Mittwoch, 28. Februar 2018

Müssen Kränkungen krank machen?

Wer hat sich nicht schon einmal gekränkt gefühlt? Wenn uns etwas, oder eher jemand verletzt, reagieren wir mit Beleidigtsein: Du hast mir ein Leid zugefügt. Jetzt leide ich und habe eine Wunde, die du mir zugefügt hast. Ursprünglich verfügen wir über zwei Möglichkeiten, um dieses Beleidigtsein zum Ausdruck zu bringen: Mit Aggression oder mit Rückzug. In jedem Fall brechen wir den fließenden Kontakt ab und fangen statt dessen zu streiten an oder verziehen uns. 

Eine Kränkung bedeutet, dass wir das Gefühl haben, wir hätten an Wert verloren. Jemand anderer hat uns abgesprochen, ein wertvoller Mensch zu sein, indem er z.B. auf unseren Geburtstag vergessen oder uns bei einer Beförderung übersehen hat. Wir zeigen jemandem unsere kreative Produktion, z.B. ein Bild, das wir gemalt haben oder ein Lied, das wir erlernt haben, und stoßen auf höflich kaschiertes Desinteresse. Wir beziehen unseren Wert (für das, was wir tun und für das, was wir sind) aus der Wertschätzung durch andere, und wenn wir statt dessen Ignoranz oder Abwertung bekommen, sind wir enttäuscht und fühlen den Mangel als Beleidigtsein und Kränkung.

Lob und Wertschätzung lässt uns wachsen, Kritik und Abwertung engt uns ein. Was dabei wächst oder schrumpft, ist unser Selbstwertgefühl. Jede Form von Nicht-Annahme einschließlich der Nicht-Beachtung und subtiler Möglichkeiten wie Sarkasmus oder Zynismus kann eine solche Kränkung zur Folge haben. 

Wir verfügen über unterschiedliche Reaktionsmuster: Empörung, Kränkungswut, Ohnmacht, Traurigkeit, Verzweiflung, Scham. Ob wir die Kränkung nach außen zurückgeben oder nach innen wenden, hängt vom Persönlichkeitstyp, von den kindlichen Vorerfahrungen und von der Situation ab. Wenn die Kränkung nicht beigelegt werden kann, sondern immer wieder neu entfacht wird oder lange dahinschwelt, kommt es meist zum Beziehungsabbruch: „Mit so jemandem möchte ich nie wieder etwas zu tun haben.“ Doch ist damit die Kränkung noch nicht ruhiggestellt, vielmehr kann sie immer wieder aufs Neue aufflammen, wenn irgendwelche Gedanken den ursprünglichen Kränkungsanlass beschwören.

Jemand war gemein zu uns, hat uns abgewertet oder benachteiligt, war unfair, und wir haben uns abgewendet und die Beziehung beendet. Doch sobald jemand den Namen der Person erwähnt oder eine andere Assoziation auf die alte Geschichte aufmerksam macht, kann das wurmende Gefühl im Inneren aufsteigen und aggressive Gedanken auslösen: Hätte ich mir damals nicht so viel gefallen lassen, wäre ich doch schon früher ausgestiegen usw.

Gekränktsein ist ein Zeichen für einen Selbstwertmangel


Je vielfältiger die möglichen Auslöser für Beleidigungen sind und je häufiger sie auftreten, desto schwächer ist das Selbstwertgefühl ausgeprägt. Menschen, die sehr an sich selbst zweifeln, neigen dazu, sich sofort in Frage gestellt zu fühlen, wenn sie irgendwo eine Ablehnung vermuten. Oft stellt sich heraus, dass es von anderen Personen gar nicht so gemeint war, aber der Verdacht kommt leicht und schnell, dass andere einen selbst nicht mögen könnten. Solche Menschen haben ihre Sensoren auf Ablehnungsreize geschärft und scannen permanent die Umwelt ab nach möglichen Anzeichen für eine Zurückweisung. Kleinigkeiten können dann schon die Kränkungsreaktion auslösen und eine Wunde im Emotionalkörper erzeugen. Bzw. meint die betroffene Person überhaupt nicht, dass es eine Kleinigkeit ist, sondern ist überzeugt von der Gravität der Ungerechtigkeit oder Respektlosigkeit ebenso wie von der Angemessenheit der Intensität ihrer Reaktion darauf. 

Menschen, die ein fundierteres Selbstwertgefühl haben, sind weniger leicht kränkbar. Sie nehmen weniger von dem, was passiert, persönlich und beziehen weniger Vorgänge in der Umwelt auf sich. Im besten Fall fühlen sie sich nicht betroffen, wenn sie jemand anderer beschimpft, weil sie von sich überzeugt sind, dass sie keine Idioten oder Vollkoffer sein können, auch wenn ihnen das jemand ins Gesicht schreit. Sie können bei sich bleiben und steigen nicht in den Konflikt ein, der sich anbietet.

Das Selbstwertgefühl ist nicht genetisch bedingt oder einfach eine angeborene Charaktersache, von dem die einen mehr und die anderen weniger haben, sondern spiegelt den Grad an Angenommensein und Wertschätzung wieder, der in den frühen Lebensphasen vorherrschend war, begonnen mit der Form des Willkommens beim Eintritt in die Welt. Das Selbstgefühl entwickelt sich in dem Maß, in dem es von außen, von den wichtigen Personen der frühen Kindheit, bestätigt und bestärkt wird. Bei permanenter Infragestellung, Abwertung und Kritik kann sich kein stabiles Gefühl für den eigenen Wert bilden. Wenn dazu noch tiefwirkende Traumatisierungen kommen, wird die Haut noch dünner und die Empfindlichkeit noch größer. Das Misstrauen in die Welt, die es immer wieder böse mit einem selbst meinen könnte, ist ein Misstrauen sich selbst gegenüber, dieser Welt und ihren Unsicherheiten nicht standhalten zu können.

Menschen mit schwächerem Selbstwertgefühl tappen leicht in die Falle des Vergleichens. Sie sehen, dass jemand anderer besser, schöner, intelligenter usw. ist als sie selber, und schon sind sie gekränkt und fühlen sich benachteiligt. Beim Vergleichen schneidet die vergleichende Person immer schlechter ab, auch wenn sie meint, sie wäre besser als jemand anderer, denn dieses Bessersein hängt dann nur vom Schlechtersein der anderen Person ab. Wieder „entscheiden“ andere Menschen über den eigenen Selbstwert.

