurückgebunden ist, richtet sich die Neugier auf das Zukünftige, auf das Unbekannte. Es ist eine Lust am Abenteuer, am Weiten dessen, was gerade da ist. Aus dem, was ist, soll mehr werden, es soll wachsen, es soll sich in unbekannte Dimensionen hinein erstrecken. Die Neugier liegt im Staunen und Wundern, im Erleben des Unglaublichen und Unerwarteten, im Sprengen der Wahrnehmungsmuster und Denkgewohnheiten. Die Neugier erkennt das Einzigartige am gegenwärtigen Moment.  

Die einfache Gier ist ein Abkömmling der Angst und hat viele Querverbindungen zur Scham. Sie zählt deshalb zu den Schutzgefühlen, die aus Überlebensprogrammen stammen. Die Neugier dagegen ist dem Wachstumssektor der Gefühlslandschaft zugeordnet. Sie ist zuständig für alles, was die Menschen an Fortschritt und Verbesserung ihrer Lebensbedingungen im Lauf von Jahrtausenden erschaffen haben. Hinter jeder Erfindung steckt ein neugieriger Mensch, hinter jeder Entdeckung ebenfalls. Die Neugier ist der Antrieb der Kreativität, die etwas in die Welt setzen will, was es noch nicht gegeben hat. Jeder Künstler ist von Neugier motiviert, ebenso wie jede Wissenschaftlerin. Der Komponist ist neugierig, wie sich die Melodie im Kopf weiterentwickelt, die Schriftstellerin ist neugierig, was ihre Romanfigur als nächstes machen wird, der Maler sitzt vor der berühmten weißen Leinwand und lässt sich vom Pinsel und seinem Strich überraschen.  

Die Neugier und das Mysterium 

Kinder sind die Meister und Lehrmeister in der Neugier. Sie erstaunen und begeistern die Erwachsenen mit den Entdeckungen, die sie mit ihrer Lust am Neuen immer wieder aufspüren. Die leuchtenden Augen der Kinder weisen uns auf das Wunderbare hin, an Dingen oder Erfahrungen, was wir vielleicht abschätzig als Kleinigkeiten bezeichnen. Unermüdlich und spielerisch erforschen sie die Wirklichkeit um sie herum und eignen sich damit Schritt für Schritt ihren Platz in dieser Welt an. 

Von den Kindern lernen wir auch, wie sich die Neugier mit der Begeisterung verbindet. Das Neue, das uns auffällt, zeigt uns eine überraschende Seite des unendlichen Geistes, des Mysteriums des Seins. Jede Facette des uns umgebenden großen Geheimnisses öffnet eine Verbindung, die über unser kleines Ego hinausweist.  

Die erfolgreiche Suche, die die Neugier beflügelt hat, bereitet uns Freude und hebt unsere Stimmung. Manchmal fühlt es sich wie ein Durchbruch oder ein kreativer Schub an. Manchmal ist eine winzig kleine Entdeckung, die wir machen. Wir sind mit der Welt und ihren Schönheiten in besonders intensiver Weise verbunden. Wir teilen den Geist dieser vielfältigen und großen Welt der Erscheinungen.  

Die Neugier hat auch eine Verwandtschaft mit der Sehnsucht. Sie zeigt sich einerseits darin, dass wir eine Sehnsucht nach Neuem spüren können, wenn die Neugier kein Objekt findet. In der Langeweile, die immer eine Abwesenheit der Neugier ist, meldet sich die Sehnsucht nach Abwechslung, Ablenkung, Unterhaltung, damit die Neugier wieder Nahrung bekommt. 

Die Neugier führt uns schließlich auch auf den spirituellen Weg. Wir spüren offene Stellen und Mängel in uns und suchen die Ganzheit. Wir spüren die Enge des Egos in uns und streben nach Befreiung. Es meldet sich eine Kraft in uns, die uns sagt, dass es da noch mehr gibt. Neugierig machen wir uns auf der Suche nach dem Innersten des Mysteriums. 

