Samstag, 18. Dezember 2021

Langeweile: Keine Abenteuer im Kopf

Die Langeweile, die in die Länge gedehnte Weile, hat viele Gesichter. Sie kann ein kurzzeitiges Gefühl sein, das kommt und wieder geht. Sie kann sich bei bestimmten Gelegenheiten regelmäßig melden, bei denen wir irgendetwas, was gerade los ist, nicht interessant finden. Sie kann den Arbeitsprozess begleiten, wenn wir Tätigkeiten machen müssen, für die wir keine Motivation aufbringen und die unseren Neuigkeitsdrang nicht befriedigen. 

Wenn wir die Langeweile von innen her betrachten, können wir sie als eine Art Erschöpfungs- und Erstarrungsreaktion des Denkens verstehen. Sie ist ein mentales Phänomen und tritt auf, wenn wir vom Lebensprozess unseres Körpers abgespalten sind. Wir sind fixiert auf das Denken, das gerade mit dem, was ist, nichts anfangen kann und selber nichts Neues, Interessantes zustande bringt.

Dem Rest des Körpers ist nie fad. Die Nieren, die Leber, die Milz haben immer etwas zu tun, ebenso jede Zelle, jedes Gewebe, jeder Muskel. Der Körper ist dauernd in Bewegung, in Schwingungen, in Veränderungsprozessen. Informationen werden ausgetauscht und Prozesse optimiert, damit das komplizierte Regelwerk reibungslos funktioniert. Auch unsere Wahrnehmung ist im Wachzustand beständig aktiviert, die Augen und die Ohren müssen sogar die Menge an Eindrücken filtern, die von außen einströmen, damit sie mit ihrer Fülle zurechtkommen. 

Die Ablenkungsmaschinerien

Die Langeweile existiert also nur in einem kleinen Teil des Kopfes. Dennoch hat dieser Teil eine große Macht über unsere Befindlichkeit. Denn die Gefühle der Langeweile erleben wir als ziemlich unangenehm und lästig und wollen sie schnell loswerden. Die moderne Unterhaltungsindustrie hat ein riesiges Geschäftsmodell entwickelt, um die Menschen vor ihrer Langeweile zu bewahren. Trotz des massiven Angebots an Zerstreuung scheint es nicht so zu sein, dass die Menschen weniger an Langeweile leiden. Vielmehr ist es offenbar so, dass sich die Unterhaltungsangebote immer mehr selbst entwerten. Wir brauchen uns nur Fernsehshows anzuschauen, die wir vor dreißig Jahren lustig und abwechslungsreich gefunden haben und die heute träge und mäßig amüsant erscheinen.

Der Suchtcharakter der Unterhaltung

Die Zerstreuung als Gegenmittel zur Langeweile hat also Ähnlichkeiten mit Suchtmechanismen: Wir brauchen immer mehr, wir gieren nach Neuem und Intensiverem, um der Fadesse zu entrinnen. Deshalb müssen die Produkte der Ablenkungsindustrie immer greller, schneller und hektischer werden, um unsere Reize zumindest für einige Zeit zu fesseln. Es sind nicht mehr die Themen und Erzählstränge, die einen Film interessant machen, sondern die Reizkaskaden, die das Nervensystem der Zuschauer in Bann halten sollen. Ein Film oder ein Roman darf keine Längen und Leerläufe haben, eine Pointe muss die nächste jagen, sonst werden die Konsumenten nicht ihrer Langeweile gerettet, die sich in jeder Lücke, in der etwas Entspannung eintritt, melden wird. Schon ist das Publikum für immer verloren.

Langeweile und Routine

Immer wieder die gleichen Handgriffe zu machen, stereotype Bewegungen fortwährend zu wiederholen, die gleichen Gedanken nach vorne und nach hinten zu wälzen, routinierte Abläufe wieder und wieder auszuführen führt zu einer Form der Langeweile, in der sich die Zeit scheinbar ins Unendliche dehnt. Geistige Unterforderung wirkt genauso belastend wie Überforderung. Der Mangel an Anregungen lässt das Innere abstumpfen. Wo in der Erfahrung die Ecken und Kanten fehlen, die neue Reaktionen herausfordern, wo es keine unerwarteten Unterbrechungen in gewohnten Vorgängen gibt, die das Geschehen in eine unvorhergesehene Richtung lenken, geht die kreative Spannung verloren. 

Es ist diese aufregende Spannung, die uns ein besonderes Gefühl von Lebendigkeit und Wachstum gibt. Die Spannung der Neugier, die das Überraschende entdeckt und sich in seinen Zauber ergibt, bringt uns unmittelbar mit den expansiven Kräften des Lebens in Kontakt. Wo sie fehlt oder ausgezehrt ist, versiegt der Zugang zu diesen Lebensquellen. Auch wenn solche Routinetätigkeiten körperlich nicht anstrengend und geistig nicht beanspruchend sind, können sie Zustände von Erschöpfung und Ausgelaugtsein hervorbringen, die schwerer zu ertragen sind als die Arbeit von Möbelpackern.

Was können wir tun, um bei Laune zu bleiben, wenn wir Routine-Tätigkeiten machen müssen? Schlecht haben es jene, die sich mit eintöniger Arbeit ihr Einkommen verdienen müssen. Manche schätzen zwar die Überschaubarkeit und Gleichförmigkeit solcher Arbeiten, aber für viele stellen sie eine nagende Belastung dar, die zu drückenden Gefühlen und Verstimmungen als Folge einer Sinnentleerung führen kann. Hier können nur arbeitsorganisatorische Veränderungen helfen, um die Arbeitsabläufe menschengerechter zu gestalten, z.B. durch Job-Rotation.

Das Leben ist impulsiv und spontan

In der Langeweile hoffen wir auf eine Erlösung durch das Äußere. Irgendein Reiz soll kommen, der uns das unangenehme Gefühl nimmt. Wie können wir aber die Brüche in uns selbst erzeugen, die uns dann zum Kitten anregen? Wenn wir genauer nach innen spüren, finden sich dort immer Impulse, die uns aus der Lethargie und der gedehnten Zeiterfahrung führen. Unser Körper ist in dauernder Veränderung, ebenso unser Geist. Es liegt an uns, im richtigen Moment auf einen dieser Impulse aufzuspringen und ihn zuzulassen. Es kann eine überraschende Bewegung sein, die uns aus der langweiligen Routine herausholt oder eine neue Idee. Es kann etwas Unscheinbares sein, das plötzlich als etwas Besonderes erscheint. Wenn wir die kleinen Veränderungen, die in jedem Moment ablaufen, mit Aufmerksamkeit verfolgen, gibt es keine Langeweile mehr.

Wir sind sofort spontan, sobald wir aus den Schleifen der Denkgewohnheiten herausgetreten sind. Offenbar sind es alte, verstaubte Ängste, die uns in diese Schleifen einspannen. Dann stellen sich die öden Gefühle der Langeweile ein. Achten wir stattdessen auf unsere innere Lebendigkeit, dann binden wir uns an den Flow-Zustand an, an das Fließen von einem Moment zum nächsten. Das ist die Spontaneität, das Gegenmittel zur Langeweile. Allerdings können wir sie uns nicht verordnen („Sei doch endlich spontan!“). Wir brauchen sie nur zuzulassen, und das geschieht, sobald wir aus dem Kopfkino aussteigen, das stets die gleichen Filme abspult.

Die Chance in der Langeweile

Die Langeweile kann durchaus etwas Konstruktives und Positives sein, wenn wir nicht mit ihr hadern. Sie macht uns auf eine Pause in der Kette der interessanten Lebensmomente aufmerksam. Wir können diese Unterbrechung zum Nachdenken nutzen und Entscheidungen für eine sinnvolle Gestaltung unserer Lebenszeit vorbereiten. Wir tauchen in eine unerwartete Auszeit ein, die wir als Zeit der Muße definieren können, als ein Ausklinken aus den Funktionsabläufen des Lebens. Damit schaffen wir einen Kontrast zu einer Welt, die dauernd zum Produktivsein und Performen drängt, eine Welt, in der wir fortlaufend unseren Wert beweisen müssen. Wer nichts tut und nichts zu tun hat, ist wertlos. Deshalb darf niemand zugeben, Langeweile zu spüren. Vielmehr gilt es, herauszustreichen, wie gestresst man doch ist. 

Statt dass wir uns den Druck antun, mit dem wir meinen, jeden Moment des Lebens mit Sinn füllen zu müssen, lassen wir eine Pause zu. Dann können wir die Freiheit vom Zwang des Tuns und des Gefallens genießen. Auf diese Weise lassen wir das Quälende der Langeweile hinter uns und entdecken einen eigentümlichen Sinn in ihr, der tiefer gegründet ist als der Sinn, den wir mit unserem Tätigsein erzeugen. Wir kommen mehr zu uns selbst und zu dem, was wir sind, unabhängig von den Erwartungen, Zwängen und Ängsten.

Die Langeweile als Transformationspunkt

Von hier ist es nicht weit zum Portal, das von der Langeweile ins Nirvana führt. Blaise Pascal schreibt dazu: „Nichts ist so unerträglich für den Menschen, als sich in einer vollkommenen Ruhe zu befinden, ohne Leidenschaft, ohne Geschäfte, ohne Zerstreuung, ohne Beschäftigung. Er wird dann sein Nichts fühlen, seine Preisgegebenheit, seine Unzulänglichkeit, seine Abhängigkeit, seine Ohnmacht, seine Leere. Unaufhörlich wird aus dem Grund seiner Seele der Ennui aufsteigen, die Schwärze, die Traurigkeit, der Kummer, der Verzicht, die Verzweiflung.“  („Rien n’est si insupportable à l’homme que d’être dans un plein repos, sans passions, sans affaires, sans divertissement, sans application. Il sent alors son néant, son abandon, son insuffisance, sa dépendance, son impuissance, son vide. Incontinent il sortira du fond de son âme, l’ennui, la noirceur, la tristesse, le chagrin, le dépit, le désespoir.“) (Pensées diverses II – Fragment Nr. 25/37)

Die Leere in der Zeit, durch die die quälende Langeweile charakterisiert ist, dreht sich ins Unendliche der Zeitlosigkeit, allerdings nur, wenn wir sie als Drehpunkt verstehen und nutzen, als Chance für eine transformierende Veränderung. Fallen wir jedoch auf uns selber und unser Ego zurück, so landen wir in der von Pascal beschriebenen Verzweiflung; gelangen wir über uns selber hinaus, indem wir uns gewissermaßen in die vollkommene Ruhe und ihr Nichts fallen lassen und jeden Widerstand gegen die in die Länge gedehnte Zeit aufgeben, dann gelangen wir in den Raum der inneren Freiheit. In diesem Raum gibt es keine Langeweile mehr.

Zum Weiterlesen:
Gier und Neugier
Meditation und Langeweile
Langeweile, eine Form der Selbsttäuschung
Muße als Lebenskunst



Samstag, 11. Dezember 2021

Gier und Neugier

Zwei Strebungen in uns, die ähnlich und unähnlich zugleich sind. Gemeinsam ist ihnen, dass sie etwas wollen, was gerade nicht da ist. Es sind stark drängende Kräfte, die mit dem aktuellen Zustand nicht zufrieden sind und darüber hinaus wollen. 

Hier sind schon die Unterschiede: die Gier will etwas, das sie schon kennt, während die Neugier eben auf Neues aus ist. Die Gier resultiert aus uralten Mängeln, die unbedingt erfüllt werden müssen, sonst wäre die Frustration zu groß. Sie ist prinzipiell unersättlich, hat also nie genug. Sie ist zeitweilig erschöpft, wenn sie sich einmal überfressen hat. Sobald der üppige Schmaus verzehrt ist meldet sich schnell der gierige Hunger wieder. So geht es dem Völler, ähnlich der Säuferin und dem Geldscheffler. Weit verbreitet ist auch die Gier nach Anerkennung und Sex. Im Grund können Menschen nach allem, was es so gibt, gierig sein.  

Jedoch ist jedes der vielen Objekte der Gier ein Ersatzobjekt, das für die erlittene emotionale Unterernährung der Kindheit herhält. Da Objekte nie die Liebe geben können, die das Kind gebraucht hätte, kann es nie zu einer Erfüllung kommen. Die Gier führt nur zu weiterer Gier. Das ist die Tragik, die in der Gier steckt und die von ihr getriebenen Menschen ins Unglück treibt und dort festhält. 

In der Gier steckt die Massivität der kindlichen Frustrationen, die aus einer frühen überlebensangst stammt. Das Kind spürt, dass es ohne emotionale Versorgung und Zuwendung untergehen muss. Es setzt alles ein, um das zu verhindern. Aus dieser Dynamik stammt die Skrupellosigkeit, mit der gierige Menschen sogar über Leichen gehen können. Sie zeigen die Rücksichtslosigkeit, die wir von Suchtkranken kenn, denen jedes Mittel recht ist, um an den Stoff zu kommen. 