Wo hingegen eine positiv wertschätzende Atmosphäre in der Kindheit vorherrschte und schwerere Schicksalsschläge ausgeblieben sind, kann sich ein stabileres Selbstwertgefühl bilden, das auf einem festeren Vertrauen in die Welt und ihre Unwägbarkeiten beruht. Es fällt solchen Menschen leichter, die Vielfalt des Lebens im Blick zu haben und sich bei Erfahrungen von Ablehnung andere Erfahrungen zu vergegenwärtigen, die die Ablehnung relativieren. Ein Vorgesetzter kritisiert die eigenen Fremdsprachenkenntnisse, und man findet das Urteil ungerechtfertigt. Statt sich zu kränken, vergegenwärtigt man sich vieler positiver Rückmeldungen und Erfahrungen im Gebrauch der Fremdsprache. Menschen mit einem guten Selbstwertgefühl wissen auch, dass die Umwelt nicht primär dafür da ist, den eigenen Selbstwert zu steigern und dass sie genauso wenig dauernd darauf erpicht ist, diesen Selbstwert zu schmälern. Vielmehr gibt es im Leben immer wieder mal mehr von dem einen und dann wieder mehr von dem anderen.

Der Prozess der Kränkung


Kränkung ist ein Prozess, der in unserem Inneren abläuft und zur Minderung des Selbstwertes führt und uns in Unruhe und Unfrieden bringt. Wir haben das Gefühl, dass uns jemand mit Gewalt etwas weggenommen hat, was unsere Aggressionen mobilisiert. Sie kann sich gegen uns oder nach außen richten. Sobald wir die Kränkung in uns spüren, gehen wir auf uns selber los, indem wir die Kritik von außen mit uns selber wiederholen (Ich bin ja wirklich ein Idiot, wie kann ich nur …), oder greifen die andere Person an (Wie kannst du nur? Was erlaubst du dir?). Der andere ist schuld, dass ich mich gekränkt fühle. Sobald der Vorwurf draußen ist, meint man, das Problem los zu sein. Meistens jedoch reagiert die andere Person mit einem Gegenangriff, und es beginnt der Kampf um die Schuld, jeder will sie loswerden und keiner nimmt sie. Jede Konfliktpartei legt kleinweise ein Schäufchen mehr drauf, der Konflikt eskaliert und wird immer zerstörerischer. Dazu trägt insbesondere die Kränkungswut bei, denn sie will „das Böse“ in der anderen Person zerstören. „Ich will dir noch mehr antun, damit du spürst, wie weh du mir getan hast und damit du es ja nie mehr in der Zukunft wieder probierst.“ 

Im schlimmsten Fall entwickelt sich ein Flächenbrand, der kollektive Dimensionen erreichen kann und irgendwann zu Kriegen führt. Vermutlich könnte die Weltgeschichte als Geschichte von Kränkungen geschrieben werden.

Es geht im großen wie im kleinen, internen Kampf darum, für sich selber die Sicherheit vor Bedrohung herzustellen, indem der Gegner unterworfen und entwaffnet werden soll. Wenn die andere Person endlich fertiggemacht ist, kann ich mich sicher fühlen. Natürlich ist diese Hoffnung trügerisch; ein besiegter Gegner wird immer auf Rache sinnen. Und der Aufwand des Kampfes macht mich selber müde, während die Kränkung im Inneren weiter schwärt.

Das Bedürfnis nach Rache verspricht mir ja, dass es mir besser ginge, wenn die andere Person leidet. Dann würde sie ja verstehen, was ich durchmache. Doch die Rache befreit nicht, weil sie den Konflikt nicht löst, und ihre Folgen sind unabsehbar. Rache erzeugt Rache und so weiter, theoretisch bis ans Ende der Zeit, praktisch bis ans Ende der Ressourcen. Wir können die Lawine der Rache nicht mehr kontrollieren, sobald wir sie losgetreten haben. 

Verantwortung übernehmen


Der Schlüssel für die Heilung der Kränkung liegt im Übernehmen der Verantwortung. Die Kränkung ist mein Problem, ich bin es, der so reagiert, ich könnte auch anders, und primär muss ich selber damit zurecht kommen. Kränkungen setzen dort an, wo ich einen wunden Punkt habe, wo ich eine frühe verletzende Erfahrung nicht verarbeitet habe und wo Grundbedürfnisse nicht erfüllt wurden. Diese alten Punkte sind der Grund dafür, dass ich aktuell empfindlich und verletzt reagiert habe und die Erfahrung nicht an mir vorbeiziehen lassen kann. Da gibt es wunde Punkte, die nicht vernarbt sind. Sobald ich erkenne, dass da etwas in mir offen ist, wenn ich gekränkt werde, kann ich mich in diesem Bereich schützen und an dem offenen Thema arbeiten. 

Erst wenn ich die Kränkung als meine Unfähigkeit, mit einer unliebsamen oder unerwarteten Erfahrung umzugehen, akzeptiert habe, kann ich einen konstruktiven Weg finden, der den Konflikt mit der anderen Person löst. Das Akzeptieren der eigenen Unfähigkeit erfordert, alle Gefühle anzunehmen, die damit verbunden sind, ohne sie nach außen loswerden zu wollen. Es bedeutet also, den Schmerz der Verletztheit zuzulassen, die Angst (z.B. vor dem Verlassenwerden) zu sich zu nehmen, die Wut zu verlangsamen und die Scham anzunehmen.

Noch ein Wort zur Verlangsamung der Wut. Wut ist ein heftiger Impuls, der häufig übers Ziel hinausschießt, wenn er sofort und ohne Kontrolle losgelassen wird. Er entfaltet dann eine zerstörerische Kraft, die schwere Schäden anrichten kann. Ein australischer Kabarettist hat deshalb den Amerikanern vorgeschlagen, statt automatischer Gewehre nur Musketen zuzulassen, denn das Stopfen und Laden dieser Waffen erfordert ein paar Minuten, und in dieser Zeit könnte der Zorn abkühlen, dass der Impuls, den anderen umzubringen, schon längst verraucht ist, bis die Waffe einsatzbereit ist.

Sobald ich mich selber in meiner Verantwortung angenommen und gestärkt habe, kann ich die andere Person an ihre Verantwortung erinnern. Vorher macht das keinen Sinn, weil es nur dazu führt, dass mit der Schuld Ping-Pong gespielt wird. Einsicht und die Bereitschaft, die eigene Position des Rechthabens zu verlassen, entsteht nur, wenn keine Bedrohung herrscht und keine Aggressionen im Spiel sind. Ich muss also in mir selber zu Ruhe und Klarheit gekommen sein, wenn ich eine konstruktive Verständigung mit der anderen Person schaffen will. Dann wird es wahrscheinlicher, dass die Person, durch die es zur Verletzung gekommen ist, bereit ist, sich mit mir auseinanderzusetzen und den eigenen Anteil an dem Konflikt zu reflektieren. So kann es zu dem Mitgefühl kommen, das uns hilft, die Kränkung zu verarbeiten, Missverständnisse klären sich auf und die Spannung kann versöhnlich beigelegt werden.

Literatur:
Bärbel Wardetzki: Ohrfeige für die Seele: Wie wir mit Kränkung und Zurückweisung besser umgehen können. Dtv, München 2004
Ein Vortrag von Bärbel Wardetzki kann hier gehört werden.