Zum Weiterlesen:
Gier und Selbstzerstörung
Wirtschaft ohne Gier
Das Giersystem im Kapitalismus
Konsum und Gier
Kreative und reaktive Fantasien


Mittwoch, 8. Dezember 2021

Die Impf-Kommunikation

Die Pandemie-Krise hat im Zusammenhang mit der Impfthematik auch ein massives gesellschaftspolitisches Kommunikationsproblem aufgezeigt. Es gelingt der Staatsverwaltung nicht, die eigenen Intentionen und Pläne ausreichend an die Frau und den Mann zu bringen und verständlich zu machen, sodass genügend Menschen impfen gehen und die Virenverbreitung minimiert wird.  

Ebenso verhallen die einschlägigen Appelle der Wissenschaft bei vielen Adressaten erfolglos, vielmehr tragen sie offensichtlich zusätzlich zum Anstieg der Wissenschaftsskepsis bei. Die Überforderungs- und Verzweiflungssignale der überforderten Intensivmediziner und des überbelasteten Spitalspersonals stoßen bei denen, an die sie gerichtet sind, auf Abwehr, Verharmlosung oder durch Fake-News gespeiste Umdeutungen.  

Es geht hier nicht um die Adressaten, also die Impfunwilligen in der Bevölkerung, sondern um die andere Seite der Kommunikation: Die Unfähigkeit, die Botschaft so zu übermitteln, dass sie zur erwünschten Handlung führt. Dieses Kommunikationsproblem kann als Vermittlungsschwierigkeit von der sechsten zur fünften Bewusstseinsstufe verstanden werden.  

Die Logik der Bewusstseinsevolution verläuft so, dass die nächstfolgende Stufe die wichtigsten Elemente der vorigen beinhaltet, sie weiterentwickelt und in neue Zusammenhänge stellt. Klar ist, dass die Perspektiven und Denkweisen der nächstfolgenden Stufe von den Menschen auf der vorigen nicht automatisch verstanden werden und auf Widerstand stoßen. Sie stellen ja die Prinzipien des eigenen Bewusstseins in Frage und fordern eine Weiterentwicklung, die ins Unbekannte führt und deshalb riskant ist. Vor jedem Schritt auf ein neues Organisationsniveau meldet sich die Angst vor dem Neuen und Unbekannten und die Angst, Vertrautes und Gewohntes aufgeben zu müssen, auch wenn es nicht wirklich mehr nützlich ist und einengt. Es liegt an der höheren Stufe, die Vermittlungswege anzubieten, die es den Leuten, die auf der vorigen Stufe verankert sind, schmackhaft machen, den Schritt auf die nächste Stufe zu wagen.   

Die Impf-Kommunikation

Ich gehe in Bezug auf die gegenwärtigen Situation von der Annahme aus, dass die Gesundheitsverwaltung, die in enger in enger Zusammenarbeit mit der Wissenschaft ihre Verordnungen und Maßnahmen setzt, auf einer systemischen Ebene, also auf der sechsten Bewusstseinsstufe argumentiert: Sie will dafür sorgen, dass das Gesundheitssystem seine Leistungsfähigkeit behalten kann, und darüber hinaus, dass durch die dafür notwendigen Maßnahmen der beste Nutzen für möglichst viele in der Krisensituation erzielt werden kann, bzw. dass die Schäden möglichst gering bleiben. Dazu wird ein Prozedere gewählt, das nach den wissenschaftlichen Erkenntnissen dazu am dienlichsten ist.  

Viele, die mit diesen Argumentationen nichts anfangen können, kommen hingegen von der personalistischen Ebene, das den eigenen Körper und die eigene Seele über alles andere stellt, und diese Personen fühlen sich von den Appellen der Politik, der Wissenschaft und des Gesundheitswesens weder verstanden noch unterstützt. Deshalb verstehen sie ihrerseits die Anliegen der Regierung nicht, setzen die empfohlenen Maßnahmen nicht um und protestieren und rebellieren dagegen.  Wir haben es mit einem Vermittlungsproblem zwischen diesen beiden Ebenen zu tun.    

Am Beispiel der Impf-Kommunikation zeigt sich in vielen Ländern, wie schwierig es offensichtlich ist, die Abwehr der vorigen Entwicklungsstufe gegen das Neue zu überwinden. Die mRNA-Impfstoffe z.B., bei denen eine relativ neue Biotechnologie angewendet wird, die vielen Laien unbekannt ist, haben große irrationale Ängste ausgelöst. Viele wollen sich nur mit Impfstoffen impfen lassen, die schon auf lange bekannten Grundlagen beruhen.