Die Gier kennt ihre eigenen Sehnsüchte, als Spannung zwischen dem permanenten inneren Mangel und der fantasierten Befriedigung. Die Sehnsucht, die aus der Gier stammt, wird als Leiden erlebt, weil das Ziel der Sehnsucht unerreichbar erscheint. Das Leben wird als unauflösbare Spannung zwischen den Polen der unerfüllten Gegenwart und einer nie eintretenden Erlösung, die immer wieder in der Fantasie ausgemalt wird, empfunden.  

Auf einer tieferen Ebene deutet die Sehnsucht an, dass es ein Jenseits des destruktiven Zyklus von Mangel und Befriedigung gibt, eine Ebene, auf der die quälende Kraft des Getriebenseins überwunden werden kann. Für jedes Leiden gibt es eine Heilung, und der erste Schritt ist immer, es als Leiden, für das man selbst die Verantwortung trägt, zu erkennen.  

Die gierige Person vermeint, die Heilung läge in der Aneignung des Objekts; das ist die Illusion, die sie durchschauen muss, um zur eigentlichen Heilung zu kommen. Es geht darum, die Wurzel des giergetriebenen Musters zu erkennen: Die unerfüllten kindlichen Bedürfnisse, für die die Objekte der Begierde als Ersatz herhalten müssen. Die seelischen Schmerzen, die mit diesen Frustrationen verbunden sind, müssen gespürt und durchlebt werden, um zur Heilung und Befreiung von der Qual der Gier zu gelangen. 

Nach hinten oder nach vorne schauen

Während die Gier immer an die Vergangenheit zurückgebunden ist, richtet sich die Neugier auf das Zukünftige, auf das Unbekannte. Es ist eine Lust am Abenteuer, am Weiten dessen, was gerade da ist. Aus dem, was ist, soll mehr werden, es soll wachsen, es soll sich in unbekannte Dimensionen hinein erstrecken. Die Neugier liegt im Staunen und Wundern, im Erleben des Unglaublichen und Unerwarteten, im Sprengen der Wahrnehmungsmuster und Denkgewohnheiten. Die Neugier erkennt das Einzigartige am gegenwärtigen Moment.  

Die einfache Gier ist ein Abkömmling der Angst und hat viele Querverbindungen zur Scham. Sie zählt deshalb zu den Schutzgefühlen, die aus Überlebensprogrammen stammen. Die Neugier dagegen ist dem Wachstumssektor der Gefühlslandschaft zugeordnet. Sie ist zuständig für alles, was die Menschen an Fortschritt und Verbesserung ihrer Lebensbedingungen im Lauf von Jahrtausenden erschaffen haben. Hinter jeder Erfindung steckt ein neugieriger Mensch, hinter jeder Entdeckung ebenfalls. Die Neugier ist der Antrieb der Kreativität, die etwas in die Welt setzen will, was es noch nicht gegeben hat. Jeder Künstler ist von Neugier motiviert, ebenso wie jede Wissenschaftlerin. Der Komponist ist neugierig, wie sich die Melodie im Kopf weiterentwickelt, die Schriftstellerin ist neugierig, was ihre Romanfigur als nächstes machen wird, der Maler sitzt vor der berühmten weißen Leinwand und lässt sich vom Pinsel und seinem Strich überraschen.  

Die Neugier und das Mysterium 

Kinder sind die Meister und Lehrmeister in der Neugier. Sie erstaunen und begeistern die Erwachsenen mit den Entdeckungen, die sie mit ihrer Lust am Neuen immer wieder aufspüren. Die leuchtenden Augen der Kinder weisen uns auf das Wunderbare hin, an Dingen oder Erfahrungen, was wir vielleicht abschätzig als Kleinigkeiten bezeichnen. Unermüdlich und spielerisch erforschen sie die Wirklichkeit um sie herum und eignen sich damit Schritt für Schritt ihren Platz in dieser Welt an. 

Von den Kindern lernen wir auch, wie sich die Neugier mit der Begeisterung verbindet. Das Neue, das uns auffällt, zeigt uns eine überraschende Seite des unendlichen Geistes, des Mysteriums des Seins. Jede Facette des uns umgebenden großen Geheimnisses öffnet eine Verbindung, die über unser kleines Ego hinausweist.  

Die erfolgreiche Suche, die die Neugier beflügelt hat, bereitet uns Freude und hebt unsere Stimmung. Manchmal fühlt es sich wie ein Durchbruch oder ein kreativer Schub an. Manchmal ist eine winzig kleine Entdeckung, die wir machen. Wir sind mit der Welt und ihren Schönheiten in besonders intensiver Weise verbunden. Wir teilen den Geist dieser vielfältigen und großen Welt der Erscheinungen.  

Die Neugier hat auch eine Verwandtschaft mit der Sehnsucht. Sie zeigt sich einerseits darin, dass wir eine Sehnsucht nach Neuem spüren können, wenn die Neugier kein Objekt findet. In der Langeweile, die immer eine Abwesenheit der Neugier ist, meldet sich die Sehnsucht nach Abwechslung, Ablenkung, Unterhaltung, damit die Neugier wieder Nahrung bekommt. 

Die Neugier führt uns schließlich auch auf den spirituellen Weg. Wir spüren offene Stellen und Mängel in uns und suchen die Ganzheit. Wir spüren die Enge des Egos in uns und streben nach Befreiung. Es meldet sich eine Kraft in uns, die uns sagt, dass es da noch mehr gibt. Neugierig machen wir uns auf der Suche nach dem Innersten des Mysteriums. 

Zum Weiterlesen:
Gier und Selbstzerstörung
Wirtschaft ohne Gier
Das Giersystem im Kapitalismus
Konsum und Gier
Kreative und reaktive Fantasien


Mittwoch, 8. Dezember 2021

Die Impf-Kommunikation

Die Pandemie-Krise hat im Zusammenhang mit der Impfthematik auch ein massives gesellschaftspolitisches Kommunikationsproblem aufgezeigt. Es gelingt der Staatsverwaltung nicht, die eigenen Intentionen und Pläne ausreichend an die Frau und den Mann zu bringen und verständlich zu machen, sodass genügend Menschen impfen gehen und die Virenverbreitung minimiert wird.  

Ebenso verhallen die einschlägigen Appelle der Wissenschaft bei vielen Adressaten erfolglos, vielmehr tragen sie offensichtlich zusätzlich zum Anstieg der Wissenschaftsskepsis bei. Die Überforderungs- und Verzweiflungssignale der überforderten Intensivmediziner und des überbelasteten Spitalspersonals stoßen bei denen, an die sie gerichtet sind, auf Abwehr, Verharmlosung oder durch Fake-News gespeiste Umdeutungen.  

Es geht hier nicht um die Adressaten, also die Impfunwilligen in der Bevölkerung, sondern um die andere Seite der Kommunikation: Die Unfähigkeit, die Botschaft so zu übermitteln, dass sie zur erwünschten Handlung führt. Dieses Kommunikationsproblem kann als Vermittlungsschwierigkeit von der sechsten zur fünften Bewusstseinsstufe verstanden werden.  

Die Logik der Bewusstseinsevolution verläuft so, dass die nächstfolgende Stufe die wichtigsten Elemente der vorigen beinhaltet, sie weiterentwickelt und in neue Zusammenhänge stellt. Klar ist, dass die Perspektiven und Denkweisen der nächstfolgenden Stufe von den Menschen auf der vorigen nicht automatisch verstanden werden und auf Widerstand stoßen. Sie stellen ja die Prinzipien des eigenen Bewusstseins in Frage und fordern eine Weiterentwicklung, die ins Unbekannte führt und deshalb riskant ist. Vor jedem Schritt auf ein neues Organisationsniveau meldet sich die Angst vor dem Neuen und Unbekannten und die Angst, Vertrautes und Gewohntes aufgeben zu müssen, auch wenn es nicht wirklich mehr nützlich ist und einengt. Es liegt an der höheren Stufe, die Vermittlungswege anzubieten, die es den Leuten, die auf der vorigen Stufe verankert sind, schmackhaft machen, den Schritt auf die nächste Stufe zu wagen.   

Die Impf-Kommunikation

Ich gehe in Bezug auf die gegenwärtigen Situation von der Annahme aus, dass die Gesundheitsverwaltung, die in enger in enger Zusammenarbeit mit der Wissenschaft ihre Verordnungen und Maßnahmen setzt, auf einer systemischen Ebene, also auf der sechsten Bewusstseinsstufe argumentiert: Sie will dafür sorgen, dass das Gesundheitssystem seine Leistungsfähigkeit behalten kann, und darüber hinaus, dass durch die dafür notwendigen Maßnahmen der beste Nutzen für möglichst viele in der Krisensituation erzielt werden kann, bzw. dass die Schäden möglichst gering bleiben. Dazu wird ein Prozedere gewählt, das nach den wissenschaftlichen Erkenntnissen dazu am dienlichsten ist.  

Viele, die mit diesen Argumentationen nichts anfangen können, kommen hingegen von der personalistischen Ebene, das den eigenen Körper und die eigene Seele über alles andere stellt, und diese Personen fühlen sich von den Appellen der Politik, der Wissenschaft und des Gesundheitswesens weder verstanden noch unterstützt. Deshalb verstehen sie ihrerseits die Anliegen der Regierung nicht, setzen die empfohlenen Maßnahmen nicht um und protestieren und rebellieren dagegen.  Wir haben es mit einem Vermittlungsproblem zwischen diesen beiden Ebenen zu tun.    

Am Beispiel der Impf-Kommunikation zeigt sich in vielen Ländern, wie schwierig es offensichtlich ist, die Abwehr der vorigen Entwicklungsstufe gegen das Neue zu überwinden. Die mRNA-Impfstoffe z.B., bei denen eine relativ neue Biotechnologie angewendet wird, die vielen Laien unbekannt ist, haben große irrationale Ängste ausgelöst. Viele wollen sich nur mit Impfstoffen impfen lassen, die schon auf lange bekannten Grundlagen beruhen.

Die Impfpflicht und die politische Regression

Nun hat die Regierung in Österreich aus der misslungenen Kommunikation und Überzeugungsarbeit den Schluss gezogen, die Impfpflicht zu verhängen. Es müssen sich also auch die Unwilligen der Impfung unterziehen, wenn sie nicht bestraft werden wollen. Der Staat wechselt damit von der systemischen auf die hierarchische Ebene, von der sechsten auf die dritte Stufe, um mittels Staatsgewalt das Verhalten zu erzwingen, das durch Überzeugungsarbeit nicht zustande gebracht werden konnte. Da ist es dann nicht verwunderlich, dass Teile der solcherart in eine Zwangslage Geratenen noch eine Stufe darunter regredieren und zu Verweigerung und Widerstand aufrufen, indem sie der Regierung die demokratische Legitimation absprechen und sich in einer Diktatur fühlen. 

Andererseits ist es aus der Sicht der Staatsverwaltung und der Politik nachvollziehbar, dass die systemische Ebene verlassen wurde, weil durch die Engpässe im Gesundheitssystem ein Zeitdruck entstanden ist und keine langwierigen Überzeugungskampagnen mehr geführt werden können. Außerdem zeigt die Erfahrung, dass das Andauern der Pandemie bei vielen die Ängste steigert und dass sich dadurch die einmal eingenommenen Positionen (für oder wider die Impfung) immer mehr verhärten, sodass Gespräche immer mühsamer und sinnloser werden. 

Dazu kommt, dass systemische Entscheidungsfindungen im Allgemeinen einen hohen Zeitbedarf haben. Sie gedeihen nur gut unter stressfreien Rahmenbedingungen und bringen nur dann Frucht, wenn alle Beteiligten und Betroffenen mit ihren Sichtweisen, Ängsten und Erwartungen ausreichend einbezogen werden. Deshalb ist es für Einzelpersonen wie für Verwaltungssysteme äußerst schwierig, unter äußerem Stress das systemische Bewusstsein aufrechtzuerhalten. 

Die Notwendigkeit der Stärkung der systemischen Vernunft

Was kann die systemische Ebene dazu beitragen, die Motivation zum Überstieg in diese Bewusstseinsform zu stärken? Obwohl in Österreich der Zug zur gütlichen Verständigung mit den Impfgegnern abgefahren ist, ist die Frage wichtig, wie die  systemische Ebene die personalistische erreichen könnte. Anders gefragt: Wie könnte das systemische Niveau das Vertrauen erwerben, das es braucht, um sich auf breiterer Basis zu etablieren? Es ist nämlich ziemlich klar, dass wir, abgesehen von der Pandemie, ohne die Erforschung der Komplexität, die eine systemische Spezialität ist, die Herausforderungen der Zeit und der Zukunft nicht meistern können, ob es sich nun um die Pandemie, die Klimakrise, die Schere zwischen arm und reich oder das Finanzsystem handelt. In all diesen Fragen hat das personalistische Bewusstsein ausgedient. Wenn es nicht gelingt, in der Gesellschaft eine breite Basis für systemisches Denken und systemische Vernunft aufzubauen, gerät der Weiterbestand der Menschheit in ernsthafte Bedrängnis. 