Sonntag, 25. Februar 2018

Der Bösewicht in uns

Als „böse“ gelten Intentionen und Handlungen, die das Zusammenleben der Menschen erschweren und behindern, weil sie den Eigennutzen über den Gemeinnutzen stellen. Menschliche Gemeinschaften können nur funktionieren, wenn es einen fairen Ausgleich zwischen den individuellen Strebungen und den Bedürfnissen der Gruppe gibt. Diese Balance muss immer wieder hergestellt werden, durch Kommunikation und Diskurs in der Gesellschaft und durch die Instanz des sozialen Gewissens. Böses Handeln ist dann ein solches, das sich gegen dieses Gewissen und damit gegen das Gemeinwohl entscheidet.

Der Psychiater und Verbrechensforscher Reinhard Haller sagt: „Es muss im Menschen so etwas wie einen Moralinstinkt geben. Denn Delikte wie Töten, Vergewaltigen oder Rauben werden zu allen Zeiten, in allen Kulturen als verwerfliche Taten angesehen, die man verhindern und bestrafen muss. Der Mensch weiß das also instinktiv. Tatsächlich beginnt das Böse, glaube ich, an dem Punkt, an dem man den Moralinstinkt überspringt.“ (Interview in der ZEIT)

Was Haller als Moralinstinkt bezeichnet, würde ich das soziale Gewissen nennen, jene Instanz, die wir brauchen, um unsere inneren Impulse mit den Erfordernissen der Gemeinschaft abzustimmen. Das Gewissen macht uns darauf aufmerksam, dass wir Normen und Regeln beachten müssen, aber auch, dass wir den grundlegenden Respekt vor jedem anderen Menschen aufbringen müssen. Mein Eigennutz muss sich immer wieder diesen Werten unterordnen, damit die Gemeinschaft weiter bestehen kann. 


Die Leere nach der Tat


Wie geht es einem Verbrecher nach der Tat? Die Spannung, die mit der Planung der Tat verbunden war, fällt ab, das Ziel ist erreicht, das Böse ist getan. Der Täter fällt in eine Leere, die den Schmerz verdeckt über das, was anderen Menschen angetan wurde. Das soziale Gewissen holt jeden ein, die Strafe ist emotionale Kälte oder noch schlimmer, innere Leere, die durch den Verlust der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft entsteht. Die Tat schädigt in ihren Folgen den Täter selbst.


Wenn uns Böses widerfahren ist, sinnen wir auf einen Ausgleich, und das ist die Rache. Indem dem Bösewicht Böses zugefügt wird, soll er seine Bosheit erkennen. Rache ist süß, solange das Opfer leidet. Danach droht auch hier die Leere. Die Bitterkeit zieht ein. Die Leere bedeutet, dass durch die Tat nichts besser wird, sondern dass deutlich wird, dass die Tat durch die Illusion motiviert war, sie könne alles zum Besseren ändern. Der Bankräuber lebt nach der Tat in der Angst, erwischt zu werden, die ihm mehr Kraft kostet als der Mangel an Geld, an dem er möglicherweise vorher gelitten hat. Die Rächerin vermeint, dass das Leiden der anderen Person das eigene Leiden mindert. In Wirklichkeit bessert sich nichts, vielmehr leidet sie zusätzlich an ihrer eigenen Schlechtigkeit und an dem Verlust einer moralisch überlegenen Position gegenüber dem ursprünglichen Täter.


Der Gewöhnungseffekt an das Böse


Menschen verfügen über eine Hemmung vor unmenschlichem Verhalten, ob es nun ein Instinkt ist oder eine verinnerlichte soziale Instanz. Es bedarf einer starken Willensanstrengung oder eines heftigen Affekts, um über diese Schranke hinauszugehen. Viele Erfahrungen belegen allerdings, dass, sobald einmal die Überwindung der Hemmung geschehen ist, das böse Verhalten selbstverständlicher wird. Das soziale Gewissen stumpft ab, wird verdrängt und stillgelegt. Die Skrupel weichen einer asozialen Haltung. Der Täter stellt sich selber außerhalb der menschlichen Gemeinschaft (auch wenn er vielleicht Mitglied einer asozialen Teilgesellschaft ist) und wird zum Außenseiter.

An diesem Punkt kann das verwerfliche Verhalten nur durch eine starke Gegenreaktion der Gesellschaft aufgehalten werden, es müssen Strafen eingesetzt werden, um den sozialen Ausgleich wieder herzustellen und den böse handelnden Menschen mit seinem sozialen Gewissen zu konfrontieren, sodass es im besten Fall zu einer „Re-Sozialisierung“ kommt: Das Individuum, das mit seinem übermäßigen Bestreben nach Eigennutz aus dem sozialen Rahmen ausgeschert ist, bekommt die Chance, wieder einen Platz in der Gemeinschaft einzunehmen, vorausgesetzt der Egoismus wird reduziert und das Gemeinwohl erhält einen höheren Wert. Dazu ist es notwendig, dass dieser Mensch in sich das Böse integriert hat, sodass es nicht mehr als isolierter Teil der Persönlichkeit aktiv werden kann.


Das Böse in uns selbst


Wir alle haben den Wunsch in uns, dass es uns auf Kosten anderer besser geht. Wir alle kennen also das Böse in uns, auch wenn es einfacher ist, es im Außen zu lokalisieren und zu bekämpfen. Wir können unser Leben als Prozess der beständigen Auseinandersetzung zwischen unseren selbstsüchtigen Impulsen und unseren sozialen Orientierungen verstehen. Zu erlernen, bewusst mit diesen Konflikten in uns umzugehen, ist ein wichtiger Schritt zur inneren Freiheit.

Es geht zunächst darum, das Böse in uns zu spüren und anzuerkennen. Dazu müssen wir die Eitelkeit überwinden, die uns sagt, dass wir ja so gut sind oder dass wir das Böse in uns bekämpfen und nicht akzeptieren sollen. Allerdings hat jeder einen Verbrecher in sich, ob er sich offensiv oder verdeckt in unserem Leben äußert. Er ist durch viele Hemmmechanismen gezähmt, die aus unserem sozialen Gewissen und aus unserer Sozialisation stammen. Vermutlich fließen auch noch Prägungen ein, die wir aus der Generationenlinie übernommen haben.

Ein wichtiger Aspekt dieser Hemmungen ist die Angst vor diesen Impulsen und ihrer destruktiven Kraft. Das zerstörerische Potenzial des Bösen führt dazu, dass es verdrängt werden muss. Wollen wir also das Böse in uns erlösen, so müssen wir uns dieser unserer Destruktivität stellen. Es handelt sich um die Emotionen von Wut und Hass, die uns dabei begegnen. Diese Gefühle enthalten eine Menge Kraft und Energie, die wir ins Konstruktive transformieren können, indem wir ihre Destruktivität annehmen und überwinden.