Die Impfpflicht und die politische Regression

Nun hat die Regierung in Österreich aus der misslungenen Kommunikation und Überzeugungsarbeit den Schluss gezogen, die Impfpflicht zu verhängen. Es müssen sich also auch die Unwilligen der Impfung unterziehen, wenn sie nicht bestraft werden wollen. Der Staat wechselt damit von der systemischen auf die hierarchische Ebene, von der sechsten auf die dritte Stufe, um mittels Staatsgewalt das Verhalten zu erzwingen, das durch Überzeugungsarbeit nicht zustande gebracht werden konnte. Da ist es dann nicht verwunderlich, dass Teile der solcherart in eine Zwangslage Geratenen noch eine Stufe darunter regredieren und zu Verweigerung und Widerstand aufrufen, indem sie der Regierung die demokratische Legitimation absprechen und sich in einer Diktatur fühlen. 

Andererseits ist es aus der Sicht der Staatsverwaltung und der Politik nachvollziehbar, dass die systemische Ebene verlassen wurde, weil durch die Engpässe im Gesundheitssystem ein Zeitdruck entstanden ist und keine langwierigen Überzeugungskampagnen mehr geführt werden können. Außerdem zeigt die Erfahrung, dass das Andauern der Pandemie bei vielen die Ängste steigert und dass sich dadurch die einmal eingenommenen Positionen (für oder wider die Impfung) immer mehr verhärten, sodass Gespräche immer mühsamer und sinnloser werden. 

Dazu kommt, dass systemische Entscheidungsfindungen im Allgemeinen einen hohen Zeitbedarf haben. Sie gedeihen nur gut unter stressfreien Rahmenbedingungen und bringen nur dann Frucht, wenn alle Beteiligten und Betroffenen mit ihren Sichtweisen, Ängsten und Erwartungen ausreichend einbezogen werden. Deshalb ist es für Einzelpersonen wie für Verwaltungssysteme äußerst schwierig, unter äußerem Stress das systemische Bewusstsein aufrechtzuerhalten. 

Die Notwendigkeit der Stärkung der systemischen Vernunft

Was kann die systemische Ebene dazu beitragen, die Motivation zum Überstieg in diese Bewusstseinsform zu stärken? Obwohl in Österreich der Zug zur gütlichen Verständigung mit den Impfgegnern abgefahren ist, ist die Frage wichtig, wie die  systemische Ebene die personalistische erreichen könnte. Anders gefragt: Wie könnte das systemische Niveau das Vertrauen erwerben, das es braucht, um sich auf breiterer Basis zu etablieren? Es ist nämlich ziemlich klar, dass wir, abgesehen von der Pandemie, ohne die Erforschung der Komplexität, die eine systemische Spezialität ist, die Herausforderungen der Zeit und der Zukunft nicht meistern können, ob es sich nun um die Pandemie, die Klimakrise, die Schere zwischen arm und reich oder das Finanzsystem handelt. In all diesen Fragen hat das personalistische Bewusstsein ausgedient. Wenn es nicht gelingt, in der Gesellschaft eine breite Basis für systemisches Denken und systemische Vernunft aufzubauen, gerät der Weiterbestand der Menschheit in ernsthafte Bedrängnis. 

Widerstand in der systemischen Integration

Praktisch geht es darum, wie man systemisch mit Widerstand und Abwehr umgeht. Es gilt, alles, was zum System gehört, als Teil des Systems zu verstehen, also auch das, was sich dagegen wehrt, Teil des Systems zu sein. Die Frage an diesen Teil ist, was er braucht, damit er sich als zugehörig erfährt und wohlfühlen kann.  Dazu gehört, dass seine Funktion im System gesehen und anerkannt wird. 

Das systemische Umgehen mit Widerstand besteht darin, so lange kommunizieren, bis er sich in eine Ressource verwandelt. Es gilt zu verstehen, dass der Widerstand eine Schutzfunktion hatte, die allerdings jetzt nicht mehr benötigt wird – die Würdigung verhilft zur Transformation. Die Abwehr kann sich erst öffnen, wenn sie gesehen, in ihrem Wert verstanden und ernstgenommen wird.  