Widerstand in der systemischen Integration

Praktisch geht es darum, wie man systemisch mit Widerstand und Abwehr umgeht. Es gilt, alles, was zum System gehört, als Teil des Systems zu verstehen, also auch das, was sich dagegen wehrt, Teil des Systems zu sein. Die Frage an diesen Teil ist, was er braucht, damit er sich als zugehörig erfährt und wohlfühlen kann.  Dazu gehört, dass seine Funktion im System gesehen und anerkannt wird. 

Das systemische Umgehen mit Widerstand besteht darin, so lange kommunizieren, bis er sich in eine Ressource verwandelt. Es gilt zu verstehen, dass der Widerstand eine Schutzfunktion hatte, die allerdings jetzt nicht mehr benötigt wird – die Würdigung verhilft zur Transformation. Die Abwehr kann sich erst öffnen, wenn sie gesehen, in ihrem Wert verstanden und ernstgenommen wird.  

Abwehr und Adoleszenz

Jede Abwehr enthält eine Ähnlichkeit mit der Energie der Adoleszenz. Deshalb wählen wir hier die hypothetische Annahme, dass sich viele der Impfgegner mit ihrem Thema psychodynamisch betrachtet adoleszenter Motivationen und Gefühlsmuster bedienen. Damit ist nicht gemeint, dass jeder Widerstand gegen das Impfen pubertär wäre, was ja eine ungebührliche Abwertung der betreffenden Personen darstellen würde. Vielmehr geht es darum, die Trieb- und Abwehrkräfte zu verstehen, die in diesem Kommunikationspatt mitspielen, vor dem Verständnis, dass jeder erwachsene Mensch die adoleszenten Strebungen und Motivationen in sich trägt und zu bestimmten Gelegenheiten aktiviert, und das oft durchaus sinnvoll. Solche Motivations- und Reaktionsmuster können auch bei Impfbefürwortern eine Rolle spielen und sich in ihr Verhalten einmischen. Es ist weiters offensichtlich, dass bei der Ablehnung der Impfung unterschiedliche Motive mitspielen, von denen viele einer erwachsenen rationalen Prüfung Stand halten können.  

Doch scheint es, dass die adoleszenten Anteile in dieser Szenerie eine besondere Rolle im angesprochenen Vermittlungsproblem spielen. Denn das systemische Bewusstsein ist gleichzusetzen mit der reifen, bedachten, rational und emotional ausgeglichenen Erwachsenenhaltung. Und zwischen Erwachsenen und heranwachsenden Jugendlichen gibt es seit jeher Verständnis- und Kommunikationspotenzial sowie viel Konfliktstoff.  Evolutionär betrachtet, sind diese Konflikte ein notwendiger Bestandteil des gesellschaftlichen Fortschritts. 

Adoleszente wollen als erwachsener gesehen und behandelt werden, als sie es aktuell sind. Sie haben das Gefühl, dass sie vieles besser verstehen und durchblicken als die in ihren Meinungen festgefahrenen und verzopften „Alten“. Sie wissen alles besser, kennen sich überall besser aus, haben Informationsquellen, die sonst niemand hat usw. Diese Überzeugung brauchen sie auch, weil sie ja als die nächste Generation die Gesellschaft mit neuen und besseren Ideen gestalten werden. 

Jugendliche wollen keine Moralisierungen und lassen sich auch nicht durch Belohnungen kaufen. Zugleich brauchen sie die Bereitschaft zur Nachsicht und Fürsorge, sie wollen sich auf die Sicherheit verlassen können, dass wer da ist, wenn etwas schief geht. Sie sind gewissermaßen nur Erwachsene auf Probe und lernen erst, mit dieser Verantwortung umzugehen. Insgeheim setzen sie auf „Vater Staat“, der ihnen die Ausbildung und die soziale Absicherung zur Verfügung stellt, während sie ihn andererseits ablehnen und bekämpfen – wie sie es auch trotz aller Kritik schätzen, dass sie sich auf ihre Eltern verlassen können und nicht missen wollen, dass ihnen die Wäsche gewaschen wird. 

Über die Notwendigkeit eines erkenntnistheoretischen Basiskonsenses

Angewandt auf die Impfthematik bedeutet das, dass jedes Bedenken und jede Sorge der Impfskeptiker ernstgenommen werden muss. Schließlich haben sie durch ihr Misstrauen bewirkt, dass viele Problematiken um die Impfung genauer erforscht wurden, sodass es inzwischen viele Methoden gibt, um Impfschäden und Nebenwirkungen abzufangen oder zu heilen. Gefühle und rationale Argumente müssen entwirrt werden, sodass beide Aspekte gesondert betrachtet werden können. Es gilt, eine Basis zu finden, mit der der Unterschied zwischen Fakten und Fiktionen, wissenschaftlichen Ergebnisse und verzerrten Pseudoargumenten geklärt werden kann. Auf welche Metaerkenntnisse kann man sich einigen? Also welche Prüfungsmethode der Faktizität wird außer Zweifel gestellt und kann als Grundlage für eine gemeinsam akzeptierte relative Wahrheit gelten? Was sind vertrauenswürdige und seriöse Informationsquellen und wo ist die Grenze zwischen Faktenwissen und Spekulation? Wie können wir herausfinden, auf welche Weise Erkenntnisse zustande kommen, welche Standards der Wahrheitsfindung sind in Geltung? Welchen Quellen darf man Glauben schenken, und bei welchen muss man vorsichtig sein?

Verständigung braucht also einen erkenntnistheoretischen Basiskonsens: Wie können wir uns auf einen sicheren Zugang zu verlässlichen Informationen einigen, um damit eine gemeinsame Grundlage für das herzustellen, was als wirklich gelten kann? Wenn wir unterschiedliche Zugänge zur Gewinnung von relativer Wahrheit haben, wird jedes Gespräch im Sand verlaufen oder im unlösbaren Konflikt enden. 

Zum Weiterlesen:
Impfen, Wissen und Wissenschaft
Die Ethik des Impfens
Fixierungen in der Impfdebatte
Ethischer Perfektionismus und seine Überwindung



Donnerstag, 2. Dezember 2021

Ethischer Perfektionismus und seine Überwindung

Die Ethik erforscht die Beweggründe des menschlichen Handelns und ihre Auswirkungen auf das Zusammenleben der Menschen. Sie stellt die Frage nach dem Guten und dem Bösen und bewertet die Maßstäbe und Werte, nach denen die Menschen ihre Handlungen setzen. Ich gehe im Folgenden auf die ethischen Paradigmen ein, die vom Übergang von der fünften, personalistischen, zur sechsten, systemischen Bewusstseinsebene wichtig sind. In den vorhergehenden Blogbeiträgen zur Impf-Debatte habe ich vor allem auf das systemische Ethikparadigma zurückgegriffen, ohne es explizit zu erläutern, was hier nachgeholt wird.

Die personalistische Ethik

Ein wichtiges Merkmal der personalistischen Bewusstseinsstufe besteht darin, dass die Person in den Mittelpunkt der Ethik gerückt wurde: Jeder Mensch ist für seine Handlungen voll verantwortlich, und sein Gewissen gibt ihm Auskunft darüber, was gut und was böse ist. Der ethische Maßstab für das Bewerten der Handlungen wird ganz ins Subjekt verlegt, es muss vor sich selber rechtfertigen, was es tut. Diese Verinnerlichung der Ethik, bei der es primär nicht um das Befolgen von Standards geht, die von au8en durch die Gesellschaft oder die Machthaber vorgegeben sind, geht zurück auf den Einfluss des Christentums. Besonders durch die Reformation im 16. Jahrhundert wurde der Akzent der ethischen Fragestellung rigoros von außen nach innen verlegt.

Die Schuldspannung im personalistischen Bewusstsein  - das nie erreichbare Ideal des durch und durch guten Menschen ist die Grundlage für den ethischen Perfektionismus. In der religiösen Perspektive mit einem Schuldkonto verknüpft, das nach dem Tod ausgewertet und eingelöst wird und die Lebenschancen für die jenseitige Zukunft bestimmt, die mit der Ewigkeit gleichgesetzt ist. Das ganze Leben steht unter dem Gewissensdruck, es nie gut genug zu machen. Am Horizont wartet die Vorerinnerung an den Tod und an das unerbittliche Gericht, das danach kommt.

Hier liegen die Wurzeln des ethischen Perfektionismus, der Vorstellung, dass jede Handlung von der Erfüllung der höchsten Wertvorstellungen bestimmt sein muss und dass von ihrer Richtigkeit die persönliche Integrität abhängt. 

Alles, was diesem Anspruch nicht gerecht wird, muss als böse charakterisiert werden, in theologischer Sicht als Schädigung der Gottesbeziehung, profan betrachtet, als gemeinschafts- und sozialschädlich. Nach reformatorischer Ansicht kann nur Gott von der Schuld der ethischen Unvollkommenheit erlösen. Da immer ein Stück Unvollkommenheit selbst bei der besten Lebensführung verbleibt, gelingt es nie, diese Schuld vollständig zu tilgen. Es bleibt ein moralisches Minderwertigkeitsgefühl, das den Menschen ganz von der göttlichen Gnade abhängig macht.

In dem permanenten verinnerlichten Schulddruck findet sich einer der Gründe der Abkehr von der göttlichen Überinstanz in der Ethik, die noch von personalistischen Denkern wie Friedrich Nietzsche vollzogen wurde. Denn den  Autonomiebestrebungen, mit denen sich die moderne Person aus Abhängigkeiten befreien und selbst verwirklichen will, steht jede außermenschliche Moralinstanz im Weg.

Die systemische Ethik

Auf der folgenden Bewusstseinsebene wird auf die göttliche Korrekturinstanz in ethischen Belangen verzichtet und der Bezugspunkt der Ethik richtet sich auf das dynamische Gleichgewicht der Elemente von Systemen sowie der jeweiligen Systeme untereinander. Was ein System destabilisiert, widerspricht der Ethik, was es fördert und wachsen lässt, entspricht ihr. Der Blickpunkt geht weg vom Subjekt, das immer auch als Teil eines Systems wahrgenommen wird. Alle Entscheidungen, die wir treffen, alle Handlungen, die wir setzen, betreffen alle anderen Elemente des Systems und werden im Licht dieser Auswirkungen bewertet. Genauso sind wir von allen Entscheidungen und Handlungen der anderen Elemente mitbetroffen. Die Ethik dient also als Korrekturinstrument für die Abläufe in den Systemen. Alle Bewertungen sind relativ, auf den jeweiligen Kontext bezogen. Es gibt keine absoluten Moralinstanzen mehr, von denen alle abhängig sind und auf die man sich berufen kann.

In Bezug auf die Impfdebatte heißt das, dass es keine absolut richtige oder falsche Entscheidung geben kann. Es geht um die Abstimmung der Erfordernisse der einzelnen involvierten Systeme. Das eigene Körper-Seele-System steht, wie schon besprochen, im Sinn der personalen Ebene bei vielen im Vordergrund der Entscheidung, ob für oder wider die Impfung. Da diese Ebene untrennbar mit der sozialen Ebene verknüpft ist, gibt es in diesem Feld die meisten Auseinandersetzungen, die, weil sie personal geführt werden, zu keinen Fortschritten führen, sondern dazu, dass sich die unterschiedlichen Positionen verfestigen. Die Geimpften fühlen sich bedroht von den Nichtgeimpften, die Ungeimpften fühlen sich von den Geimpften unter Druck gesetzt und moralisch abgewertet. Manche von ihnen greifen darüber hinaus die Geimpften als die vergifteten und eigentlichen Bösewichte an, usw.

Die systemische Ebene fragt nicht danach, wer Recht hat und wer nicht, sondern sie wägt zwischen den Erfordernissen der Personen und der unterschiedlichen Systeme ab. Dazu werden nicht nur individuelle Erfahrungen und Urteile herangezogen, sondern vor allem die wissenschaftlichen Befunde, die den Blick auf größere Einheiten und deren Verfasstheiten ermöglichen. Nur über wissenschaftliche Datenerhebung kann abgeschätzt werden, welche Maßnahmen langfristig zu Erfolg führen und welche nicht. In der individuellen wie in der politisch-kollektiven Entscheidungsfindung, die sich in Hinblick auf das Impfen stellt, sollte das allen zugängliche und nachvollziehbare wissenschaftliche Wissen eine prominente Rolle spielen, weil es in der Lage ist, Egoismen, die von der personalen Ebene kommen, auszugleichen.

Das Ende des ethischen Perfektionismus

Auf der systemischen Ebene macht der ethische Perfektionismus keinen Sinn mehr. Je deutlicher sichtbar ist, in wie viele komplexe Zusammenhänge jedes menschliche Handeln eingebunden ist, desto klarer wird, dass es keine absolut richtigen Handlungen und Entscheidungen geben kann. Es gibt bei jedem Tun oder Nichttun Bereiche der Wirklichkeit, die Schäden erleiden. Jede Handlung ist ein Kompromiss zwischen den eigenen Bedürfnissen und denen der verschiedenen Systeme, deren Teil wir sind. Wenn wir viel konsumieren, schädigen wir die Umwelt; wenn wir wenig konsumieren, schädigen wir den Handel. Wenn wir uns impfen lassen, nehmen wir das Risiko von Nebenwirkungen und eventuellen langfristigen Schäden auf uns; wenn wir uns nicht impfen lassen, nehmen wir das Risiko von schwerer Erkrankung auf uns, ebenso wie das Risiko, im Fall der Infektion verstärkt andere anzustecken. 