Die Bereitschaft, in die Rolle des zerstörerischen Täters zu schlüpfen und sie als eigenen inneren Teil anzunehmen, verringert die Angst und ermöglicht den inneren Ausgleich zwischen der Opfer- und der Täterrolle. Weil wir erkennen, dass diese Energien Aspekte oder Teile unseres Inneren sind, können wir uns leichter von beiden Rollen desidentifizieren, von der gewohnten und der gefürchteten, der zum Selbstbild passenden und der fremden, angstbesetzten, und beide verlieren an Macht, die eine auf der bewussten und die andere auf der unbewussten Ebene. Im Alltagsverhalten kann keine von beiden mehr so leicht alleine das Kommando übernehmen. Die schwache Komponente, auf der die Opferrolle beruht, und die starke Komponente, die in der Täterrolle erscheint, gleichen einander aus, sodass immer wieder eine gute und kräftige Mitte erreicht werden kann, die balancierte Kraft, die flexibel auf die Umstände reagieren kann: Wenn die Situation vertrauensvoll ist, kann die weichere und nachgiebigere Seite zum Vorschein kommen; wenn die Situation riskanter ist, kann die härtere und durchsetzungsfreudige Seite wirksamer werden.

Der ausbalancierten Persönlichkeit kann kein Täter etwas anhaben, weil er einer klaren abgrenzenden Kraft begegnet. So besteht keine Gefahr, in die Opferrolle abzurutschen. Andererseits weitet sich der Bereich, in dem der soziale Austausch friktionslos und ausgeglichen abläuft, sodass kein Machteinsatz notwendig ist, um die Opferrolle zu vermeiden und keine Selbstverleugnung, um nicht Täter zu werden. Der ausbalancierte Mensch kennt das Böse in sich und erkennt es in anderen, muss diese Destruktivität aber nicht zum Einsatz bringen, weil die in sich ruhende Kraft den Respekt vor jedem anderen erlaubt und den Respekt von jedem anderen erzeugt.


Zum Weiterlesen:
Wut, das herausforderndste Gefühl
Über den Ursprung des Bösen und des Hasses

Dienstag, 20. Februar 2018

Atembewusstheit und Flexibilität

Die Geschichte der Menschheit ist gekennzeichnet durch einen beständigen Fortschritt in der Spezialisierung. Während Menschen in der Frühzeit Allrounder waren, was auch heißt, dass sie rund um die Uhr auf den Beinen waren und ihr Leben mit Handarbeit gesichert haben, nutzen wir im heutigen Bewegungsalltag durchschnittlich 1 – 5 % unserer Bewegungsmöglichkeiten. Die Einschränkung der Vielfalt von körperlichen Aktivitäten spitzt sich in der Informationsgesellschaft extrem zu. Wir können uns heutzutage unseren Reichtum erwirtschaften, indem wir nichts tun als den ganzen Tag in eine Tastatur zu klopfen und dazwischen mal aufs WC oder zum Kühlschrank zu gehen. Andere Menschen nutzen dazu noch die Muskeln, die sie zum Be- und Entsteigen sowie Bedienens ihres Autos brauchen. Unser Körper mit seinen 656 Muskeln ist auf vielfältige Herausforderungen eingestellt; wenn wir aber nur einen Bruchteil davon nutzen, verkümmern die anderen Bereiche, verspannen sich und werden müde. Wir verlieren an Flexibilität – einschließlich unseres Gehirns, denn dieses vereinfacht sich, wenn es vor keine Bewegungsherausforderungen gestellt ist, und beginnt, stärker in Schablonen zu denken statt seine Kreativität zu entfalten.

Dabei ist gerade unser Gehirn zusätzlich durch einen zweiten Trend, der sich durch die Menschheitsgeschichte zieht, besonders in Anspruch genommen. Die Arbeiten, die die Menschen verrichten, sind immer mehr durch mentale Prozesse gesteuert, die zunehmend komplexer werden. Ein Bauer, der im Mittelalter seine Felder bestellte, hat alles, was er dazu an Wissen brauchte, von seinen Eltern gelernt. Heutzutage braucht es Jahrzehnte, bis ein junger Mensch in der Gesellschaft seinen Erwerb sichern kann, so viel Wissen ist notwendig. Die mentalen Fähigkeiten sind die Eintrittskarte in die meisten Berufe, sodass die kognitiven Bereiche des Gehirns auf Kosten der anderen Areale überbetont werden, vor allem jene, die mit dem inneren Spüren zu tun haben.


Wenn wir uns auf die Erweiterung der mentalen Fähigkeiten fokussieren, schwindet der Bezug zum eigenen Inneren. Deshalb ist die Aufmerksamkeit auf den eigenen Atem so wichtig. Er führt uns in unsere Innenwelt und macht uns bewusst, wie es uns gerade geht, was wir brauchen und was unsere Impulse sind. Diese Bewusstheit erleichtert uns das Aussteigen aus einschränkenden Verhaltensweisen und motiviert uns, Neues auszuprobieren, sei es nur, einen tiefen Atemzug zu nehmen, vom Schreibtisch aufzustehen und ein paar Dehnungsübungen zu machen. Wir werden merken: Schon kommen andere Gedanken und Ideen, wir gewinnen ein Stück Kreativität.

Gewohnheiten sind es, die uns das Leben erleichtern sollen. Wir neigen dazu, alles, was einmal funktioniert hat, so festzulegen, dass wir es immer wieder praktizieren, auch wenn wir es gar nicht mehr brauchen oder es uns nicht mehr dient und stattdessen im Weg steht. So stecken Gewohnheiten hinter den meisten Problemen, die uns unser Leben schwer machen. Sie engen unsere Möglichkeiten ein und beschränken unseren Erlebens- und Handlungsradius. Das geht bis in unsere Bewegungsformen: Wir gehen auf eine  bestimmte, irgendwann einmal festgelegte Weise, putzen die Zähne oder duschen uns auf ähnliche Art und atmen so, wie wir es im Lauf der Zeit irgendwann angewöhnt haben.

Auch hier ist wieder die Atembewusstheit ein erster Schritt: Indem wir einen bewussten Atemzug nehmen, brechen wir schon aus einer eingeschränkten Atemgewohnheit aus und geben uns selbst mehr Raum, in dem etwas Ungewohntes geschehen kann. Natürlich ist es wichtig, dass wir unsere unterschiedlichen Körperbereiche immer wieder aktivieren und sie damit geschmeidig halten. Die Atemvariation können wir als Anfang nehmen und dann unseren Körper in eine spontane Beweglichkeit bringen. Damit stärken wir unsere Flexibilität, denn ein Körper, der in all seinen Muskeln und Sehnen beweglich ist, kann auf alle möglichen Herausforderungen spontan reagieren, ohne auf gewohnte Verhaltensmuster zurückgreifen zu müssen.