Abwehr und Adoleszenz

Jede Abwehr enthält eine Ähnlichkeit mit der Energie der Adoleszenz. Deshalb wählen wir hier die hypothetische Annahme, dass sich viele der Impfgegner mit ihrem Thema psychodynamisch betrachtet adoleszenter Motivationen und Gefühlsmuster bedienen. Damit ist nicht gemeint, dass jeder Widerstand gegen das Impfen pubertär wäre, was ja eine ungebührliche Abwertung der betreffenden Personen darstellen würde. Vielmehr geht es darum, die Trieb- und Abwehrkräfte zu verstehen, die in diesem Kommunikationspatt mitspielen, vor dem Verständnis, dass jeder erwachsene Mensch die adoleszenten Strebungen und Motivationen in sich trägt und zu bestimmten Gelegenheiten aktiviert, und das oft durchaus sinnvoll. Solche Motivations- und Reaktionsmuster können auch bei Impfbefürwortern eine Rolle spielen und sich in ihr Verhalten einmischen. Es ist weiters offensichtlich, dass bei der Ablehnung der Impfung unterschiedliche Motive mitspielen, von denen viele einer erwachsenen rationalen Prüfung Stand halten können.  

Doch scheint es, dass die adoleszenten Anteile in dieser Szenerie eine besondere Rolle im angesprochenen Vermittlungsproblem spielen. Denn das systemische Bewusstsein ist gleichzusetzen mit der reifen, bedachten, rational und emotional ausgeglichenen Erwachsenenhaltung. Und zwischen Erwachsenen und heranwachsenden Jugendlichen gibt es seit jeher Verständnis- und Kommunikationspotenzial sowie viel Konfliktstoff.  Evolutionär betrachtet, sind diese Konflikte ein notwendiger Bestandteil des gesellschaftlichen Fortschritts. 

Adoleszente wollen als erwachsener gesehen und behandelt werden, als sie es aktuell sind. Sie haben das Gefühl, dass sie vieles besser verstehen und durchblicken als die in ihren Meinungen festgefahrenen und verzopften „Alten“. Sie wissen alles besser, kennen sich überall besser aus, haben Informationsquellen, die sonst niemand hat usw. Diese Überzeugung brauchen sie auch, weil sie ja als die nächste Generation die Gesellschaft mit neuen und besseren Ideen gestalten werden. 

Jugendliche wollen keine Moralisierungen und lassen sich auch nicht durch Belohnungen kaufen. Zugleich brauchen sie die Bereitschaft zur Nachsicht und Fürsorge, sie wollen sich auf die Sicherheit verlassen können, dass wer da ist, wenn etwas schief geht. Sie sind gewissermaßen nur Erwachsene auf Probe und lernen erst, mit dieser Verantwortung umzugehen. Insgeheim setzen sie auf „Vater Staat“, der ihnen die Ausbildung und die soziale Absicherung zur Verfügung stellt, während sie ihn andererseits ablehnen und bekämpfen – wie sie es auch trotz aller Kritik schätzen, dass sie sich auf ihre Eltern verlassen können und nicht missen wollen, dass ihnen die Wäsche gewaschen wird. 

Über die Notwendigkeit eines erkenntnistheoretischen Basiskonsenses

Angewandt auf die Impfthematik bedeutet das, dass jedes Bedenken und jede Sorge der Impfskeptiker ernstgenommen werden muss. Schließlich haben sie durch ihr Misstrauen bewirkt, dass viele Problematiken um die Impfung genauer erforscht wurden, sodass es inzwischen viele Methoden gibt, um Impfschäden und Nebenwirkungen abzufangen oder zu heilen. Gefühle und rationale Argumente müssen entwirrt werden, sodass beide Aspekte gesondert betrachtet werden können. Es gilt, eine Basis zu finden, mit der der Unterschied zwischen Fakten und Fiktionen, wissenschaftlichen Ergebnisse und verzerrten Pseudoargumenten geklärt werden kann. Auf welche Metaerkenntnisse kann man sich einigen? Also welche Prüfungsmethode der Faktizität wird außer Zweifel gestellt und kann als Grundlage für eine gemeinsam akzeptierte relative Wahrheit gelten? Was sind vertrauenswürdige und seriöse Informationsquellen und wo ist die Grenze zwischen Faktenwissen und Spekulation? Wie können wir herausfinden, auf welche Weise Erkenntnisse zustande kommen, welche Standards der Wahrheitsfindung sind in Geltung? Welchen Quellen darf man Glauben schenken, und bei welchen muss man vorsichtig sein?