Es sind diese beiden Risiken, die mich zur Einschätzung gebracht haben, dass das Impfen im Sinn der sozialen Systeme die ethisch bessere Entscheidung ist als das Nichtimpfen. Während für das Impfen die eigene Gesundheit wie die Gesunderhaltung anderer spricht, hat das Nichtimpfen nur einen möglichen (und nicht einmal wahrscheinlichen) individuellen Vorteil auf seiner Seite. In diese Einschätzung fließt das ein, was ich als Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschungen aufgefasst und verstanden habe. Es ist zwar keine absolut gültige Einschätzung, allerdings eine, die ich mit vielen teile und für die ich auf gute Argumente zurückgreifen kann. 

Die Bedeutung der Transparenz

Jede andere Einschätzung verdient Respekt und Achtung, muss sich aber auch die Anfrage an die Kriterien, auf denen sie beruht, gefallen lassen. Denn zur Wirksamkeit der Ethik in Systemen gehört ihre Rückkoppelungsfunktion. Das, was eine Person als wirk- oder heilsamer für ein System erachtet, kann nicht einfach vom Tisch gewischt oder ignoriert werden; dadurch würde nicht nur die Person, sondern das ganze System geschwächt. Es braucht die Debatte und Auseinandersetzung, die nur dann weiterführt, wenn sie ohne Machtansprüche oder Manipulationen abläuft. 

Eigene Entscheidungen, die das Ganze mitbetreffen, müssen in ihren Motiven transparent gemacht werden, damit es zum wechselseitigen Verständnis im System kommt. Auf dieser Basis entsteht Verständnis und Verbindung, wichtige Grundlagen für die von der Gemeinschaft getragene Weiterentwicklung. 

Es muss klar werden, welcher Anteil der Motivation aus der personalistischen Ebene stammt und nur den Eigeninteressen der Person gilt und welcher für die Gemeinschaft relevant ist. Es ist legitim, die eigenen Interessen mit zur berücksichtigen, doch nur, wenn sie öffentlich bekannt gemacht und untereinander abgestimmt sind, wenn also die personale mit der systemischen Ebene verknüpft wird. Korruption z.B. besteht darin, dass der individuelle Vorteil auf Kosten der Allgemeinheit gesucht wird und die entsprechenden Machenschaften geheim bleiben.

In der systemischen Ethik werden die Sichtweisen abgewogen und die Personen als gleichrangig betrachtet. Die eigene Person hat einen Platz, so wie die anderen. Ebenso haben die verschiedenen Wirklichkeitsbereiche ihren Platz: Die Gefühls- und die Gedankenwelt, das Regionale, das Nationale und das Internationale, das Innere und das Äußere, das Ich und die anderen usw. Die Ethik baut Brücken und saniert sie, wo sie brüchig werden. Denn alle Verbindungen müssen aufrecht bleiben und möglichst gut im Fluss sein, dann gedeihen die Systeme und bewältigen ihre Herausforderungen. 

Die universalistische Stufe

Das systemische Paradigma der Ethik ist nicht der Weisheit letzter Schluss, deshalb gibt es im Modell der Bewusstseinsevolution noch eine siebente Stufe. Sie ist jenseits der Ängste angesiedelt, die auch auf der systemischen Ebene noch eine Rolle spielen. Sie ist in Momenten gegenwärtig, in denen wir einfach tun, was zu tun ist, weil es sich in sich stimmig anfühlt. In dieser Stimmigkeit sind die beiden vorher besprochenen Bewusstseinsebenen enthalten. Das Gute und das Böse spielen keine Rolle mehr, weil die Bewertungsfreiheit der systemischen Ebene mitschwingt und verallgemeinert wird. Da diese Ebene in unserer Welt erst sporadisch vorkommt, spielt sie bei praktischen Fragen wie der Pandemiebekämpfung nur eine geringe Rolle. Sie kann uns jedoch dazu verhelfen, die Dramatik und Verbissenheit der Streitkulturen hinter uns zu lassen.

Zum Weiterlesen:
Impfen, Wissen und Wissenschaft
Die Ethik des Impfens
Fixierungen in der Impfdebatte



Dienstag, 30. November 2021

Fixierungen in der Impfdebatte

Viele, die sich nicht impfen lassen wollen, sind stark in der personalistischen Haltung verankert. Von dort nehmen sie die Sicherheit und den Gegenhalt gegen das ethische Solidaritätsargument, das im vorigen Blogartikel besprochen wurde und das von der systemischen Ebene stammt. Es geht ihnen um die Rechte der Person, die über die Jahrhunderte gegen die Zugriffe der Mächtigen erkämpft wurden, um die Integrität und den Schutz vor jeder Verletzung und Intrusion. Von außen darf nichts ohne ausdrückliche Zustimmung in die Sphäre der eigenen Person eindringen. Das Impfen gilt dann als abschreckendes Beispiel für eine derartige Grenzüberschreitung. Der Impfstoff dringt in den Körper ein und setzt sich dort für immer fest, das Innere ist dauerhaft kontaminiert, so die angstbesetzte Auffassung von Menschen, bei denen durch die Vorstellung der Impfung frühere derartige Traumatisierungen aktiviert werden. 

Deshalb ist es für manche Menschen einfacher und leichter, sich absichtlich anstecken zu lassen, als sich einer Impfung auszuliefern. Obwohl das Risiko bei dieser Methode der Immunisierung sehr hoch ist, schwer zu erkranken, wird dieser Weg gewählt, weil die Kontrolle bei einem selber liegt: Ich entscheide, was in mich hineinkommt und wie es in mich hineinkommen. Aus irgendeinem Grund gelten Viren in diesen Fällen als harmloser als der Impfstoff, vielleicht deshalb, weil Viren als etwas Natürliches und Impfstoffe als etwas Künstliches aufgefasst werden. 

Die innere Prüfinstanz 

Im personalistischen Denken muss alles, was als äußere Maßnahmen vorgegeben wird, mit der eigenen Innerlichkeit abgestimmt und in Übereinstimmung gebracht werden. Nur wenn es diese Prüfung besteht, wird es umgesetzt. Wenn nicht, muss dagegen Widerstand geleistet werden. Die letztgültige Instanz für alles, was mit einem geschieht, liegt im Inneren der Person. Darauf darf niemand anderer einen Zugriff haben. Wenn einem das Tragen von Masken nicht gefällt und innerlich widerstrebt und wenn dessen Nutzen nicht einsichtig ist, handelt es sich um einen Zwang, gegen den man sich zur Wehr setzen muss. Wenn einem das Impfen nicht behagt und gefährlich erscheint und der Nutzen in Zweifel gezogen wird, darf es nicht erzwungen werden, sonst wäre das Grundrecht auf die eigene innere Sphäre und den eigenen Körper verletzt.  

Die Anpassung an vorgegebene Normen erscheint wie ein Verrat an sich selbst. Das haben wir wohl alle in unserer Kindheit erlebt, meist als unbewusst ablaufender Prozess: Erwartungen und Regeln, die unsere Eltern von uns verlangt und eingefordert haben, haben uns zur Anpassung gezwungen, weil wir keine Alternative hatten. Wir mussten auf unser eigenes Spüren und Fürwahrhalten verzichten und uns verbiegen. Dieses Drama wird wiederinszeniert, wenn die Regierungen Maßnahmen verkünden, die uns zur Anpassung zwingen wollen. Nur kann es sein, dass wir die Sinnhaftigkeit solcher Regeln gar nicht genauer überlegen, sondern dass wir aus den emotionalen Verletzungen unserer Kindheit heraus reagieren, indem wir gegen den Zwang rebellieren. 

Gesellschaften brauchen immer Regeln und Normen, und wir passen uns an viele dieser Regeln an. Oft brauchen wir Zeit zum Lernen und opponieren anfangs dagegen, wie z.B. bei der Einführung der Gurtenpflicht, und irgendwann ist das neue Verhalten angenommen, läuft automatisiert ab und bereitet keine Probleme mehr. Viele haben diesen Prozess beim Maskentragen durchlaufen. Vielleicht muss es beim Impfen auch einen derartigen Prozess geben, sollte uns das Mutieren und Variieren dieses Virus noch längere Zeit in Bann halten. 

Die Angst vor dem Autonomieverlust 

Die persönliche Autonomie ist ein Hauptgewinn der personalistischen Bewusstseinsstufe, erreicht über Aufstände, Revolutionen und öffentliche Willensbildung. Sie ist ein wichtiges Gut, das vor jedem Rückfall in Fremdbestimmung und obrigkeitliches Diktat bewahrt werden muss. Deshalb ist es heikel, wenn daran gerüttelt wird, und in der Impffrage meldet sich diese Thematik bei vielen sehr vehement. Die Gesundheitsvorsorge wird als integraler Bestandteil der eigenen Autonomie verstanden, was ein wichtiger Schritt ist: Im Unterschied zur bürokratischen Bewusstseinsebene wird sie nicht der Obrigkeit oder Experten alleine anvertraut.  

Die ganze Debatte könnten wir uns ersparen, wenn es nicht um die Impfung vor einer ansteckenden Krankheit geht; Corona hat leider diese Komponente in hohem Maß und hält deshalb seit bald zwei Jahren die Welt in Atem. Damit ist die eigene Gesundheitsvorsorge untrennbar Teil der allgemeinen Gesundheitsvorsorge. Die Autonomiebestrebungen kreuzen sich mit den Solidaritätserfordernissen. Impfen oder Nichtimpfen hat unweigerlich soziale Auswirkungen und ist damit nicht mehr allein meine eigene Entscheidung, in die mir niemand dreinzureden hat. 

Die innere Intimität 

Die Intimität mit mir selber ist eine besondere Qualität, die eine große Errungenschaft der Moderne im Gefolge der Aufklärung darstellt. Das Recht auf Privatheit ist historisch gesehen ein junger Erfolg für die Freiheit des Einzelnen. Seit der 60er-Bewegung wurde dieses Recht explizit auf den eigenen Körper bezogen: „Der Körper gehört mir,“ ist ein Slogan beim Kampf um die Freigabe der Abtreibungen. Die Angst, dieses Recht zu verlieren, sitzt vielen in den Knochen und äußert sich im Kontext der Impfdebatte. 

Das ist das Credo auf der personalistischen Stufe: „Was ich spüre, stimmt und ist die unmittelbarste mir zugängliche Erfahrung. Sie nehme ich als Richtschnur für mein Handeln.“ Es gilt allerdings auch nur in diesem internen Zusammenhang. Wenn die Dinge komplexer werden, ist sie nur mehr ein Faktor unter vielen anderen, die berücksichtigt werden müssten. Für komplexere Zusammenhänge brauchen wir solide äußere Informationsquellen, die wir mit den inneren Stimmen ins Gespräch bringen. Diese Quellen sind vor allem die Einsichten und Erfahrungen der Mitmenschen und die Erkenntnisse der Wissenschaft. 

Die Chemie und die Körperidentität 

Für viele besteht eine Hemmschwelle vor dem Impfen darin, dass es eine abschreckende Vorstellung ist, technisch hergestellte Chemie in den Körper hereinzulassen. Die Impfstoffe sind nicht nur fremd, sie könnten auch giftig sein und das natürliche Gleichgewicht im Körper durcheinanderbringen und damit irreversible Schäden anrichten. Die Fantasien haben hier eine weite Betätigung, wie es bei Ängsten immer ist, und werden von selbsternannten Experten in den unterschiedlichsten Formen genährt, die von eingepflanzten Überwachungschips über geheimnisvolle chemische Formeln bis zu Minirobotern reichen, so also hätten die Impfstofferzeuger nichts anderes zu tun als irgendeinem aus der Einbildung stammenden big brother endlich den Durchbruch zur Weltherrschaft zu erlauben. 

Den eigenen Körper als Tempel anzusehen, der reingehalten werden muss, ist eine schöne Idee, aber die Realität ist komplexer. Jeder Körper, der in unserer Kultur lebt, enthält längst ein Sammelsurium von verschiedenen Chemikalien, die wir über Düngemittel, Atemluft, Zahnpasten, Waschmittel usw. in uns aufgenommen haben und laufend in uns aufnehmen. Selbst die naturnahste Lebensweise, die sich eine winzige Minderheit leisten kann, kommt ohne den Kontakt zur Chemie und zur Aufnahme von chemischen Stoffen nicht durch.  