Jeder Gewinn an Flexibilität ist ein Gewinn an Freiheit, jede Einschränkung unserer Möglichkeiten durch nicht mehr sinnvolle Gewohnheiten bedeutet einen Verlust an Lebendigkeit, den wir irgendwann mit Schmerzen und Erkrankungen bezahlen müssen. Es liegt an uns selbst, unsere Bewusstheit zu schulen, damit wir unsere Beweglichkeit erhalten, was unseren Körper immer freut. Er muss dann keine Symptome mehr erzeugen, um uns daran zu erinnern, dass wir auf ihn und seine Bedürfnisse vergessen haben.

Zum Weiterlesen:

Polaritäten lähmen, Kontinuen befreien
Grenzen und Durchlässigkeit
Weiches besiegt das Harte
Über den Nutzen der Flexibilität

Montag, 19. Februar 2018

Das soziale Gewissen und die Verachtung des Schwachen

Da wir Menschen soziale Wesen sind, verfügen wir auch über ein soziales Gewissen und die soziale Scham als dessen Agentin im Gefühlsbereich. Diese Instanzen sollen uns darauf aufmerksam machen, wenn wir die Grenzen der sozialen Fairness überschreiten. Jedes Sozialgefüge braucht einen Ausgleich und eine Balance zwischen den einzelnen Individuen. Da jedes Mitglied einer sozialen Gruppe mit verschiedenen Begabungen, Interessen, Gefühlsmischungen und Antrieben ausgestattet ist, muss dieses Gleichgewicht immer wieder hergestellt werden. Wenn es aus dem Lot gefallen ist, fühlen sich alle Mitglieder der sozialen Einheit mehr oder weniger belastet. Wenn es wieder in den Ausgleich zurückgefunden hat, können sich alle entspannen.

Aus der sozialen Scham entstehen die Schuldgefühle. Sie haben damit zu tun, dass der eigene Beitrag zu einer sozialen Störung auf einer bewussten oder unbewussten Ebene deutlich wird. Diese Gefühle sollen dazu motivieren, Handlungen zu setzen, die zur Behebung der Störung beitragen, z.B. eine Entschuldigung. Jemand hat auf den Geburtstag eines Freundes vergessen, er erinnert sich daran und empfindet ein Schuldgefühl, das ihn motiviert, aktiv zu werden, um das Versäumnis gutzumachen. 

Im vorhergehenden Blogartikel war von der Verachtung des Schwachen die Rede. Im Kontext des sozialen Gewissens hat sie die Funktion, vor Schuldgefühlen zu schützen. Wir tragen alle ein Gefühl für Fairness in uns und es sagt, dass es einen Ausgleich zwischen den unterschiedlichen Menschen geben muss: zwischen den Besseren und den Schlechteren, den Schnelleren und den Langsameren, den Ärmeren und den Reicheren, den Stärkeren und den Schwächeren, die Mächtigeren und den Ohnmächtigeren. Das ist Teil des tribalen Bewusstseins, der Urverfasstheit menschlicher Gemeinschaftsbildung, unserer ursprünglichsten sozialen Prägung. Diese Prägung steckt in uns allen, wir haben nur die Wahl sie anzuerkennen oder zu verleugnen, sprich wir können uns die Schuldgefühle bewusst machen, oder sie wirken unbewusst. Die Prägung hatte zur Folge, dass alle weiter entwickelten gesellschaftlichen Organisationsformen Mechanismen des sozialen Ausgleichs eingerichtet haben, von den Almosen aus der Schatulle des Herrschers bis zu den komplexen Regelungen eines modernen Sozialstaates. Viele Superreiche geben einen Teil ihres Überflusses an Schwächere und Benachteiligte.


Der Vorrang des Eigennutzes und seine Folgen


Doch haben wir im Lauf der Zeit (menschheits- und lebensgeschichtlich gesehen) gelernt, vorrangig auf unseren Eigennutzen zu achten und die sozialen Motiven nachzureihen. In einer hochkomplexen Gesellschaft ist für ein einzelnes Individuum nicht mehr möglich, den sozialen Ausgleich zu schaffen. Wollten wir uns um all das Leid kümmern, das die Menschen belastet, kämen wir in einer Großstadt kaum bis zur nächsten Straßenkreuzung. Da bittet ein Bettler um eine Gabe, dort schleppt sich eine alte Frau ab, daneben kommt eine Mutter mit ihrem Kleinkind nicht zurecht, es begegnen uns leere Blicke, einsame und depressive, hektische und verlorene Menschen, so viel Anspannung, sowenig innere Balance. Aber wir können nicht für alle da sein, die etwas brauchen, obwohl uns das soziale Gewissen dazu mahnt. 

Deshalb müssen wir das Gewissen beruhigen, um nicht in Schuldgefühlen zu versinken, und nutzen dazu verschiedene Konstrukte, von denen eines die soziale Verachtung erzeugt. Es ist ein radikales Konzept, weil es die menschliche Gemeinschaft in zwei Kategorien teilt, die Starken und die Schwachen. Es ist deshalb erfolgreich, weil es ein weiteres Element des tribalen Bewusstseins aufgreift, die Unterscheidung von Innen und Außen: Das soziale Gewissen ist reduziert auf die Mitglieder der eigenen Gruppe, des eigenen Stammes, der eigenen Gemeinschaft. Alle, die nicht dazugehören, sind potenzielle Feinde und zählen deshalb nicht zu den Menschen, mit denen wir einen Ausgleich suchen müssen. Mit der Komplizierung der menschlichen Organisationsformen verlieren sich auch die eindeutigen Zuordnungen von Freund und Feind, und die Differenzierung wird im Inneren aufgebaut und emotional durch Verachtung abgesichert. Die Adeligen verachten die Nichtadeligen, das Bürgertum, zunächst selber noch vom Adel verachtet, verachtet die Bauern und Arbeiter, und so schichtet sich die Gesellschaft von oben nach unten. Die soziologischen Schichten heute werden vor allem durch Einkommen und Vermögen definiert, und damit sind wir bei der Verachtung jener, die es nicht so weit gebracht haben wie wir selber. 


Ideologien der Verdrängung


Individuen gehen mit ihren Schuldgefühlen unterschiedlich um. Ganze ideologische Gedankengebäude wurden errichtet, um bei der Verdrängung des sozialen Gewissens zu helfen. Ein zentrales Dogma unserer Gesellschaft ist darauf gegründet, dass die eigene Leistung ausschlaggebend für die gesellschaftliche Position sein soll (was ja auch in unserer Gesellschaft nur teilweise zutrifft, weil die große Zahl der Riesenvermögen in unserem Land nicht durch Leistung, sondern durch Erbe erlangt werden). Wer genügend geleistet hat, achtet diejenigen, die ähnlich viel leisten, und verachtet jene, die das nicht schaffen. Neoliberale wie konservative Parteien tragen dieses Dogma auf ihren Fahnen vor sich her. Nationale Parteien verachten weniger die Schwachen als eher die Fremden.