Verständigung braucht also einen erkenntnistheoretischen Basiskonsens: Wie können wir uns auf einen sicheren Zugang zu verlässlichen Informationen einigen, um damit eine gemeinsame Grundlage für das herzustellen, was als wirklich gelten kann? Wenn wir unterschiedliche Zugänge zur Gewinnung von relativer Wahrheit haben, wird jedes Gespräch im Sand verlaufen oder im unlösbaren Konflikt enden. 

Zum Weiterlesen:
Impfen, Wissen und Wissenschaft
Die Ethik des Impfens
Fixierungen in der Impfdebatte
Ethischer Perfektionismus und seine Überwindung



Donnerstag, 2. Dezember 2021

Ethischer Perfektionismus und seine Überwindung

Die Ethik erforscht die Beweggründe des menschlichen Handelns und ihre Auswirkungen auf das Zusammenleben der Menschen. Sie stellt die Frage nach dem Guten und dem Bösen und bewertet die Maßstäbe und Werte, nach denen die Menschen ihre Handlungen setzen. Ich gehe im Folgenden auf die ethischen Paradigmen ein, die vom Übergang von der fünften, personalistischen, zur sechsten, systemischen Bewusstseinsebene wichtig sind. In den vorhergehenden Blogbeiträgen zur Impf-Debatte habe ich vor allem auf das systemische Ethikparadigma zurückgegriffen, ohne es explizit zu erläutern, was hier nachgeholt wird.

Die personalistische Ethik

Ein wichtiges Merkmal der personalistischen Bewusstseinsstufe besteht darin, dass die Person in den Mittelpunkt der Ethik gerückt wurde: Jeder Mensch ist für seine Handlungen voll verantwortlich, und sein Gewissen gibt ihm Auskunft darüber, was gut und was böse ist. Der ethische Maßstab für das Bewerten der Handlungen wird ganz ins Subjekt verlegt, es muss vor sich selber rechtfertigen, was es tut. Diese Verinnerlichung der Ethik, bei der es primär nicht um das Befolgen von Standards geht, die von au8en durch die Gesellschaft oder die Machthaber vorgegeben sind, geht zurück auf den Einfluss des Christentums. Besonders durch die Reformation im 16. Jahrhundert wurde der Akzent der ethischen Fragestellung rigoros von außen nach innen verlegt.

Die Schuldspannung im personalistischen Bewusstsein  - das nie erreichbare Ideal des durch und durch guten Menschen ist die Grundlage für den ethischen Perfektionismus. In der religiösen Perspektive mit einem Schuldkonto verknüpft, das nach dem Tod ausgewertet und eingelöst wird und die Lebenschancen für die jenseitige Zukunft bestimmt, die mit der Ewigkeit gleichgesetzt ist. Das ganze Leben steht unter dem Gewissensdruck, es nie gut genug zu machen. Am Horizont wartet die Vorerinnerung an den Tod und an das unerbittliche Gericht, das danach kommt.

Hier liegen die Wurzeln des ethischen Perfektionismus, der Vorstellung, dass jede Handlung von der Erfüllung der höchsten Wertvorstellungen bestimmt sein muss und dass von ihrer Richtigkeit die persönliche Integrität abhängt. 

Alles, was diesem Anspruch nicht gerecht wird, muss als böse charakterisiert werden, in theologischer Sicht als Schädigung der Gottesbeziehung, profan betrachtet, als gemeinschafts- und sozialschädlich. Nach reformatorischer Ansicht kann nur Gott von der Schuld der ethischen Unvollkommenheit erlösen. Da immer ein Stück Unvollkommenheit selbst bei der besten Lebensführung verbleibt, gelingt es nie, diese Schuld vollständig zu tilgen. Es bleibt ein moralisches Minderwertigkeitsgefühl, das den Menschen ganz von der göttlichen Gnade abhängig macht.