Die Illusion der Identität 

Die Unabhängigkeit der Person, die unbeeindruckt von äußeren Einflüssen ihre Motive wählt, ihre Entscheidungen trifft und ihre Werte entwickelt, erweist sich aus der Sicht der systemischen Bewusstseinsebene als Illusion. Jeder Mensch ist zu vielen Teilen ein Produkt von permanent ablaufenden und aufs Unbewusste wirkenden Einflüssen. Es handelt sich um eine Illusion der Kontrolle. Was wir spüren an Stimmigkeit und Integrität, ist in vielen, wenn nicht in allen Fällen Resultat einer Mixtur aus Außen- und Innensteuerung aus unterschiedlichsten Quellen, ohne dass wir ihre Herkunft identifizieren können. Vieles, wenn nicht sogar alles, von dem wir meinen, es wäre auf dem eigenen Mist gewachsen, verdanken wir in Wahrheit Informationen, die uns von anderswo zugeflossen sind. In diesem Licht ist unsere Identität nichts anderes als die Summe und der Sammelpunkt vielfältiger Außen- und Innenreize, etwas, das sich mit jedem neuen Informationszufluss ändert und seine Konsistenz und Kontinuität in der Zeit in jedem Moment neu erzeugen muss.  

Die behauptete Identität beinhaltet eine Mischung aus früh geprägten Mustern und äußeren Reizen, die in Permanenz ins Innere eindringen und im Rahmen der erworbenen Muster interpretiert und verarbeitet werden. So etwas wie eine feststehende Identität gibt es nicht, sondern sie ist ein Gebilde, das im Fließen ist und sich fortwährend verändert. Das Beständige daran muss immer wieder hergestellt, bestätigt und abgesichert werden, damit ein Gefühl von Kontinuität als Person aufrechterhalten werden kann.  

Die Identität als Impfgegner, Impfskeptiker, Impfbefürworter, Impfmissionar, Impfgegnerbekämpfer, Impfanhängerbekämpfer etc. ist jeweils eine Festlegung, die aus vielen Quellen gespeist wird, von denen ein Großteil im Unbewussten schlummert und durch äußere Einflüsse gebildet wurde, die ungefiltert eingedrungen sind. Die Abwehr solcher Einflüsse ist zwar verständlich, aber naiv, weil ein Leben unter einer hermetisch abschirmenden Glasglocke nicht möglich ist. Solche Identitäten stellen Versuche dar, der Komplexität der Wirklichkeit mit einem Standpunkt zu begegnen und sie auf diese Weise zu bewältigen und handhabbar zu machen.  

Wir brauchen uns also im Grund nicht viel einzubilden auf solche Identitäten. Wir brauchen uns auch nicht zu schämen, wenn wir sie verändern – das ist ein Zeichen von Lernen, sofern die Veränderung in einer Weitung und Aufweichung besteht. Wenn wir uns zu stark auf derartige Identitäten fixieren, laufen wir Gefahr, starr und verbissen zu werden. Auf diese Weise beschneiden wir unsere Handlungsfähigkeit zu stark und verringern unsere Freiheitsräume. Wir müssen dann fortwährend die Richtigkeit und moralische Rechtfertigung unserer Position mit allen Mitteln behaupten und gegen alle Anfechtungen von innen und außen verteidigen. Wir aktivieren den Kampfmodus in übertriebenem Maß, der dann die ganze Zeit entweder im Vollbetrieb oder im Standby ist. Die spezifische Identität, in diesem Fall die jeweilige Impfidentität, wird zum emotionalen Hauptinhalt des eigenen Lebens, alles kreist um ihre Bestätigung und Absicherung. Abweichende oder anderslautende Ansichten werden abgelehnt oder ignoriert, ihre Vertreter abgewertet und angegriffen. 

An die Stelle erwachsener und sachlicher Diskussion tritt die Selbstbehauptung und der Angriff, der als Verteidigung der eigenen Identität verstanden wird. Die Fixierung auf das Credo der personalistischen Bewusstseinsebene verknüpft sich mit Überlebensprogrammen und wird undurchdringlich und unveränderbar. Wenn die verschiedenen Seiten im Diskurs auf diese Ebene gehen, entstehen die Spaltungen, von denen viel die Rede ist. Starrheit splittert und zerbricht, Identität, die nicht flüssig ist, wird zur Last und Behinderung. Starres splittert und zerbricht. Wo Starres auf Starres trifft, bildet sich ein harter Spalt. Identitäten, die nicht flüssig sind, werden zur Last und Behinderung für das eigene Wachsen und für das Öffnen der Gesellschaft. 

Leben in einer Kultur ist ein Kompromiss mit dem Natürlichen 

Im Grünen zu leben ist sicher heilsamer und gesünder als in den Städten, aber das ist weitgehend ein Privileg derer, die es sich leisten können, und es wird sich hinten und vorne nicht ausgehen, wenn alle 8 Milliarden ins Grüne übersiedeln. Vielleicht gelingt es der Wissenschaft, naturnahe Stoffe zu entwickeln, die all das Plastik überflüssig machen, dass eines Tages kein Gegensatz mehr zwischen Chemie und körperlicher Integrität wahrgenommen wird. Bis dahin sollten wir schauen, wie wir unseren Körper möglichst sauber halten können, und müssen auch schauen, ob wir mit dem Impfen einen Kompromiss schließen können, wie wir täglich auch andere Kompromisse mit chemischen Produkten schließen. Es wäre für alle wunderbarer, wenn es genügen würde, den Kräutertee vom Garten zu trinken oder Yoga-Übungen zu machen, um die Infektion mit dem Virus abzuwenden – leider reicht es nicht.  

Niemand freut sich darüber, geimpft zu werden, viele entscheiden sich aber dafür, weil sie der Überzeugung sind, dass sie sich selbst am besten damit schützen und andere am besten vor einer Ansteckung bewahren. All die Alternativen, die angeboten werden, von der Homöopathie über TCM bis zu Atemübungen bieten tolle Möglichkeiten zur Stärkung des Immunsystems, bieten aber keinen verlässlicheren Schutz als die Impfung, weil sie in ihren Wirkungen nicht in der Breite und Tiefe erforscht sind wie die Impfung. Auch wenn der eine oder die andere von dieser oder jener Methode der Gesundheitsvorsorge schwärmt, gibt es keine, die von der großen Mehrheit angenommen wird. 

Erwartungen an die Obrigkeiten 

Es macht auch wenig Sinn, der Regierung vorzuhalten, sie würde keine alternativen Heilungswege propagieren. Stellen wir uns einen Gesundheitsminister vor, der Schüssler-Salze für die Covid-Bekämpfung anpreist. Auch wenn manchen diese Salze geholfen haben, ihre Krankheitssymptome zu lindern, wäre es verantwortungslos, diese Methode für alle vorzuschlagen. Sie wird bei den einen eine gute Wirkung entfalten und bei anderen nicht. Wissenschaftliche Belege zur Wirksamkeit fehlen und die deutsche Stiftung Warentest urteilt, dass die Methode zur Behandlung von Krankheiten ungeeignet ist. Der Gesundheitsminister müsste sich vielfältige Kritik anhören, dass er Menschen falsche Hoffnung auf unbegründeter Basis mache usw. Die Vertreter anderer alternativer Methoden würden sich aufregen, warum ihr Ansatz nicht empfohlen wird. Es würde Leute geben, die wegen einer Überdosierung krank werden, und der Staat hätte ein Schlamassel produziert, statt etwas zur Gesundheitsförderung beizutragen. Oder stelle man sich vor, der gegenwärtige Parteiobmann der FPÖ wäre Gesundheitsminister und würde kraft seines Amtes der Bevölkerung das Entwurmungsmittel Ivermectin zur Coronavorbeugung und –heilung empfehlen, durch dessen Einnahme viele Menschen krank wurden und einige verstorben sind. 

Um effektiv zu wirken, muss sich die Staatsverwaltung an der zuverlässigsten Wissensform, die zur Verfügung steht, orientieren, nämlich an der wissenschaftlichen, weil sie sonst nicht funktionieren kann. Ein solideres und abgesicherteres Wissen als das wissenschaftliche haben wir nicht, leider oder gottseidank, je nach Sichtweise. Ein Technologieunternehmen, das die Komponenten für einen Chip oder für einen Fensterrahmen auspendelt, wäre bald vom Markt verschwunden. Ein Staat, der sich in seiner Gesundheitspolitik an den Heilsversprechen von einzelnen Proponenten und deren anekdotisch dokumentierten Erfolgen orientiert, verliert nicht nur die Achtung seiner aufgeklärten Bevölkerung, sondern wird auch nicht in der Lage sein, die gesetzten Ziele in einer komplexen Gesellschaft zu erreichen.  

Alternative Heilmethoden haben ihren Markt und ihre Anhänger. Alles, was hilft oder zu helfen glaubt, präsentiert sich auf diesem Markt im Rahmen unserer freien Marktwirtschaft und kann von den Konsumenten genutzt werden. Was wirkt, hat guten Zulauf, was nicht wirkt, wird irgendeinmal vom Markt verschwinden. Gäbe es eine dieser alternativen Methoden, die sich für alle als nachhaltig heilend herausstellt, wären schon längst alle Menschen dort, und das Impfen wäre überflüssig. Vielmehr ist es typisch für die alternativen Methoden, dass sie bei einigen Menschen gute Erfolge haben und bei anderen nicht. Spezielle Empfehlungen von Politikern für ihre Gesundheitsvorsorge brauchen nur Menschen, die sich nicht selber ein Bild machen wollen und sich stattdessen der Obrigkeit anvertrauen wollen. 

Zum Weiterlesen:
Impfen, Wissen und Wissenschaft
Die Ethik beim Impfen

Freitag, 26. November 2021

Die Ethik beim Impfen

Vorbemerkung

Es geht mir bei diesen Zeilen nicht darum, einen vorwurfsvollen Zeigefinger vor irgendjemandem zu erheben, geschweige denn über jemanden einen Stab zu zerbrechen. Es geht mir vielmehr darum, einen ethischen Sachverhalt aufzuzeigen uns bewusst zu machen. Was soll ein ethischer Sachverhalt sein? Ich gebe ein Beispiel zur Verdeutlichung, das nichts mit der aktuellen Impfthematik zu tun hat. Wenn Kinder emotional oder sexuell missbraucht werden, entstehen massive subjektive Verletzungen und Leiden. Zusätzlich entsteht ein Riss im sozialen Gefüge durch die Missachtung der Menschenwürde. Dieser Riss wirkt so lange, bis gesehen und anerkannt ist, was passiert ist, und bis ein Ausgleich und eine Sühne geschieht. 

Ein ethischer Sachverhalt existiert und hat eine Wirklichkeit, ähnlich wie ein Riss in einer Hauswand. Er hat aber keine dingliche Realität, sondern eine soziale. Als solche hat er die Eigentümlichkeit, verdrängt, vergessen und ignoriert werden zu können. Dennoch existiert er weiter und hält Spannungen im Untergrund des sozialen Gefüges aufrecht. Diese Spannungen betreffen alle, nicht nur die Opfer, die an ihren Verletzungen leiden, und die Täter, die an ihren Schuld- und Schamgefühlen bzw. deren Abwehrformen leiden. Deshalb ist es eine wichtige Aufgabe, die Ursachen der Spannungen aufzudecken und bewusst zu machen. Denn unaufgelöste und unbewusste ethische Sachverhalte erzeugen Dynamiken mit oft unglaublicher und zerstörerischer emotionaler Wucht.

Der ethische Sachverhalt in der Impfthematik

Das ethische Argument, das für die Impfung spricht, hat mit Solidarität zu tun. Geimpfte tragen nach den Erkenntnissen der Wissenschaft wesentlich mehr zur Eindämmung der Pandemie bei als Ungeimpfte. Viele ältere und aktuelle Studien beweisen die Wirkungen der Impfung (besonders trifft es auf die Dreifachgeimpften zu) auf die Reduktion von Ansteckungen und auf die Vermeidung von schweren Verläufen: Nach Schätzungen der WHO hat das Impfen bisher einer halben Million Menschen den Tod erspart. Die Ungeimpften hingegen geben bei Ansteckung die volle Virenbelastung weiter. Sich nicht impfen zu lassen, verringert die Ansteckungsrisiken und die Weiterverbreitung der Viren nicht im Geringsten, sondern fördert die weitere Verbreitung des Virus und verlängert die Krisensituation. Außerdem steigt durch das weiter bestehende Feld der Ausbreitung die Möglichkeit für die Entwicklung neuer Varianten, die die weitere Bekämpfung der Pandemie noch schwieriger gestalten. 

Da die Pandemie weiterhin viel Leid und viele Todesfälle bewirkt, besteht die ethische Pflicht darin, das zu tun, was einem möglich ist und zu Gebote steht, um die Not zu wenden. Dazu gibt es nach allen vorliegenden Daten vor allem die Möglichkeit der Impfung, die noch dazu in unseren Ländern kostenlos verabreicht wird. Ungeimpfte, die diesen Schritt nicht vollziehen, tragen mit dieser Haltung eine höhere ethische Mitverantwortung für die Opfer der Pandemie als die, die sich trotz des Risikos von Nebenwirkungen impfen lassen. Mit jedem Tag, an dem sich jemand nicht impfen lässt, steigt die Mitverantwortung für das Weiterwachsen der Ansteckungen und der damit verbundenen Auswirkungen. (Ausgenommen sind natürlich jene wenigen, die sich aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen dürfen.) 