Verachtung muss durch Achtung ersetzt werden


Verachtung der Schwachen ist Menschenverachtung. Das bedeutet, dass die Menschheit nur dann in eine bessere Zukunft gelangen kann, wenn sie der Verachtung von Menschen keinen Raum mehr gibt. Verachtung muss überall, wo sie auftritt, durch Achtung und Wertschätzung ersetzt werden, und das gilt ganz besonders im Bereich der Politik, die über das Schicksal von so vielen Menschen bestimmen kann. Wir brauchen also dringend Politiker, die sich dem  Respekt und der Menschenwürde für die Starken und die Schwachen in ihrem Handeln (nicht nur in ihrem Reden) verpflichtet fühlen.

Zum Weiterlesen:
Über Schwäche und Bedürftigkeit
Leistung statt Freude

Donnerstag, 15. Februar 2018

Über Schwäche und Bedürftigkeit

Hilflos und abhängig von Zuwendung kommen wir in diese Welt, unser Überleben hängt davon ab, dass sich andere um uns und unsere Bedürfnisse kümmern. Alles, was wir mitbringen, um die Menschen um uns zu motivieren, dass sie für uns sorgen, ist unser unschuldiger Charme und unsere Verzweiflung im Schreien. In dieser grundlegenden Bedürftigkeit sind wir auch enorm verletzlich und fühlen uns im Vergleich zu den Erwachsenen um uns herum ohnmächtig und schwach.

Der Kontrast: Als Standard in unserer Gesellschaft gilt, stark sein zu müssen und keine Schwächen zu zeigen. Um eine Stellung in dieser Gesellschaft zu erlangen, sollen wir also die eigenen Schwächen verdrängen und die Stärken zur Schau stellen. Das ist das Ziel der Erziehung, darin sehen die Erwachsenen ihre Pflicht und Aufgabe, wenn ein hilfloses und bedürftiges Wesen in die Welt kommt: Wie kann es möglichst rasch zu einem unverwundbaren und fähigen Mitglied der Leistungsgesellschaft werden?



Die Diktate der Leistungsgesellschaft


Denn Leistung und Effizienz sind gefragt und gefordert, damit das erwachsene Überleben gesichert werden kann. Folglich arbeiten nicht wenige Menschen buchstäblich bis zum Umfallen und überspielen ihre Krankheiten, bis irgendwann der Körper nicht mehr kann. Den Starken gehört die Welt, die Schwachen müssen sich mit dem zufrieden geben, was übrigbleibt. Stärke heißt dabei, über die Grenzen der eigenen Belastbarkeit hinaus Leistungen erbringen zu können.

Dazu kommt, dass sich die Starken das Recht geben, die Schwachen zu verachten. Bedürftigkeit gilt als Makel, als moralischer Mangel. Wer so viel leistet, verdient nicht nur einen größeren Anteil am gesellschaftlichen Reichtum, sondern es steht ihm auch eine moralische Überlegenheit zu, eine Position, von der aus er auf die, die es nicht geschafft haben, herunterschauen kann.

Rechtspopulistische Politiker bedienen mit Erfolg genau dieses Muster. Sie schüren den Neid auf die Schwachen und fördern die Überheblichkeit der Erfolgreichen. An der Macht, sobalsd sie es also selbst geschafft haben, verteilen sie von unten nach oben, von den ganz Armen und Wenigerbemittelten zu den oberen Mittelschichten, mit ausgewählten Zuckerl und Steuerverschonungen für die „besonders Tüchtigen“, die Reichen und Superreichen.

Wer den Standard der Leistungsfähigkeit nicht schafft, ist selber schuld und soll nicht mehr als eine möglichst geringe „Mindestsicherung“ kriegen, die gerade das Existenzminimum abdeckt. Damit wird die Angst vor dem Abstieg in die Schwäche permanent aktiviert und in den Strebsamen der Leistungsgesellschaft chronifiziert. Die Verachtung des Schwachen rechtfertigt scheinbar den inneren Stress.



Zur Entwicklung der Ideologie der Schwächeverachtung


Als Vordenker dieser Ideologie kann Friedrich Nietzsche gelten. Er schrieb: „Die Schwachen und Missratnen sollen zu Grunde gehn: erster Satz unsrer Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen.“ (Der Antichrist, 1. Buch 2.). [Bekannt ist auch das allerdings oft missverstandene und für diesen Zusammenhang nicht brauchbare Zitat: „Was fällt, das soll man auch noch stoßen!“ (Also sprach Zarathustra, Kap. 67, 20)] Nietzsche hat seine Polemik gegen die Mitleidsethik und gegen das Mitgefühl des Christentums gerichtet und damit ein Tabu gebrochen, denn bei Paulus steht: „Was schwach ist vor der Welt, hat Gott erwählt.“ (1 Kor 1,27). Der ungebrochene Wille zur Macht als Kennzeichen des Nietzsche’schen Übermenschen muss alle Hindernisse beseitigen, die eigenen im Inneren und die im Außen, die sein Machtstreben behindern könnten.

Die Nationalsozialisten haben diese Konstrukte aufgegriffen und in ihrem Sinn ideologisiert. Es wurden Bevölkerungsgruppen definiert, die aus ihrer genetisch veranlagten Schwäche und Bosheit die Stärkeren ausnutzen, indem sie als Parasiten, also als biologisches Ungeziefer agieren, und die deshalb unterdrückt oder vernichtet werden müssen. Den Übermenschen, die auch genetisch festgelegt sind, stehen die Untermenschen gegenüber, die ausgebeutet und beherrscht werden dürfen und müssen, da sie sonst das Überleben der Starken gefährden.



Die Aggression gegen die Schwachen


Der Kampf gegen die vermeintlichen Parasiten, die für die Schwächen der Starken verantwortlich gemacht wurden, hat bekanntlich Millionen an Menschenleben gefordert und eine Furche von Grausamkeit und Unmenschlichkeit durch das 20. Jahrhundert gezogen. Am Ende waren die arischen „Übermenschen“ besiegt und ihr Land in Trümmern, doch die Ideologie wurde weiter am Leben erhalten. Denn ihre Ursachen liegen nicht in den äußeren Umständen der Geschichte, sondern im Inneren, in der seit unseren Anfängen grundgelegten Angst, die mit unserer Bedürftigkeit verbunden ist.

Woher kommt also die Aggression gegen die Schwäche, woher kommt der Impuls, alles Schwäche zu schwächen und letztlich zu vernichten? Um ein aktuelles Beispiel zu nehmen: Warum wollen so viele, dass die Mindestsicherung für die Schwächsten der Gesellschaft gekürzt wird, obwohl dabei höchstens Millionenbeträge eingespart werden können, während für Prestigeprojekte und Bankensanierungen in Milliarden gerechnet wird? Warum fällt es so leicht, das eigene soziale Gewissen zum Stillschweigen zu bringen, wenn es um einkommens-, leistungs- und erfolgsschwache Menschen geht?