In dem permanenten verinnerlichten Schulddruck findet sich einer der Gründe der Abkehr von der göttlichen Überinstanz in der Ethik, die noch von personalistischen Denkern wie Friedrich Nietzsche vollzogen wurde. Denn den  Autonomiebestrebungen, mit denen sich die moderne Person aus Abhängigkeiten befreien und selbst verwirklichen will, steht jede außermenschliche Moralinstanz im Weg.

Die systemische Ethik

Auf der folgenden Bewusstseinsebene wird auf die göttliche Korrekturinstanz in ethischen Belangen verzichtet und der Bezugspunkt der Ethik richtet sich auf das dynamische Gleichgewicht der Elemente von Systemen sowie der jeweiligen Systeme untereinander. Was ein System destabilisiert, widerspricht der Ethik, was es fördert und wachsen lässt, entspricht ihr. Der Blickpunkt geht weg vom Subjekt, das immer auch als Teil eines Systems wahrgenommen wird. Alle Entscheidungen, die wir treffen, alle Handlungen, die wir setzen, betreffen alle anderen Elemente des Systems und werden im Licht dieser Auswirkungen bewertet. Genauso sind wir von allen Entscheidungen und Handlungen der anderen Elemente mitbetroffen. Die Ethik dient also als Korrekturinstrument für die Abläufe in den Systemen. Alle Bewertungen sind relativ, auf den jeweiligen Kontext bezogen. Es gibt keine absoluten Moralinstanzen mehr, von denen alle abhängig sind und auf die man sich berufen kann.

In Bezug auf die Impfdebatte heißt das, dass es keine absolut richtige oder falsche Entscheidung geben kann. Es geht um die Abstimmung der Erfordernisse der einzelnen involvierten Systeme. Das eigene Körper-Seele-System steht, wie schon besprochen, im Sinn der personalen Ebene bei vielen im Vordergrund der Entscheidung, ob für oder wider die Impfung. Da diese Ebene untrennbar mit der sozialen Ebene verknüpft ist, gibt es in diesem Feld die meisten Auseinandersetzungen, die, weil sie personal geführt werden, zu keinen Fortschritten führen, sondern dazu, dass sich die unterschiedlichen Positionen verfestigen. Die Geimpften fühlen sich bedroht von den Nichtgeimpften, die Ungeimpften fühlen sich von den Geimpften unter Druck gesetzt und moralisch abgewertet. Manche von ihnen greifen darüber hinaus die Geimpften als die vergifteten und eigentlichen Bösewichte an, usw.

Die systemische Ebene fragt nicht danach, wer Recht hat und wer nicht, sondern sie wägt zwischen den Erfordernissen der Personen und der unterschiedlichen Systeme ab. Dazu werden nicht nur individuelle Erfahrungen und Urteile herangezogen, sondern vor allem die wissenschaftlichen Befunde, die den Blick auf größere Einheiten und deren Verfasstheiten ermöglichen. Nur über wissenschaftliche Datenerhebung kann abgeschätzt werden, welche Maßnahmen langfristig zu Erfolg führen und welche nicht. In der individuellen wie in der politisch-kollektiven Entscheidungsfindung, die sich in Hinblick auf das Impfen stellt, sollte das allen zugängliche und nachvollziehbare wissenschaftliche Wissen eine prominente Rolle spielen, weil es in der Lage ist, Egoismen, die von der personalen Ebene kommen, auszugleichen.

Das Ende des ethischen Perfektionismus

Auf der systemischen Ebene macht der ethische Perfektionismus keinen Sinn mehr. Je deutlicher sichtbar ist, in wie viele komplexe Zusammenhänge jedes menschliche Handeln eingebunden ist, desto klarer wird, dass es keine absolut richtigen Handlungen und Entscheidungen geben kann. Es gibt bei jedem Tun oder Nichttun Bereiche der Wirklichkeit, die Schäden erleiden. Jede Handlung ist ein Kompromiss zwischen den eigenen Bedürfnissen und denen der verschiedenen Systeme, deren Teil wir sind. Wenn wir viel konsumieren, schädigen wir die Umwelt; wenn wir wenig konsumieren, schädigen wir den Handel. Wenn wir uns impfen lassen, nehmen wir das Risiko von Nebenwirkungen und eventuellen langfristigen Schäden auf uns; wenn wir uns nicht impfen lassen, nehmen wir das Risiko von schwerer Erkrankung auf uns, ebenso wie das Risiko, im Fall der Infektion verstärkt andere anzustecken. 