Es gibt auch andere Maßnahmen, die der Vorbeugung gegen Ansteckung dienen, indem sie z.B. das eigene Immunsystem stärken oder die zwischenmenschlichen Kontakte reduzieren. So anerkennenswert jeder dieser Maßnahmen ist, muss doch gesehen werden, dass die Impfung die zielgerichtetste und wirkungsvollste Handlung darstellt, die Pandemie abzuschwächen und irgendwann zu beenden.

Andererseits ist die Impfung wiederum nicht die einzige und ausreichende Maßnahme, um die Infektionen zurückzudrängen; wer meint, mit der Impfung wieder wie vor der Pandemie leben zu können, hat übersehen, dass auch Geimpfte das Virus weitergeben können. 

Motive der Impfablehner

Natürlich haben alle, die sich nicht impfen lassen, ihre Gründe und Motive. In diesem Artikel geht es nicht darum, umfassend auf all diese Möglichkeiten der Motivation einzugehen, sondern darum, ein paar Beispiele herauszugreifen. Ich möchte allerdings darauf hinweisen, dass das ethische Solidaritätsargument  nicht einfach weggewischt, weggekürzt oder wegerklärt werden kann, sondern dass es dazu einer gewissenhaften Abwägung bedarf. Da dieses Argument im Vorfeld der Argumentation für eine Impfpflicht steht, ist es besonders wichtig, sorgfältig damit umzugehen. Ausdrücklich betonen möchte ich, dass mit einer Anerkennung des Solidaritätsarguments noch keine Zustimmung zu einer Impfpflicht impliziert ist. Dazu wäre eine gesonderte Diskussion notwendig. 

Das Solidaritätsargument zusammengefasst lautet: Wer das in seiner Macht Stehende zur Verringerung der Ansteckungsrisiken und damit zur Weiterverbreitung der Pandemie und dem damit verbundenen Leid tut, handelt gut, wer es unterlässt, handelt unterhalb seiner ethischen Möglichkeiten. Für manche ist nicht einsichtig, dass die Impfung diesem praktischen Ziel und damit dem ethischen Zweck dient. Sie halten die wissenschaftliche Evidenz, die den Nutzen der Impfung belegt, für falsch oder für manipuliert und halten sich an andere, „alternative“ Quellen ohne wissenschaftliche Relevanz. Auf diese Problematik bin ich im vorigen Blogartikel eingegangen. 

Unethisches Verbreiten von Nachrichten

Es erhebt sich an diesem Punkt die ethische Thematik, die mit dem Übernehmen und Verbreiten von dubiosen Informationen, die nicht den wissenschaftlichen Standards entsprechen, verbunden ist. Wenn jemand ohne Überprüfung und Faktencheck Informationen in den sensiblen und hoch emotionalisierten Themenbereichen aufgreift und medial weitergibt, handelt er oder sie unterhalb ihrer ethischen Möglichkeiten. Wer Informationen im Internet finden und lesen kann, kann auch überprüfen, was andere zu diesen Informationen sagen. Es ist auch leicht, herauszufinden, ob die Informationen eine wissenschaftliche Abdeckung haben oder ob es sich um subjektive Erfahrungen oder Meinungen handelt, die als Wissenschaft ausgegeben werden, ob es also ein Schwindel ist. Wer ungeprüft Informationen verbreitet, weil er nur „glaubt“, dass das stimmt, täuscht andere, denen er die Information mit dem Sigel der Vertrauenswürdigkeit weitergibt. Solche Verhaltensweisen tragen auch dazu bei, dass die allgemeine öffentliche Diskussion weiter verwirrt wird und die Mitmenschen in ihrer Sichtweise und ethischen Haltung mit unlauteren Mitteln beeinflusst werden. Sie wirkt dabei mit, dass die ablehnenden und hasserfüllten Emotionen anwachsen und das gesellschaftliche Klima vergiftet wird. Dann noch zu sagen, man wolle ja keine Spaltung, bildet nach solchen Aktionen der Desinformation manchmal noch das Sahnehäubchen der Heuchelei.

Der subjektive Widerwille

Wer das Solidaritätsargument versteht und teilt, beruft sich manchmal auf den subjektiven Widerwillen gegen das Impfen und die fehlende innere Zustimmung zu diesem Akt. Warum soll man etwas tun, was einem innerlich widerstrebt? Das kann ja nichts Gutes bewirken. Jeder hat seine Empfindlichkeiten und will mit diesen Empfindlichkeiten respektiert werden. 

Dennoch ist das eigene Spüren nicht das Ende der ethischen Diskussion, sondern ihr Anfang. Das eigene Fürwahrhalten ist untrennbar mit dem eigenen Ego und seinen Schutzmechanismen verbunden. Um eine ethische Perspektive einzunehmen, müssen immer die anderen mit ihren Egos und Schutzmechanismen mitbedacht werden. Schließlich stellt sich noch die Frage, was für die Gesellschaft als Ganze das Beste ist. Manchmal ist es wichtig, für ein höheres Gut die eigenen Befindlichkeiten zurückzustellen, aber das geht nur, wenn der Blick über den eigenen Tellerrand geht und das Leid im größeren Zusammenhang wahrgenommen wird.

Der innere Konflikt kommt nicht zur Ruhe, wenn nur die eigenen Bedenken und Ängste als Richtschnur des Handelns genommen werden. Vielmehr schwingt dabei immer ein Schamgefühl mit. Deshalb beginnt oft die Suche nach Informationen, die die innere Diskrepanz ausgleichen sollen: Informationen, die die Impfung als Mittel zur Bekämpfung der Pandemie diskreditieren, sind dann hoch willkommen, denn sie lindern die emotionale Dissonanz. Eine Prüfung auf ihre Faktizität wird tunlichst vermieden, weil die Informationen ja sonst ihre Aufgabe der inneren Beschwichtigung nicht mehr erfüllen würden. 

Das Tor zu Verschwörungsfantasien steht damit schon offen, durch das dann manche schreiten und sich damit noch weiter von der ethischen Solidarität entfernen. Außerdem entstehen dann oft schmerzhafte Brüche mit den bisherigen Freundes- und Kommunikationskreisen. Das Verantwortungsgefühl, das durch das Solidaritätsargument aktiviert ist, muss verdrängt werden, und die Verdrängung führt dazu, dass Gegner oder Gegenargumentierer in Bezug auf die angeeigneten Theorien immer aggressiver bekämpft werden. 

Je mehr die Entfernung zur ethischen Verantwortung wächst, desto weiter geraten die Kreise der Diskreditierung: Nicht nur einzelne Wissenschaftler, die sich öffentlich für Impfungen und Corona-Maßnahmen aussprechen, werden angegriffen und verurteilt, sondern die gesamte Wissenschaft wird mit einem Misstrauensantrag belegt und mit Bauch und Bogen verurteilt. Da es schon korrupte und unehrliche Wissenschaftler gegeben hat, werden alle der Unredlichkeit bezichtigt, und die Ergebnisse ihrer Forschungen sind damit wertlos oder sogar gefährlich, weil sie die Interessen von heimlichen Geldgebern vertreten, deren Ziel ganz offensichtlich in der Versklavung und Unterdrückung möglichst vieler Menschen liegt.

Die Umdeutung des Solidaritätsarguments

Das Solidaritätsargument wird dann umgemünzt: Die eigentlichen Beschützer der Menschen sind die, die die geheimen Machenschaften der Fädenzieher hinter den Kulissen aufdecken und ihren Praktiken aktiven Widerstand leisten. Der Kreis schließt sich, das Böse bleibt draußen und das Gute ist im Inneren konzentriert. Allerdings bewegen sich die Dinge im Außen nicht weiter, die Ansteckungszahlen und Todesfälle werden nicht weniger. Die Erklärungen aus dem Innenraum sind vorgeprägt. Schuld ist nicht die eigene Impf- oder Maskenverweigerung, sondern die Behörden, Politiker und Wissenschaftler, die laufend die Zahlen fälschen und fortgesetzt die Bevölkerung täuschen. 

Im geschlossenen Kreis gibt es keinen Außenhalt, der eine Korrekturmöglichkeit bieten würde. Das unterscheidet die Wissenschaften von solchen illusionsgetriebenen Konstruktionen: Es gibt immer eine Korrekturmöglichkeit vom Äußeren, also von der Wirklichkeit. Passt eine Theorie nicht mit der Wirklichkeit zusammen, wird die Theorie verändert, bis sie passt. Bei den innegeleiteten Konstruktionen geht es umgekehrt: Wenn Theorie und Wirklichkeit nicht zusammenpassen, wird die Interpretation der Wirklichkeit verändert, sodass die Theorie immer Recht hat. Die Akteure im Szenario sind vorbestimmt, ihre Rollen sind fix definiert (gut oder böse, je nachdem sie die Wirklichkeitskonstruktion bestätigen oder nicht) und jedes mögliche Ereignis hat schon eine Vorinterpretation mit Hilfe der von der Theorie festgelegten Argumente gefunden.

Die Ethik hat nur mehr eine Innenbedeutung. Es gibt keine Möglichkeit, zu überprüfen, ob die eigenen Werte und die daraus folgenden Handlungen in der Wirklichkeit Gutes bewirken, in diesem Fall also die Gesundheitssituation verbessern, weil der Wirklichkeit, also den Fallzahlen und den damit verbundenen Schicksalen, keine Korrekturfunktion zugemessen wird.

Aufwachen aus den Illusionen

Manche erwachen aus dem Illusionsgebäude, wenn sie das Virus erwischt hat und sie sich auf der Intensivstation wiederfinden. Bescheidenheit und Dankbarkeit entsteht in der Nähe des Todes und in der Abhängigkeit des eigenen Lebens von den Menschen, die Übermenschliches für die Rettung jedes Lebens leisten, ob es durch Impfung zum eigenen Schutz beigetragen hat oder nicht. Der Kampf gegen das Impfen findet dann manchmal sein natürliches Ende, weil die Erfahrung gezeigt hat, dass ein Stich weniger schrecklich ist als ein tagelanges Hängen an Schläuchen und Maschinen, von Ärzten und Pflegepersonal umgeben, das am Rand der Überlastung steht.

Manche Impfgegner konnten nach dem Besuch einer Covid-Intensivstation von ihrem Glauben ablassen. Manche hat das Leiden von nahestehenden Menschen oder deren Tod zum Frieden mit dem Impfen geführt; manche haben solche Erfahrungen noch mehr radikalisiert. Wir Menschen sind so verschieden, was die Verarbeitung unserer Erfahrungen anbetrifft. Wir sind aber darin nicht verschieden, dass wir im Grund alle das Beste für uns selbst, aber auch für alle anderen suchen. 

Deshalb ist es so wichtig, unsere Motive und Gründe für unser Tun und Nichttun immer wieder zu reflektieren und gerade dort, wo sich Kontroversen auftun, genau zu schauen, welche unbewussten Antriebe sich in unser Spüren und unser subjektives Rechthaben einmischen. Wir sollten achtsam darauf sein, wenn wir wider allen Widerspruchs an Meinungen und Überzeugungen festhalten, mit dem Gefühl, sie mit Zähnen und Klauen verteidigen zu müssen. Es könnte sein, dass wir uns an eine Einbildung, eine Illusion anklammern oder dass wir Opfer von Manipulation geworden sind. Zum Aufwachen ist es nie zu spät.

Zum Weiterlesen:
Impfen, Wissen und Wissenschaft


Donnerstag, 25. November 2021

Impfen, Wissen und Wissenschaft

Aus einer systemischen Sicht, die sich auf die systemisch operierenden Wissenschaften und auf die integrale Ethik bezieht, gibt es zwei Argumente für die Corona-Impfung. Erstens: Sie stellt mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Schutz vor schweren Verläufen dar und schränkt die Gefahr, Viren weiterzugeben, stark ein. Außerdem wird dadurch das Risiko vermindert, dass sich Mutationen bilden. Sie hat also einen subjektiven und einen sozialen Nutzen. Die Nebenwirkungen, die auftreten können, sind statistisch gesehen gering, und damit überwiegen die Vorteile bei weitem die Nachteile. Das ist die Botschaft der Wissenschaft – wenn auch nicht aller Wissenschaftler und Leute, die in diesem Feld publizieren. Ich beziehe mich in dieser Argumentation auf das Modell der Bewusstseinsevolution aus meinem Buch „Vom Mut zu wachsen“. 

Zweitens: Geimpfte tragen mehr zur Eindämmung der Pandemie bei als Ungeimpfte; sich nicht impfen zu lassen, trägt nichts zur Eindämmung bei, sondern fördert die weitere Verbreitung des Virus und verlängert die Krisensituation. Da die Pandemie weiterhin viel Leid und viele Todesfälle bewirkt, besteht die ethische Pflicht darin, das zu tun, was die Not wendet, und dazu gibt es nach allen vorliegenden Daten vor allem die Möglichkeit der Impfung. Ungeimpfte, die diesen Schritt nicht vollziehen, tragen damit eine höhere ethische Mitverantwortung für die Opfer der Pandemie als die, die sich trotz des Risikos von Nebenwirkungen impfen lassen. Mit jedem Tag, an dem sich jemand nicht impfen lässt, steigt die Mitverantwortung für das Weiterwachsen der Ansteckungen und der damit verbundenen Auswirkungen. (Ausgenommen sind natürlich jene wenigen, die sich aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen dürfen.) Auf dieses zweite Argument gehe ich in einem weiteren Artikel noch ein.