Die Verachtung erstreckt sich zusätzlich auf die Helfer der Schwächeren. Sie sind ebenfalls Schwächlinge, weil sie das Schwache erhalten, statt es zu bekämpfen und zu beseitigen. Sie handeln nur aus einer eigenen inneren Schwäche. Ihre Hilfe kompensiert nur ihre eigenen Minderwertigkeitskomplexe. Außerdem wollen sie die Gutmenschen sein, indem sie aber nur an die Schuldgefühle der anderen appellieren. Sie verachten also in ihrem blinden Agieren die Verächter der Schwachen, indem sie sich als die moralisch Besseren darstellen.

So wie wir Menschen sind, mischen sich in jedes Handeln, in jede Motivation und Wertsetzung unbewusste Anteile hinein. Wie wir alle, sind auch die „Gutmenschen“ gut darin beraten, ihre eigenen inneren Anteile zu erforschen und zu überprüfen, ob ihre Aktionen aus bedingungsloser Selbstlosigkeit entspringen oder ob sie auch andere innere Antriebe bedienen, die weniger altruistisch sind. Es wäre auch keine Schande, die Egoismen im Altruismus zu enthüllen – die Patina des makellosen Gutmenschen zieht naturgemäß das Misstrauen der weniger Perfekten auf sich.

Es könnte nämlich sein, dass die Helfer die Opfer in ihrem Opfersein unterstützen, statt dafür zu sorgen, dass sie stark werden. Viele Schwache nutzen ihre Schwäche, um Hilfe und Zuwendung zu bekommen, statt sich selbst zu helfen. Darauf zielt der Doppelsinn in dem obigen Zitat von Nietzsche, als Appell an die Schwachen, an die eigene Kraft zu glauben, und als Warnung an die Helfer, die Falle der schwächenden Hilfestellung zu erkennen und zu vermeiden.



Die Selbstverachtung


Die Verachtung für das Schwache stammt aus einer angstgeschürten Verachtung für die eigene Schwäche und Bedürftigkeit. Wir kommen alle als schwache Wesen auf diese Welt, unser Überleben hängt ab vom Wohlwollen unserer Umgebung. Wenn sie uns in unserer Bedürftigkeit annimmt, dann schaffen wir es, sonst ist es zu Ende mit uns. Wir brauchen die bedingungslose Liebe und das bedingungslose Dienen von Menschen, die uns in unserer Hilflosigkeit annehmen. Auf dieser Basis lernen wir, dass Schwäche keine Überlebensgefahr bedeutet, sondern dass uns andere in diesem Zustand helfen können.

Haben wir jedoch diese Hilfe nur in bedingter und begrenzter Form erhalten, wird jede Form von Bedürftigkeit mit Angst verbunden: Ich muss für mich selber sorgen können, alles andere ist nicht in meiner Kontrolle und verunsichert mich. Ich muss mich mit eigener Kraft nach allen Seiten hin absichern, indem ich beständig meine Leistung erbringe und Erfolge erziele. Doch es kann nie genug sein, es gibt keinen Punkt, von dem an ich mich endlich zurücklehnen könnte, um mich sicher zu fühlen. Die übermäßige Leistung kompensiert den Mangel an innerer Sicherheit, der aus der Bedingtheit kommt, in der die ursprüngliche Bedürftigkeit angenommen wurde.

Wer andere verachtet, verachtet sich selbst, in genau dem Aspekt, den er bei der anderen Person abwertet. Er schneidet sich ab von sich selbst, indem er seine eigene Schwäche nach außen projiziert und dort mittels Verächtlichmachung bekämpfen will.



Grenzen respektieren


Wir kennen alle die Schwäche, die Hilflosigkeit, die Bedürftigkeit. Sie steht am Anfang unserer Existenz, sie begleitet uns durch unser Leben, und sie wird uns am Ende auch wieder einholen. Es führt uns nur weg von uns selbst, wenn wir sie zwanghaft überspielen, übervorteilen, übertrumpfen wollen. Unser Körper hat Grenzen in seiner Leistungsfähigkeit, und wenn wir nicht lernen, diese zu erkennen und zu respektieren, bringen wir uns schneller an unser Ende als wir es hoffen.

Deshalb sollten wir uns darin üben, mit unseren Grenzen konstruktiv umzugehen und sie nur in Ausnahmefällen zu überdehnen, damit wir immer wieder in ein inneres Gleichgewicht kommen. Dazu müssen wir das Leistungsmotiv, das uns eingepflanzt wurde, zügeln, indem wir das Schwache und Fehlerhafte, das wir alle in uns haben, das Versagen, die Unvollkommenheit in uns selber annehmen, umarmen und halten.

In der sozialen Wirklichkeit, in der wir uns bewegen, kann die Übung in der folgenden Erkenntnis bestehen: Im schwachen Anderen begegne ich mir in meiner eigenen Schwäche und anerkenne sie. Ich erlaube mir dabei, zugleich meine Stärke spüren und auch die Stärke in der anderen Person anzuerkennen.

Dann kann ich entspannen, wenn ich bedürftigen Menschen im Außen begegne, statt auf sie aggressiv zu reagieren. Dann kann ich es begrüßen, wenn es in einer Stadt Bettler gibt, statt zu fordern, dass sie von den Straßen verbannt werden, damit ich die inneren Konflikte verdrängen kann, die mit dem Thema verbunden sind. Dann setze ich mich dafür ein, dass alle in der Gesellschaft ein menschenwürdiges Leben führen können, die oben und die unten, und auch alle dazwischen.


Zum Weiterlesen:
Das soziale Gewissen und die Verachtung des Schwachen

Donnerstag, 8. Februar 2018

Ein Land von Krypto-Nazis?

Fast jeden Tag taucht irgendwo in Österreich ein Krypto-Nazi auf, fast immer im Funktionskader der FPÖ – kürzlich eine Dame in Tulln, die Menschen, die ohne Familie aus Kriegsgebieten geflohen sind, als „Untermenschen“ bezeichnet hatte. Sie ist im dortigen FPÖ-Vorstand. Die rechten Burschenschafter, die zum Großteil noch immer die großdeutsche Idee hochhalten oder von der deutschen Kulturnation schwärmen, wenn sie nicht nationalsozialistische Parolen oder Lieder pflegen. Aber wenn man nicht singen kann wie Herr Landbauer, ist man natürlich über jeden Verdacht erhaben und kann nicht nachvollziehen, warum da plötzlich das Opfer einer „medialen Hetze“ ist.

Es scheinen zwei Tendenzen in diesem Land zur Zeit zu konkurrieren: Die eine schwemmt nach der Regierungsbeteiligung der FPÖ all die Gestalten der rechten Szene, die neben viel Bier auch ein wenig akademische Bildung intus haben, in die höchsten Stellen des Staates, sie werden plötzlich Minister, Abgeordnete und Verwaltungsbeamte. Mit diesen Personen wird die rechtsextreme Ideologie salonfähig gemacht. 


Andererseits gibt es nach wie vor eine kritische Öffentlichkeit, die diesen Herrn und Damen umso genauer auf die weltanschaulichen Finger schaut, je mehr sie ins öffentliche Rampenlicht treten. Mancher muss nun zur Kenntnis nehmen, dass extremistische „Jugendsünden“ der Karriere schaden und dass man ein wenig aufpassen muss, was man so von sich gibt. Es genügt nicht mehr, scharf am Rand des NS-Verbotsgesetzes entlang zu polemisieren und Hass-zu-posten, man muss besser aufpassen, was einem über die Lippen oder die Tastatur kommt. Die FP-Politiker, vom Vize-Kanzler abwärts, können sich erst recht nicht mehr leisten, mit antisemitischen, antimoslemischen oder antidemokratischen Bosheiten Anhänger um sich zu scharen, sie müssen ihre aggressive menschenfeindliche Rhetorik zügeln. Offensichtlich hat die Partei diesen Leuten genügend Kreide zum Fressen ausgegeben.

Psychologische Mechanismen


Was aber ist es, dass so viele Menschen in unserem Land empfänglich für Parolen macht, die aus Ideen gespeist sind, die vor 80 Jahren Hochkonjunktur hatten und 7 Jahre später in Schutt und Asche, zerbröselt sind, in Blut und Tränen aufgelöst wurden? Was macht es attraktiv, „deutschnational“ zu denken, einer Ideologie, die in der k.u.k.-Monarchie, dem Vielvölkerstaat mit den Deutschsprechenden als größter Volksgruppe, erfunden wurde, wo es nach dem 2. Weltkrieg den meisten Österreichern deutlich wurde, dass sie lieber Österreicher als Deutsche sind? Wie kann jemand ein Gestern verherrlichen, das eine tiefe Furche von Massenverbrechen ohnegleichen durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts zieht?

Die psychologischen Mechanismen einer notorischen Rückwärts-Fixierung sind vielfältig. Unbewusste Loyalitäten zu Vorfahren, die ihr Herzblut dem Nationalsozialismus geschenkt haben, willfährige Anhänger oder anfangsbegeisterte Mitläufer waren, spielen oft eine Rolle. Nicht verarbeitete Desillusionierungen, Schuldgefühle und Machtfantasien erzeugen die Verführbarkeit zu totalitären Gedankengebilden. Jeder von uns hat irgendwann eine Beleidigung oder Demütigung erfahren; einfacher und feiger ist es, die daraus resultierenden Rachegefühle in die vorgefertigten Kanäle einer menschenverachtenden Ideologie fließen zu lassen. Infantile Trotzhaltungen gegenüber den Ideen der Aufklärung, die das Zentrum einer modernen Demokratie ausmachen, zeigen sich dort, wo Verbrecher verharmlost und Gewalt verherrlicht wird.

Häufig sind Modernisierungsverlierer prädestiniert, ihr Heil in einer Vergangenheit zu suchen, in der Kleinhandel und Handwerk blühten und keine bedrohlichen Fremdsprachen am Marktplatz zu hören waren. Die Angst vor einer ungewissen Zukunft, in der unheimliche Marktzwänge die Geldflüsse von unten nach oben dirigieren und Roboter Menschen ersetzen, macht anfällig für Ideologien, die so tun, als könnten sie die Geschichte rückwärts lenken.

Natürlich, jeder Täter ist ein Opfer, jeder Menschenverächter wurde verachtet, jeder Hasser wurde gehasst. Als Erwachsene, und als solche sollten wir uns verhalten, wenn wir in irgendeiner Weise staatsbürgerliche Verantwortung übernehmen (z.B. wenn wir wählen gehen oder wenn wir politische Ämter übernehmen), sollten wir in der Lage sein, uns von solchen kindlichen Impulsen und Emotionen zu distanzieren. Können wir das nicht, sollten wir zumindest die Verantwortung übernehmen, uns von der Öffentlichkeit fernzuhalten. Für solche, die keine Haltung von elementarer Höflichkeit und Respekt aufbringen können, wären Auftrittsverbote in der politischen Öffentlichkeit sinnvoll. Der demokratische Diskurs funktioniert nur mit einem Minimum an Umgangsformen und gewaltfreier Sprache. Will sich die Demokratie nicht selber abschaffen, müssen solche Diskursregeln eingehalten und überwacht werden.

Erschreckende Dunkelziffer


Erschreckend bleibt, dass die Personen, die mit ihrer NS-Gesinnung auffliegen, ganz offensichtlich nur die Oberfläche an FPÖ-Funktionären darstellen, die einschlägig belastet sind. In vielen Foren und Social-Media-Plattformen kommen noch anonym Tausende dazu, die eine Befriedigung darin finden, ihren Hass auf wen oder was auch immer gegen Schwache, Randgruppen, Flüchtlinge, Juden und Moslems zu richten und sich dabei übelster NS-Symbolik und –Rhetorik zu bedienen. Vielleicht stimmt es in manchen Fällen sogar, nicht zu wissen, welche Bedeutung Worte wie „Untermensch“, „völkisch“, „arisch“ usw. tragen; nicht jeder hatte einen guten Geschichtsunterricht. Schlimmer noch als Unbildung und Gedankenlosigkeit ist der Mangel an ethischen Werten, an Menschlichkeit, der sich in der Verwendung von solchen ausgrenzenden und beleidigenden Worten zeigt. 


Was schnappt man nicht alles auf, in einer Umgebung, in der Vergangenheitsbewältigung in Form von Judenwitzen oder im blinden Nachbeten von Geschichtsfälschungen (Stichwort „Auschwitz-Lüge etc.) geschieht? Wie lange wird es noch dauern, bis Menschen keine sadistische Befriedigung im öffentlichen Äußern von Unmenschlichkeiten finden? Wie lange wird es noch dauern, bis genügend Menschen Abscheu und Empörung gegenüber jeder Form der Unmenschlichkeit entwickelt haben, sodass solche Haltungen keinerlei Widerhall und keinerlei Nachahmung finden, sondern ihr Dasein am äußersten Rand der Gesellschaft fristen müssen?

Werte-Kurse für Politiker


Jedenfalls: Wer in diesem Land politische Verantwortung übernimmt, sollte sich einem Werte-Kurs unterziehen, in dem die Werte der Toleranz und Menschenwürde sowie Grundkenntnisse über die österreichische NS-Vergangenheit vermittelt werden. Wie will man Flüchtlingen und Asylwerbern österreichische Werte beibringen, wenn öffentliche Repräsentanten dieser Gesellschaft selber über äußerst mangelhaftes demokratisches Wertbewusstsein verfügen?


Zum Weiterlesen:
Rechtsextremismus und die Täter-Opfer-Umkehrung