Es sind diese beiden Risiken, die mich zur Einschätzung gebracht haben, dass das Impfen im Sinn der sozialen Systeme die ethisch bessere Entscheidung ist als das Nichtimpfen. Während für das Impfen die eigene Gesundheit wie die Gesunderhaltung anderer spricht, hat das Nichtimpfen nur einen möglichen (und nicht einmal wahrscheinlichen) individuellen Vorteil auf seiner Seite. In diese Einschätzung fließt das ein, was ich als Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschungen aufgefasst und verstanden habe. Es ist zwar keine absolut gültige Einschätzung, allerdings eine, die ich mit vielen teile und für die ich auf gute Argumente zurückgreifen kann. 

Die Bedeutung der Transparenz

Jede andere Einschätzung verdient Respekt und Achtung, muss sich aber auch die Anfrage an die Kriterien, auf denen sie beruht, gefallen lassen. Denn zur Wirksamkeit der Ethik in Systemen gehört ihre Rückkoppelungsfunktion. Das, was eine Person als wirk- oder heilsamer für ein System erachtet, kann nicht einfach vom Tisch gewischt oder ignoriert werden; dadurch würde nicht nur die Person, sondern das ganze System geschwächt. Es braucht die Debatte und Auseinandersetzung, die nur dann weiterführt, wenn sie ohne Machtansprüche oder Manipulationen abläuft. 

Eigene Entscheidungen, die das Ganze mitbetreffen, müssen in ihren Motiven transparent gemacht werden, damit es zum wechselseitigen Verständnis im System kommt. Auf dieser Basis entsteht Verständnis und Verbindung, wichtige Grundlagen für die von der Gemeinschaft getragene Weiterentwicklung. 

Es muss klar werden, welcher Anteil der Motivation aus der personalistischen Ebene stammt und nur den Eigeninteressen der Person gilt und welcher für die Gemeinschaft relevant ist. Es ist legitim, die eigenen Interessen mit zur berücksichtigen, doch nur, wenn sie öffentlich bekannt gemacht und untereinander abgestimmt sind, wenn also die personale mit der systemischen Ebene verknüpft wird. Korruption z.B. besteht darin, dass der individuelle Vorteil auf Kosten der Allgemeinheit gesucht wird und die entsprechenden Machenschaften geheim bleiben.

In der systemischen Ethik werden die Sichtweisen abgewogen und die Personen als gleichrangig betrachtet. Die eigene Person hat einen Platz, so wie die anderen. Ebenso haben die verschiedenen Wirklichkeitsbereiche ihren Platz: Die Gefühls- und die Gedankenwelt, das Regionale, das Nationale und das Internationale, das Innere und das Äußere, das Ich und die anderen usw. Die Ethik baut Brücken und saniert sie, wo sie brüchig werden. Denn alle Verbindungen müssen aufrecht bleiben und möglichst gut im Fluss sein, dann gedeihen die Systeme und bewältigen ihre Herausforderungen. 

Die universalistische Stufe

Das systemische Paradigma der Ethik ist nicht der Weisheit letzter Schluss, deshalb gibt es im Modell der Bewusstseinsevolution noch eine siebente Stufe. Sie ist jenseits der Ängste angesiedelt, die auch auf der systemischen Ebene noch eine Rolle spielen. Sie ist in Momenten gegenwärtig, in denen wir einfach tun, was zu tun ist, weil es sich in sich stimmig anfühlt. In dieser Stimmigkeit sind die beiden vorher besprochenen Bewusstseinsebenen enthalten. Das Gute und das Böse spielen keine Rolle mehr, weil die Bewertungsfreiheit der systemischen Ebene mitschwingt und verallgemeinert wird. Da diese Ebene in unserer Welt erst sporadisch vorkommt, spielt sie bei praktischen Fragen wie der Pandemiebekämpfung nur eine geringe Rolle. Sie kann uns jedoch dazu verhelfen, die Dramatik und Verbissenheit der Streitkulturen hinter uns zu lassen.

Zum Weiterlesen:
Impfen, Wissen und Wissenschaft
Die Ethik des Impfens
Fixierungen in der Impfdebatte