Wissenschaftliche Erkenntnis und Einzelbefunde

Auch wenn dieser Befund vielen nicht gefallen wird, müssen erst stichhaltige Gegenargumente gefunden werden. Das Wissenschaftsargument kann nicht mit Einzelerfahrungen ausgehebelt werden, nach dem Schema: “Ich kenne jemanden, der … hatte einen schweren Impfschaden oder der ist mit zwei Impfungen auf die Intensivstation gekommen.” Es gelten auch nicht Einzelmeinungen von selbsternannten Oberexperten, die sich als Wissenschaftler bezeichnen, während sie sich gegen “die” Wissenschaft stellen. Es sind Personen, die oft mit dem Habitus auftreten, “die” Wahrheit erkannt zu haben und damit die Blindheit der Masse – in den Wissenschaften, in den Medien und in der Gesellschaft – durchleuchten. Sie wollen alles besser gewusst haben und sind oft nicht einmal dialogfähig. 

Menschen, die solchen Propheten nachlaufen, haben offenbar den Charakter der Wissenschaft nicht verstanden. Sie besteht nicht aus einer Summe von Einzelmeinungen, hervorgebracht von fehlbaren Einzelpersonen, und erschafft ein Feld von widersprüchlichen Botschaften, aus dem sich jeder herauspicken kann, was gefällt oder die eigenen Vorurteile bestätigt. Vielmehr beruht die Wissenschaft auf Ergebnissen, die aus dem Zusammenwirken – je nach Themenbereichen – von dutzenden, hunderten und tausenden Forschern entstehen. Da die Corona-Frage zu den zentralen Themen der Gegenwart zählt, geht die in diesem Feld arbeitenden Forscher und Forscherinnen wohl in die Zehntausende. Die Ergebnisse dieser Arbeiten sind nicht beliebig wie das, was eine Einzelperson mit medialer Unterstützung als Wahrheit kundtut und als wissenschaftlich anpreist. Wissenschaftliche Ergebnisse werden laufend weiterevaluiert und nach dem Falsifizierungsprinzip weiterentwickelt. Wissenschaftler können nie von letztgültigen oder absoluten Wahrheiten reden; wenn sie das tun, reden sie nicht als Wissenschaftler. 

Die Selbstkritik in den Wissenschaften geht so weit, dass es schon lange die Disziplin der wissenschaftlichen Wissenschaftskritik gibt. Die Erkenntniskritik, die in der Philosophie beheimatet ist, sorgt für die Klärung der Grundlagen der Wissenschaften und ihrer Geltungsansprüche. Was die Erkenntnis der Wirklichkeit anbetrifft, haben wir keine bessere Vorgehensweise als die wissenschaftliche. Sie führt uns also am nächsten an die von den Subjekten unabhängige Wirklichkeit heran. Alle, die heute gegen die Wissenschaft wettern, tun das mit den Mitteln und auf Grundlagen, die die Wissenschaft entwickelt hat. Die aktuelle Wissenschaftsskepsis zumindest in den Medien beruht auf erfolgreichen wissenschaftlichen Forschungen. Und sie gründet auf den Errungenschaften der Aufklärung, die immer wieder zur Kritik und Überprüfung von herrschenden Meinungen auffordert.

Der Personalisierung der Wissenschaft 

Wir können die Wissenschaft und ihre Form der Wahrheitsfindung nur verstehen, wenn wir uns auf der systemischen Bewusstseinsstufe befinden. Solange wir wissenschaftliche Erkenntnisse personalisieren, also einzelnen Personen zurechnen, haben wir nicht voll verstanden, worum es in der Wissenschaft geht und wie sie funktioniert. Das Misstrauen in die Wissenschaft kommt aus dem Misstrauen gegenüber der Fehlerhaftigkeit von Personen. Wir wissen alle, dass Menschen fehleranfällig reagieren und manchmal von “niedrigen” Antrieben gesteuert und korrumpierbar sind. Das hat aber nichts mit der Wissenschaft zu tun, die ausgefeilte Mechanismen der Selbstreinigung enthält, durch die die individuelle Fehleranfälligkeit und Korrumpierbarkeit einzelner Forscher ausgeglichen wird. 

Aus systemischer Sicht haben Fehler eine andere Wertigkeit, sie gelten als Chance und Anlass für Verbesserungen. Aus personalistischer Sicht allerdings bedrohen die Fehler anderer Menschen die eigene Integrität und das eigene Weiterkommen. Fehler werden deshalb auf dieser Stufe moralisiert und Personen dafür angeklagt. Die Wissenschaftsskepsis, die oft mit der Impfverweigerung einhergeht, hat in der Fixierung auf die personalistische Sichtweise ihre Ursprünge, also auf der Weigerung oder Unfähigkeit, die eigene Sichtweise systemisch zu erweitern und zu differenzieren.  

Wird das personalistische Bewusstsein absolut gesetzt, also als der Weisheit letzter Schluss angesehen, so ist es möglich, die scientific community, also die weltweiten selbstkorrektiven Netzwerke der Forscher, in der eigenen Fantasie in eine Summe von Einzelpersonen aufzulösen. Dann fällt es leicht, die Wissenschaftler allesamt unter Generalverdacht zu stellen und sie als potenziell käuflich und den Mächtigen gegenüber willfährig darzustellen. Die eigene Korrumpierbarkeit wird auf den anonymen Bereich der Forschung projiziert, sodass die Ergebnisse, die aus diesem Bereich kommen, pauschal für wertlos oder sogar gefährlich erklärt werden können. 

Verschwörungstheorien und die Väter 

Geglaubt wird nur dort, wo positive Vaterprojektionen ihren Anker finden: Bei Figuren, die den trotzigen Widerstand gegen den Mainstream, gegen das Herdenbewusstsein, gegen die verbreitete Blindheit verkörpern: Menschen, die sich als Aufdecker der Machenschaften aller unredlichen und unanständigen Geister präsentieren, Helden, die scheinbar mutig gegen den Strom schwimmen und das Ruder dieser Welt, die auf Abgründe zusteuert, herumreißen. Das Strickmuster ist aus jedem James-Bond-Film und vielen anderen Blockbustern bekannt und vertraut. 

Oft paart sich die Wissenschaftsablehnung mit dem Glauben an verschwörerische dunkle Hintergrundgestalten, die die Geschicke der Menschheit in Händen halten und nach Belieben in die eine oder andere Richtung lenken. Auffällig dabei ist, dass es sich dabei immer um Männer handelt, aktuell z.B. George Soros oder Bill Gates. Auch bei den “Bilderbergern” sind m.W. nur Männer vertreten. Frauen sind mir in diesen Zusammenhängen nie aufgefallen.  

Wir haben es offensichtlich psychologisch mit der Dynamik zwischen dem guten Vater (dem Helden, der dem Guten gegen das Böse zum Durchbruch verhilft, zumindest kurzfristig, bis die nächste Folge der Serie kommt) und dem bösen Vater, der immer wieder für tödliche Bedrohungen sorgt. Der böse Vater muss umgebracht werden, nur so kann die Gefahr gebannt werden. Und dazu müssen wir den guten Vater stärken, also dem Helden folgen, der durch seine immensen Körperkräfte und seinen einzigartigen Durchblick die Erlösung aus jeder aussichtslosen Lage schaffen kann. 

In der Ausweglosigkeit, in der sich viele Menschen angesichts der Pandemie und der drohenden Impfpflicht sehen, bieten solche Projektionen eine willkommene Möglichkeit zur scheinbaren Klärung: Die Guten und die Bösen werden auseinandersortiert, die eigene Opferposition wird klar und die Retter müssen unterstützt werden. Es gibt wieder Handlungsoptionen, z.B. durch das Demonstrieren gegen die personalisierten oder die anonymen Täter, darunter der böse Vater-Staat.  

Möglicherweise sind also personalisierte Verschwörungstheorien eine Auswirkung der "vaterlosen Gesellschaft", eine Folge der Abwesenheit der Väter im eigenen Aufwachsen, woraus sich ein weites Spielfeld von positiven und negativen Projektionen öffnet. Dabei spielen die Angst vor dem Bösen und die Sehnsucht nach dem Gutem im Vater die treibende Rolle.  

Erst die Bewusstmachung dieser Dynamiken erlaubt es, die vermeintlichen Verschwörungen als Spiel der eigenen Fantasie aufzudecken und im eigenen Inneren zu entmachten. Der Blick auf die Realität wird wieder frei, Vorurteile können überprüft und Verschwörungsmythen entlarvt werden. 

Auch bei denen, die sich impfen lassen, können Projektionen eine Rolle spielen. Sie wollen z.B. dem guten Vater-Staat Folge leisten und brave Untertanen sein, indem sie vorbildlich die Vorschriften und Empfehlungen einhalten. Dann können sie den anderen, den “schlimmen Geschwistern”, den Spiegel vorhalten und sich über deren Ungehorsam empören. Solange solche Projektionen die tragende Rolle spielen, erinnern die entsprechenden Debatten an Sandkistenrivalitäten. Jeder zeigt mit dem mahnenden und besserwisserischen Zeigefinger auf den anderen, um ihn anzuschwärzen oder auszurichten. 

Von Projektionen befreien

Menschen sind immer von unterschiedlichen und oft widerstrebenden Motiven beherrscht. Viele von ihnen sind unbewusst. Viele von ihnen stammen aus der eigenen Lebensgeschichte und deren frühen Prägungen. Viele werden durch Einflüsse von anderen Menschen und über Medien erzeugt oder verstärkt. Das Thema der Corona-Impfung hat aus verschiedenen Gründen eine massive emotionale Rolle im Innenleben vieler Menschen bekommen, sodass sich ganze Parteien bilden, die sich nur diesem Anliegen widmen. Wir kommen als Einzelne und als Gesellschaft nur weiter, wenn wir möglichst viel Licht und Bewusstheit in diese Motive bringen und ihre Wurzeln und Quellen erforschen. Dann können wir besser unsere Wirklichkeitssicht weiten und unsere Verantwortung für uns und für die Gesellschaft wahrnehmen. Dann können wir umfassender zu unseren Entscheidungen stehen.

Zum Weiterlesen:
Aufklärung in Zeiten einer Pandemie
Von der Angst zur Ethik
Die Ursprünge der Opferrolle
Krisenängste und ihr Jenseits


Samstag, 13. November 2021

Positive Affirmationen und ihre Grenzen

Positive Affirmationen werden schon lange als Mittel zur Selbstverbesserung genutzt. Schon Émile Coué, ein französischer Apotheker (1857-1926) hat die Möglichkeiten der Autosuggestion für die Heilung von Krankheiten und anderen Störungen erkannt. Er predigte den Satz: „Es geht mir mit jedem Tag in jeder Hinsicht immer besser und besser!“ Dieser soll täglich nach dem Aufwachen und vor dem Einschlafen halblaut gesagt werden, damit er über den Gehörssinn vom Unterbewusstsein aufgenommen werden kann.

1926 stellte der deutsche Arzt Johannes Heinrich Schultz die Methode des Autogenen Trainings vor, die auf positiven Autosuggestionen beruht. Sein Anliegen war es, die Erfolge der Behandlung durch Hypnose im Selbstbezug nutzen zu können, ohne dass also ein Hypnotiseur notwendig ist. Die Beeinflussung des vegetativen Nervensystems durch das innere Wiederholen von “Formeln”, also positiven, in der Gegenwartsform gestalteten Sätzen verändert die angesprochenen Bereiche im Körper. Z.B. fördert die Formel “Die rechte Hand ist ganz warm” die Durchblutung in dieser Hand. Es weiten sich die Blutgefäße und ein Wärmegefühl entsteht. Das Autogene Training liefert also den Beweis, dass wir durch unser Denken unbewusst ablaufende Vorgänge lenken können. Die Kombination aus Affirmationen und innerer Konzentration hat sich als effektiver Weg erwiesen, die willentliche Selbststeuerung auf das Nervensystem auszuweiten. Von dort geht der Weg weiter zur Stärkung der Psyche mittels positiver Sätze.

In einer Studie aus dem Jahr 2015 konnte mit Hilfe der Magnetresonanz-Tomografie die Aktivierung des Belohnungszentrums und der Areale für die Selbstreflexion durch positive Affirmationen nachgewiesen werden. Eine weitere Studie hat ergeben, dass Affirmationen helfen, schwierige Aufgabenstellungen unter Stress zu schaffen.

Positives Denken kann krank machen

Allerdings gibt es auch Gründe, die Arbeit mit positiven Affirmationen nicht in den Himmel zu heben und als Kur für jedes Leiden anzupreisen. Der Nutzen für viele Menschen und für viele Problembereiche ist unbestritten, übersehen werden darf dennoch nicht, dass diese Methode auch Schaden zufügen kann. Z.B. bewirkt das Affirmieren bei Personen mit Angststörungen, starken Selbstzweifeln oder Zwangsstörungen zusätzlichen Stress. Auch Depressive, die mit vielen negativen Gedanken kämpfen, können nicht einfach auf Anordnung ihre Gedanken schönfärben, sondern fühlen sich noch schlechter, wenn ihnen erklärt wird, dass sie ihre Misere mit ihren Gedanken erzeugen.

Manche Menschen erleichtert es, wenn sie jammern und klagen. Der deutsche Psychotherapeut Günter Scheich hat ein Buch mit dem Titel „Positives Denken macht krank. Vom Schwindel mit gefährlichen Erfolgsversprechen“ (Eichborn-Verlag 2001) verfasst. Er weist darauf hin, dass negative Gedanken ebenso wichtig für die innere Entwicklung sind wie positive. Denn sie machen auf Grenzen aufmerksam und helfen, mit den eigenen Schwächen umzugehen.

Die Auseinandersetzung mit Krisen und Missgeschicken erfordert mehr als die kognitive Neuorientierung, die durch positives Denken und Affirmationen erreicht wird. Das Leben wird nicht dadurch besser, dass wir bessere Gedanken in uns kultivieren, sondern dadurch, dass wir uns konstruktiv mit den inneren und äußeren Hindernissen beschäftigen, die einer Verbesserung im Weg stehen.

Die Gedanken können dabei eine hilfreiche Rolle spielen, nämlich dann, wenn wir sie uns bewusst machen und dann auswählen, welche Gedanken wir vermehren und welche wir vermindern wollen. Aber sie enthalten keine übermenschlichen Zauberkräfte, mit denen wir die Welt zu unserem Belieben und nach unseren Wünschen verändern können.

Manche Menschen überschätzen die Macht der Gedanken derart, dass sie sich selber mit Gedankenkontrolle terrorisieren. Jeder negative Gedanke könnte dann gleich die Wurzel für Misserfolge und Katastrophen sein, an denen man dann selber schuld ist. Es gilt, beständig das eigene Denken zu überwachen, dass ja kein negativer Gedanke auftaucht.

Woher kommen die Gedanken?

Nun können wir zwar Gedanken verändern, die wir schon gedacht haben, aber wir können das Entstehen der Gedanken nicht beeinflussen. Gedanken tauchen aus dem Unterbewussten oder Vorbewussten auf, ohne unsere willentliche Zustimmung. Wir verfügen über keine Möglichkeit, vorab zu zensurieren, welche Gedanken kommen und welche nicht. Die Angst vor den negativen Gedanken erzeugt mehr Stress als die Gedanken selbst. Wir können uns quälen, wie wir wollen, und wir werden es nicht schaffen, die Gedankenentstehung zu kontrollieren. Das Einzige, das wir üben können, ist die nachträgliche willentliche Gestaltung des Denkens: Ich will A denken und nicht B. Ich beende den negativen Gedanken A und konzentriere mich auf den positiven Gedanken B. Das wird das innere Stimmungsbild erhellen.

Mit Verantwortung überladen

Die Überladung mit Verantwortung ist eine weitere Last, die aus der Überschätzung des positiven Denkens folgt. Manche Schulen lehren die Notwendigkeit einer rigiden Kontrolle des Denkens zum Zweck der Erreichung von persönlichen Zielen. Wenn unser Denken nicht nur die innere Wirklichkeit prägt, sondern auch die äußere Realität maßgeblich beeinflussen sollte, dann hängt unser Innen- wie unser Außenleben von der Qualität unserer Gedanken ab und jeder Fehler, sprich jeder negative Gedanke hat dann weitreichende Folgen auf unser Leben. Alles, was uns passiert und uns nicht passt, ist dann durch unsere fehlerhafte Denkkultur bewirkt. Wir fühlen uns dann an allem schuld, was schief geht, weil wir meinen, zu wenig positiv gedacht zu haben. Wenn wir diese Einstellung haben, so lastet von früh bis spät der Verantwortungsdruck auf uns, unsere Gedanken überwachen zu müssen, anders kann nichts gelingen.

Es ist wie mit der Körperpflege: Ein gutes Maß an Hygiene ist notwendig, aber dort, wo die Sauberkeit zwanghaft wird, entstehen mehr Probleme als Lösungen. Das Denken hat Auswirkungen auf unsere Innenwelt und der Zustand im Inneren hat Auswirkungen auf die Außenwelt. Wir wirken und handeln anders, wenn wir uns gut fühlen als wenn es uns miserabel geht. Was wir gerade denken, spielt dabei mit, aber es spielt nicht die Hauptrolle. Es hilft uns nicht weiter, wenn wir ihm diese Rolle geben. Damit setzen wir uns selbst nur unter übermäßigen Druck, der wieder die Wahrscheinlichkeit für negative Gedanken stärkt.

Denken und Fühlen

Wirkliche Hilfe finden wir, wenn wir an die Wurzeln unserer Tendenzen, negativ zu denken, gehen. Es sind Gefühle der Verletzung und Beschämung, Erfahrung der Angst und Unsicherheit, die unser Unbewusstes dazu verleiten, negative Gedanken aufsteigen zu lassen. Gefühle gibt es lange vor Gedanken in unserem Leben. Sie werden immer wieder negative Gedanken hervorrufen, solange sie nicht befriedet sind. Wenn wir einzig an der Ebene der Gedanken herumfeilen, betrieben wir nichts als eine Oberflächenveränderung. Erst die Arbeit, die in die Tiefe der Gefühle eintaucht, legt die Basis für den inneren Frieden und die Gelassenheit. In diesem Zustand kommen keine negativen Gedanken und brauchen wir keine Affirmationen, weil alles da ist, was wir brauchen.

Zum Weiterlesen:
Die soziale Wirkung negativer Glaubenssätze

Dienstag, 2. November 2021

Glaubenssätze und Scham

Als negative Glaubenssätze gelten Wortgebilde, die eine Verleugnung, Verkleinerung oder Abwertung des eigenen Selbst und der eigenen Würde enthalten. Solche Sätze sind immer mit Scham durchtränkt, denn die Schmälerung des Selbstwertes ist immer mit Scham verbunden. Die Scham ist die Wächterin der Würde und meldet sich immer, wenn unsere Integrität in Frage gestellt wird. Sie achtet im Normalfall darauf, dass unser Selbstwert in Balance bleibt. 

Allerdings kann sie selber aus der Balance geraten, als Folge von erlittenen und nicht verarbeiteten Demütigungen und Beschämungen im Lauf der Lebensgeschichte. Jede dieser Erfahrungen bildet eine schambesetzte Erinnerung im bewussten oder unbewussten Gedächtnis. Die Scham wird giftig, weil sie sich verdoppelt: Eine Beschämung erlitten zu haben, ist selber beschämend.

Die toxische Scham kann den Selbstwert nicht mehr stärken, sondern untergräbt ihn. Sie wird zur Quelle von Glaubenssätzen, mit denen auf der unbewussten Ebene das Selbst geschwächt und die Schambelastung aufrechterhalten wird. In diesen Fällen wirken diese Sätze wie Katalysatoren der Selbstsabotage, indem sie dazu beitragen, dass der verletzte Selbstwert in allen sozialen Zusammenhängen bestätigt und die Verletzung dadurch verfestigt und vertieft wird, wie im vorigen Blogartikel dargestellt.

Glaubenssätze bewusst machen

Wie werden wir dieses Konglomerat aus schwelenden Schamgefühlen und quälenden Gedankenmustern los?

Ein Weg besteht darin, die Glaubenssätze ins Bewusstsein zu heben. Dann meldet sich die Scham in ihrer ursprünglichen Rolle als Regulatorin des Selbstwertes zurück, aber betätigt sich auch als Verstärkerin der Selbstabwertung. Es wird bewusst, dass im eigenen Inneren eine Macht gegen die eigenen Intentionen und Werte arbeitet, die im Leben schon viele Chancen ruiniert und Fehler verursacht hat. Da stellt sich die sekundäre Scham ein, weil deutlich wird, was man selbst alles vermasselt hat und wie es besser hätte laufen können, wenn der Glaubenssatz schon früher erkannt worden wäre. 

Was-wäre-wenn-Spiralen

Wiederum schießt die Scham hier erst recht wieder übers Ziel, denn hier wird eine der typischen Schamspiralen entfesselt, die mit dem Was-wäre-wenn-Gedankenspiel einhergeht. Das Spiel besteht darin, sich für ein Ereignis in der Vergangenheit selbst zu verurteilen und die Schwere des Fehlers dadurch zu verstärken, dass die wünschenswerte Alternative, das Ereignis ohne den eigenen Fehler, herbei fantasiert wird. Hätte ich doch rechtzeitig gebremst, hätte das Auto nicht die Leitplanke geschrammt. Wäre ich rechtzeitig nach Hause gekommen, hätte ich mir die Szene mit meiner Frau erspart. Hätte ich das richtige Kapitel gelernt, hätte ich die Prüfung geschafft. 

Für jede Erfahrung unseres Lebens, die nicht mit unseren Wünschen und Vorstellungen übereinstimmt, hat unser Denken eine geglückte Alternative im Angebot, allerdings nur im Reich der Fantasie. Es ist in der Lage, ein makelloses und perfektes Leben zu imaginieren und der Vergangenheit überzustülpen, so als hätte es niemals Fehlhandlungen und Versagensmomente gegeben. Es handelt sich dabei allerdings nur um ein konjunktivisches Leben und um kein reales. Es sind nichts als Denkkonstrukte, die der Gefühlsabwehr dienen. In der Möglichkeitszone herrscht die Scham weiter, die hadernden Selbstanklagen als Ausdruck der darunterliegenden Glaubenssätze gehen weiter und versetzen uns unweigerlich in eine dunkle Missstimmung.

Verantwortung für die Vergangenheit

Was geschehen ist, ist geschehen. Die Scham gilt dem, was nicht unseren eigenen Vorstellungen entsprochen hat, wo wir von unserem Pfad abgewichen sind, wo wir unseren Idealen nicht gefolgt sind. Eigentlich will sie uns aufzeigen, dass wir verstanden haben, dass wir einen Fehler gemacht haben. Denn mit dem Zeigen der Scham wird das Signal der Einsicht in die eigene Fehlerhaftigkeit ausgeschickt, mit dem Ersuchen, dafür von den Mitmenschen Verständnis zu bekommen: „Ich habe einen Blödsinn gebaut, verzeiht mir bitte.“ Der Schritt, die Scham öffentlich zu machen, erfordert Mut, und gelingt nur, wenn genügend Vertrauen in die Umgebung besteht. 

Selbstvergebung und Verantwortungsübernahme

Oft aber gibt es gar niemanden mehr, dem wir den Fehltritt offenbaren können und um Verzeihung bitten sollten, weil die Ereignisse schon lange vorbei sind, obwohl sie weiterhin das Denken beschäftigen. Wir selbst sind die Instanz, von der das Vergeben kommen muss. Auch in diesen Fällen braucht es eine bewusste Selbstoffenbarung und Selbstäußerung, das Eingestehen der Unzukömmlichkeiten und der damit verbundenen Schambelastung, vor einem selbst oder vor unbeteiligten empathischen Menschen. Denn solange die aus der Vergangenheit gespeiste  Scham im Inneren bleibt, arbeitet sie gegen das Selbst. Die an die eigene Vergangenheit gerichteten Vorwürfe und Infragestellungen fügen jedes Mal eine neue Schamschicht hinzu und bekräftigen die entsprechenden Glaubenssätze. Erst wenn wir erkennen, dass wir unsere Vergangenheit nicht verändern können und dass es an uns liegt, uns unsere Fehler zu verzeihen, löst sich der Bann der selbstauferlegten Scham und der mit ihr verwobenen Glaubenssätze. Wir kommen in Frieden mit unserer Unvollkommenheit.

Es geht also darum, die Verantwortung für das eigene Leben und für jede Szene der Vergangenheit, für alle Erfolge und Misserfolge, Errungenschaften und Fehler zu übernehmen. Fehlleistungen, die mit Verantwortung getragen und verstanden werden, verwandeln sich zu exzellenten Lernchancen. Was wir bewusst zu uns nehmen, wird sich in dieser Form nie mehr wiederholen. Vielmehr wachsen wir durch das Akzeptieren der Fehler und durch die Integration der damit verbundenen Lektionen. Jedes Lernen ersetzt die sinnlosen „Hätte-ich-doch-wäre-ich-doch“-Schleifen im Denken und erschafft neue Realitäten für ein konstruktives Leben.

Schritt für Schritt entmachten wir auf diese Weise die giftige Scham und die damit eingeprägten negativen Glaubenssätze. Die Selbstakzeptanz tilgt die Scham und die Selbststärkung löscht die Glaubenssätze. Deren Ursprünge liegen in einer Vergangenheit, die nicht mehr zu unserer Disposition steht. Francis Bacon hat geschrieben: „Was geschehen ist, ist vorbei und unwiederbringlich, und der Weise hat genug zu tun mit gegenwärtigen und zukünftigen Dingen.“

Zum Weiterlesen: