Mittwoch, 16. Oktober 2013

Des Pudels Kern

Oft sprechen wir vom inneren Kern in einem Menschen oder in uns selbst: „Suche deinen inneren Kern, verbinde dich mit ihm, sieh den heilen Kern in jedem anderen Menschen“ usw. Wir nutzen die Metapher des Kernes, um einen Unterschied anzumerken zwischen dem Äußeren oder Äußerlichen und dem Inneren, zwischen dem, was wir als uneigentlich und als eigentlich empfinden (z.B. „So, wie mich die anderen sehen, bin ich gar nicht.“ Oder: „So, wie ich mich gestern verhalten habe, entspricht das nicht dem, was ich bin.“) Also soll der Begriff des Kernes auf unser Wesen, unser Selbst, unser eigentliches Sein verweisen.

Aus der Metapher können wir einige Assoziationen gewinnen: Kerne haben eine harte Schale, die ihren eigentlichen Schatz, den fruchtbringenden Samen, beschützt. Kerne sind fest und solide. Sie geben ihren Inhalt nur unter besonderen Bedingungen preis, wenn es um die Weitergabe des Lebens geht.

Gehen wir auf den Weg der Innenerforschung, werden wir also zu Kernforschern, so können wir diese Schätze finden. Zunächst lösen wir uns dabei von eingefahrenen Mustern und bewältigen tiefsitzende Ängste, die vorher unsere Kreativität blockiert haben. Dadurch melden sich kreative Ideen, die unser Leben und das der anderen bereichern. Jedes Element an Kreativität, dem wir Raum geben, öffnet uns für neue Lebensmöglichkeiten. Damit werden wir mehr und mehr zu dem, was unser Selbst ausmacht, unser eigentliches Wesen, hinter allen Prägungen und Gewohnheiten.

Identitäten

Dr. Faustus und der Pudel

In diesem Prozess lösen wir uns von Identitäten, die wir im Lauf unseres Lebens erworben haben – der Mann oder die Frau, die wir sein wollen, die berufliche Rolle, die wir übernommen haben, die Person, die wir in Freundschaftsbeziehungen sind, die Vorlieben, die wir im Freizeitbereich ausgebildet haben usw. Wir verändern in diesem Verlauf nicht unbedingt das, was wir tun oder wie wir uns verhalten, sondern vor allem die Identifikation mit diesen Verhaltensweisen und den daraus zusammengesetzten Identitäten. Wir erkennen, dass wir so sein können oder auch anders.

Mit jeder Identität, die wir verabschieden, löst sich eine Schale, und wir kommen des Pudels Kern näher. Wir sehen, dass wir wie in einem Lagenlook ein Gewand nach dem anderen ablegen können und damit immer mehr zutage tritt, wer wir „wirklich“ sind. Wir werden dabei Zustände erleben, in denen es uns schließlich völlig egal ist, ob es dieses „wirkliche Ich“ überhaupt gibt oder nicht.

Auf dieser Reise zum Kern können wir den Spruch „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt‘s sich ganz ungeniert“ trefflich nutzen. Wenn wir uns nicht mehr über unseren Ruf definieren, ist ihm sein Einfluss genommen und er ist schon ruiniert. Denn der „Ruf“ hat nur so lange die Macht über uns, unser Verhalten zu kontrollieren, so lange wir uns mit ihm identifizieren. Sobald wir ihm eine identitätsstiftende Funktion absprechen, bricht diese Macht auf ein Häufchen Asche zusammen.

So brauchen wir auch im Alltag keine der selbst auferlegten und der zugeschriebenen Identitäten mehr ernst zu nehmen. Wir können Rollen ausfüllen und völlig leer zurücklassen, wenn wir die Bühne verlassen. Wir schlüpfen in eine Identität wie in ein Kleidungsstück, das uns für bestimmte Zwecke zunutze kommt, und nicht mehr.

Modelle und Verdinglichungen


Unter Stress werden wir immer wieder in die alten gewohnten Rollen und erprobten und abgesicherten Verhaltensmuster zurückfallen. Wir glauben, dass sie uns die Stabilität vermitteln, die wir brauchen, um die Gefahrensituation zu überstehen. Je mehr wir allerdings über uns wissen, desto deutlicher wird uns werden, wenn wir in solche Zustände geraten, und desto seltsamer wird uns erscheinen, wie wir uns dann verhalten. Daran merken wir, dass wir beginnen, uns von einem alten Muster zu entfremden. Wir sind zu einer Identität, die uns lange vertraut war, in Distanz gegangen und nehmen sie nicht mehr so wichtig, sondern erkennen, dass wir auch anders können.

Auch die Beschäftigung mit dem Evolutionsmodell, das in dieser Blogserie immer wieder angesprochen wird, kann zur Verdinglichung führen: Ich ordne mich auf eine bestimmte Stufe der Entwicklung ein und gebe mir damit eine bestimmte Identität, z.B. „Ich verhalte mich meistens personalistisch“. Doch auch diese Identität, diese Festlegung meines Kerns ist nur ein Konzept, das ich von mir selber bilde. Wenn ich die Schale dieses Kerns durchbreche und in den Kern des Kerns hineinspüre, finde ich dort nichts mehr, was sich festhalten ließe. Alles fließt oder: alles ist leer.

Jedes Modell verhilft uns zunächst zu einer Erleichterung. Wir erkennen uns in wichtigen Grundmustern und bekommen durch das Modell die Bestätigung, dass wir in Ordnung sind, wie wir sind und dass wir uns durch die Kritik, die von anderen kommt, nicht grundsätzlich in Frage stellen lassen müssen. Wir bekommen durch das Modell die Unterstützung dabei, zu unserem So-Sein zu stehen, statt uns dauernd nach den Vorstellungen anderer ändern zu müssen. „Ich bin ein Krebs vom Sternzeichen, also passt es zu mir, wenn ich mich gerne zurückziehe.“ „Ich bin ein Fünfer im Enneagramm, also muss ich auch immer wieder mein reflektierendes Denken aktivieren.“

Und jedes Modell kann sich mit der Zeit unserer inneren Befreiung in den Weg stellen. Wir beginnen uns mit ihm zu identifizieren und es zur Fixierung unserer eingewöhnten Haltungen einzusetzen. „Weil ich Sanguiniker bin, werde ich nie verlässlich sein können, das wird sich nie ändern und das will ich auch gar nicht.“ Warum jedoch sollte ein als Sanguiniker nicht einmal die Zuverlässigkeit ausprobieren, auch wenn es ein wenig Überwindung erfordert? Wer stur auf seinen modellhaften Eigenschaften beharrt, verbaut sich diesen Zugewinn an Flexibilität und Freiheit. Die Schale des Kerns wird wieder dicker und undurchdringlicher, fester und dinglicher.

Die Versuchung zur Verdinglichung unserer selbst versteckt sich in allen Ecken und Winkeln unseres Innenlebens. Es ist, als wollte sich unser ängstliches Ego, dem langsam die Felle davonschwimmen, irgendwo auf eine solide Insel retten, um nicht vom Fließen der Ereignisse weggespült zu werden. Wenn alles in Veränderung ist, ist nichts mehr sicher. Deshalb will unser Ego mit aller Macht an unserer Identität festhalten und möchte sie am liebsten in unvergänglichen Stein meißeln.

Das Modell der Modelle


Wenn wir bereit sind, die Krücken, die uns die Identitätsmodelle anbieten, beiseite zu stellen, stoßen wir auf ein letztendliches Modell, ein Modell, das nur auf mich zutrifft, auf mein ganz eigenes Modell. Es repräsentiert meine ganz individuelle Mischung aus all den genetischen Anlagen, Überlieferungen der Vorfahren, Lebenserfahrungen im sozialen, kulturellen und politischen Umfeld, und das alles in permanenter Entwicklung und Veränderung, ein Modell, das sich in jedem Moment eine neue Form gibt und dessen Grundstrukturen sich auch in ihrer Zeit umgestalten.

Mit diesem Modell der Modelle kommt alles, was sich an uns selbst verdinglicht hat, ins Fließen. Da gibt es nichts Festes mehr, sondern einen beständigen Wechsel, ein dauerndes Öffnen und Verabschieden, ein Verändern von Nuancen und Schattierungen. Nichts ist von Dauer, und nichts braucht festgehalten werden. Überzeugungen werden zu Meinungen, die auch anders formuliert werden können. Gewohnheiten werden zu Verhaltensmöglichkeiten unter anderen. Gefühle und Stimmungen sind das, was das Leben im Moment so färbt und dann wieder anders. So ist die innere Freiheit beschaffen.

Und was passiert, wenn wir auch dieses unser ganz eigenes Modell loslassen, wenn wir darauf verzichte, uns irgendein Konzept über uns selbst zu basteln und beschließen, jede Identität, die uns an uns auffällt, postwendend gleich wieder zu entsorgen? Haben wir dann wieder ein Konzept, nämlich das der Konzeptlosigkeit, ein Modell der Modelllosigkeit, einen Kern ohne Kern?

Es liegt wie immer an uns, ob wir etwas aus der Freiheit, die uns die Konzeptlosigkeit bietet, machen, also ob wir uns daraus eine neue Identität basteln oder ob die Freiheit einfach genießen und die Überraschung, die jeder neue Moment bereitet, annehmen. Wann immer uns das gelingt, fühlt sich das Leben als stimmig und erfüllt an – wie gesagt, ohne dass das wiederum in ein Konzept gegossen werden müsste, weil es ja im nächsten Moment wieder anders sein wird.

Mittwoch, 9. Oktober 2013

Die Hölle der Beziehungslosigkeit


"Die Hölle, das sind die anderen" heißt es in J.P. Sartres Stück „Geschlossene Gesellschaft“.  Wie passt das damit zusammen, dass wir Menschen soziale Wesen sind, dass wir die Anbindung und den Kontakt zu anderen brauchen, um uns wohlzufühlen?

In Sartres Stück erzählen drei Tote von ihren Untaten und vom Scheitern. Sie sind in einem Raum eingeschlossen und gezwungen, einander zu ertragen, ohne Möglichkeit der Erlösung. Diese Personen sind in Verbindung miteinander, weil sie sich in einem Raum befinden und miteinander reden, aber sie schaffen es nicht, miteinander in Beziehung zu treten.

Die Hölle, das ist die Beziehungslosigkeit, das ist das Abgeschnittensein, die Isolierung. Wir sind zwar immer verbunden – dadurch, dass wir uns in der Welt bewegen –, aber es gibt Zustände, in denen wir uns nicht mit diesem Verbundensein verbinden können. 


Die Hölle des Alltags


Im Alltag passiert es laufend, dass sich Menschen über ihre schlechten Erfahrungen austauschen. „Mir ist das zugestoßen“, oder „Ich leide gerade an jener Erkrankung“. Sie wollen damit das Verständnis durch die andere Person erreichen und damit eine Verbindung herstellen, die das Leiden erleichtern soll. Die andere Person beginnt mit ihrer Leidensgeschichte und will das gleiche Verständnis erreichen wie die erste Person. Es stellt sich eine gewisse Gleichheit her, eine Symmetrie der Leidenszustände, die allerdings häufig durch das Konkurrenzieren, wer denn mehr leide, immer wieder in Frage gestellt wird. Es zeigt sich daran, dass die Beziehung durch den von beiden geteilten Wunsch zu bekommen geprägt ist, ohne dass ein Geben möglich ist, weil ja das Leiden so stark ist.

Die Verständigung besteht darin, dass sich jede Person in ihrem Leiden fortgesetzt bestärkt und absichert. Die Beziehung wird jedoch damit nicht wirklich hergestellt, beide sind in den Rahmen ihrer jeweils eigenen Problematik eingespannt, ohne den Rahmen der anderen Person zu verstehen und mitzufühlen. Der Wunsch, verstanden zu werden, bleibt durch die Unfähigkeit zu verstehen, auf der Strecke. Der Wunsch nach Beziehung findet durch das fortlaufende Mitteilen der eigenen Isolierung und des Unverstandenseins zu keiner Erfüllung. „Du verstehst mich nicht“ mobilisiert bei der angesprochenen Person deren eigene Erfahrungen mit dem Nicht-Verstandenwerden.


Das Netzwerk der Traumatisierten


Was passiert auf der unterschwelligen Ebene, wenn sich solche Beziehungsmuster abspulen? Zwei Menschen sprechen über ihre Traumatisierungen und lösen beim jeweils anderen dessen Traumatisierungen aus. Die Erfahrung in der Traumatisierung ist von starker Angst gekennzeichnet, und das bedeutet, sich völlig abgeschnitten zu fühlen von der Kraft des Lebens und von der Liebe anderer Menschen. Trauma bedeutet, dass keine Verbindung zur Verfügung steht, kein Zugang zu Ressourcen.

Diese Erfahrung wird unbewusst wieder inszeniert, angeleitet von dem Wunsch nach einer heilenden neuen Erfahrung, die endlich die Traumageschichte zum Abschluss bringen soll. Da aber dabei wieder nur ein Zustand der inneren Isolation reproduziert wird, kann die Heilung nur dann erfolgen, wenn die andere Person nicht in ihre eigenen Traumatisierungen kippt, sondern im Mitgefühl bleiben kann. Das wird ihr auf Dauer nur gelingen, wenn die eigenen Traumatisierungen weitgehend aufgearbeitet sind, sodass die unbewusst ablaufenden Trigger nicht mehr funktionieren.

Stimmt das wirklich? Die Menschen reden doch nur selten von wirklichen Traumatisierungen. Sie erzählen von Missgeschicken, von gemeinen und unfähigen Mitmenschen, von der Blödheit und Bosheit der anderen, von Missstimmungen, Unpässlichkeiten und Krankheiten, aber nicht von wirklich traumatischen Erfahrungen. Dennoch: Wir leiden nur deshalb unter dem, was andere Menschen tun oder nicht tun, sagen oder nicht sagen, weil dadurch frühe Verletzungen wachgerufen werden, die uns nicht mehr bewusst sein. Wir leiden nur deshalb unter unseren gesundheitlichen Problemen, weil sie Ängste auslösen, die mit alten seelischen Wunden zu tun haben. Hätten wir diese Erfahrungen in Frieden verabschiedet, so würde uns das Verhalten anderer Menschen genauso wenig aufregen wie unangenehme und schmerzhafte Vorgänge im Körper.

Nach meiner Erfahrung liegen die tiefsten Wurzeln von dem, was uns im Alltag aus der Bahn wirft, was uns also vergessen lässt, dass wir mit dem Leben verbunden sind, im pränatalen Bereich. Ein wichtiges Thema, das mit Anbindung zu tun hat, ist der emotionale Kontakt mit der Gebärmutter im engeren und mit der Mutter als Person im weiteren Sinn. Lehnt die Mutter die das neue Leben ab oder hat sie große Angst vor ihm, kann sich das auf die Gebärmutter so übertragen, dass der werdende Embryo keinen Kontakt spürt und sich nicht verbunden fühlt. Das kann Gefühle von Wut, Resignation und grenzenloser und trostloser Einsamkeit auslösen.

Es ist zwar eine Verbindung da, sonst könnte das Leben nicht weitergehen, doch kann die Beziehung nicht gefühlt werden. Das ist die Ursituation einer Doppelbindung. Eine nicht gefühlte Beziehung ist eine Nicht-Beziehung, eine Beziehung ohne Bezogensein. Die Wut signalisiert den Kampf gegen die Bedrohung, die von einer solchen Situation für die innere Stabilität ausgeht. Die Resignation zeigt die Ohnmacht, die Unfähigkeit, die Doppelbotschaft in eine eindeutige umzuwandeln. Die endlose Einsamkeit ist die Beschreibung des Zustandes, der übrigbleibt, wenn alle Hoffnung auf wirkliches, emotional erfülltes Leben fahren gelassen wurde. Was bleibt, ist ein (organisches) Leben ohne (gefühltes) Leben.

Menschen, die solche Zustände vor ihrer Geburt durchleben mussten, nehmen dann als selbstverständlich, dass die Welt diesem Erleben entsprechen muss. Von daher kommt vermutlich die immer wieder vertretene Ansicht, dass der Mensch ein Wesen ist, dem es vor allem um das egoistische Überleben geht, das er notfalls auf Kosten anderer vorantreibt. Sozialbeziehungen nimmt er auf, wenn sie seinem Überleben nützen, ansonsten braucht er sie nicht wirklich und kann jederzeit auf sie verzichten. Vgl. den Blog zum Thema Egoismus.

Menschen nehmen ihre eigene Beziehungslosigkeit als selbstverständlich, weil sie diese Erfahrung irgendwann im Lauf ihrer frühen Entwicklung gemacht haben. Sie bestätigen sich diese Auffassung beständig gegenseitig, indem sie ihre negative Weltsicht mit den anderen teilen und dafür Zustimmung erhalten. Sie bauen also ihre Sozialkontakte auf der Negation derselben auf. „Du stimmst mir doch zu, dass wir einander nur zufällig und vorübergehend kennen und wertschätzen, das dient nur dem Eigennutz, und das kann sich jederzeit ändern.“

Weiters bestätigen sie sich diese Weltsicht, indem sie Informationen über die Welt austauschen, die dieser Einschätzung entsprechen. Dazu zählen die Katastrophenfantasien  und andere Formen der Verbreitung von lokalen oder globalen Ängsten. Wenn wir die Ängste anderer mitbekommen, rührt das an unsere eigenen unbearbeiteten Traumatisierungen, ohne dass wir das mitbekommen. Wir verständigen uns darüber, dass die Welt eine Abfolge von Problemen ist, die im schlimmen Fall in Katastrophen münden. Die Nachrichten und Zeitungen liefern uns das Material dazu. Dabei melden sich, wenn auch vielleicht nur mehr schwach und im Hintergrund, die Gefühle, die sich in uns als Folge von Frühtraumatisierungen entwickelt und über die Zeit festgesetzt haben: Sinnlosigkeit, Resignation, Isolation – zur Wiener Gefühlsmelange fehlt nur mehr der Grant.

Es erschiene wie eine gesellschaftliche Verschwörung, aufgebaut auf einem unbewussten Netz von Traumatisierungen, wenn sie nicht so öffentlich wäre: So, als ob der Grundkonsens darin bestünde, dass das Leben eine Abfolge von Problemsituationen ist, anstrengend und schwer, und dass es niemanden gibt, der einem bei der Bewältigung der undankbaren Aufgabe zur Seite steht. Dieser Konsens wird fortlaufend wiederhergestellt und mit neuem Futter versorgt. Er sorgt zuverlässig dafür, dass möglichst viel an dem Schlimmen so bleibt, wie es ist, weil er jede Aktivität lähmt und jedes Engagement unterläuft.


Die Geschichte des Fremdlings


So erscheint die andere, die frohe Botschaft, die von Vertrauen und Lebensmut getragen ist, wie eine abgehobene Verrücktheit, als höchst seltene „Geschichte eines Fremdlings. Man braucht einen Fremdling, der die Geschichte eines Fremdlings hören kann.“ (Rumi, Von Allem und vom Einen, S. 187)

Montag, 7. Oktober 2013

Die zwei Wahrheiten und die Religionen

Die Religionen sind von alters her die Verwalter der zwei Wahrheiten. Inspiriert von der einfachen Wahrheit, haben sich Menschen zusammengefunden, um die Lehren in die Alltagspraxis zu übertragen. Auch war es notwendig, sie mit den Notwendigkeiten des Lebens in Einklang zu bringen. Moralische und ethische Grundsätze wurden aus der Grundlage einer absoluten Wahrheit abgeleitet und daraus begründet: Aus der Liebe zum Nächsten folgt, dass dieser nicht bestohlen oder betrogen werden darf.

Die Religionen und die auf ihnen begründeten Kirchen oder Glaubensgemeinschaften sind, so betrachtet, Verwalter der Schnittstelle zwischen den Wahrheiten. Schnittstellen sind meistens mit Schwierigkeiten befrachtet. Hier zeigt sich z.B. das Übersetzungsproblem. Es spielt bei jeder Übertragung von spirituellen Einsichten auf das praktische Leben eine wichtige Rolle und ebenso bei der Weitergabe von Generation zu Generation, also bei der Ausbildung einer Tradition. Auch in der Verschriftlichung der Glaubenslehren und in der Ausformung von Regeln und Ritualen muss eine relative Lösung für das Schnittstellenproblem gefunden werden. Jede relative Lösung ist mit den Schattenseiten der menschlichen Natur behaftet, mit der Irrtumsanfälligkeit ebenso wie mit selbstsüchtigen Interessen.

Sobald die endgültige Wahrheit, das Reich des Relativen betritt, spielen die Unterschiede eine dominante Rolle. Das Vertraute kommt vor dem Ungewohnten, das Eigene vor dem Fremden. Selbst wenn die einfache Wahrheit sagt, dass dem Eigenen die gleiche Liebe gelten solle wie dem Fremden, scheitert die Praxis nahezu immer an der Umsetzung – bis zum skurrilen Beispiel aus dem österreichischen Wahlkampf im Herbst 2013, bei dem das Wort „Nächstenliebe“ von einer Partei vereinnahmt wurde, deren Vorsitzender dann erklärt hat, dass sein Bauchgefühl darüber entscheide, wer sein Nächster sei und wer nicht. Aus einer endgültigen Wahrheit wird ein relativer Begriff gemacht (durch die parteipolitische Instrumentalisierung), der schließlich in der Willkür (ver)endet. Denn auf das Bauchgefühl hätte sich wohl jeder Naziverbrecher zur Rechtfertigung seiner Gräueltaten berufen können: Diese jüdischen Kinder waren mir nicht sympathisch genug, also habe ich sie umgebracht.


Die eine Wahrheit und deren viele Interpretationen


Die Unterschiedlichkeit der Kulturen und Traditionen, in deren Rahmen jede neue Religion entstanden ist, sind das Medium der Übersetzung der endgültigen Wahrheiten. Deshalb gibt es nicht eine, sondern viele Religionen, die die eine absolute Wahrheit verkünden. Und deshalb gibt es auch innerhalb der einzelnen Religionen wieder unterschiedliche Strömungen und Untergruppen. Sie bekämpfen sich oft auf der Ebene der relativen Wahrheit so stark, dass der Wunsch, die gegnerische Richtung niederzuringen, zur einzigen Glaubenspraxis wird. Auf die einfache Wahrheit wird dabei schnell und gründlich vergessen.

Daran kranken die Religionen, und auf den eindrucksvollen Lehren der Gründer werden durch diese ansteckende Krankheit relative Organisationen aufgebaut, die mit allen Mängeln anderer allzu menschlicher Verwaltungskörper wie Macht, Konkurrenz, Gier, Gewalt usw. behaftet sind. So sollte es nicht verwundern, dass im Mittelalter die Bischöfe an der Spitze der Truppen geritten sind und bis in jüngste Zeit Waffen gesegnet wurden, damit sie möglichst viele Feinde zu Tode bringen mögen. Nahezu pervers muss wohl der (Un-)Begriff des heiligen Krieges in den Ohren von jemandem klingen, der der endgültigen Wahrheit gelauscht hat.


Das Deutungsmonopol


Die Religionen haben ihre Macht soweit ausgebreitet, dass sie ein Monopol in der Sinnsuche erlangt haben, das sie bis heute verteidigen wollen. Nulla salus extra ecclesiam, kein Heil außerhalb der Kirche, so behauptet keck das allein seligmachende Selbstverständnis in guter katholischer Tradition. Natürlich fordert ein derartiger Anspruch zum Widerstand heraus. Es gab in den verschiedenen Kirchen Reformationsbewegungen, also Aufstände und Proteste gegen den Monopolanspruch der religiösen Eliten. So wollte z.B. Luther den direkten Draht zwischen dem Sinnsucher und der Quelle der absoluten Wahrheit ohne Vermittlungen und Übersetzungen durch bestallte Deutungsmonopolisten wieder herstellen. Doch auch die auf ihn zurückgehenden Organisationen können ihre Schäfchen nur im Reich der relativen Wahrheiten um sich versammeln.


Denn zu jedem noch so begabten Deuter der Schriften meldet sich alsbald ein noch begnadeterer, der dann gleich die nächste Reformation der Reformation begründet.


Die Schriftlichkeit


Christentum, Judentum und Islam gelten als Schriftreligionen. Das geschriebene Wort gilt nicht nur als Mittel der relativen Welt, um Verständigung herzustellen, sondern es wird als direkter Ausfluss aus der einen Wahrheit angesehen. Nun gibt es zwischen der Wahrheit und der Sprache Übersetzungsprobleme, und wie bei jeder Übersetzung Übersetzungsverluste. Was sich z.B. von den Visionen des Muhammad bis zur Niederschrift verändert hat, können wir nicht wissen.

Am Ursprung der Religionen liegen private Erfahrungen - die Zwiesprache des Moses am Berg Sinai, die Erleuchtungen des Buddha unter dem Bodhi-Baum usw. Schon diese Erfahrungen in Worten auszudrücken, macht etwas Neues aus ihnen. Die Verschriftlichung fügt dem noch eine dingliche Dimension hinzu: Was einmal aufgeschrieben ist, ist festgeschrieben, ist „heilige“ Schrift.

Damit hat scheinbar die absolute Wahrheit eine absolute Form und Verbindlichkeit gefunden. Tatsächlich ist sie aber schon auf die Ebene der relativen Wahrheit herabgestuft worden, sobald sie überhaupt in schriftlicher Form aufscheint. Denn der visionäre Religionsgründer oder Prophet muss das, was er in seiner Schau erfahren hat, so ausdrücken, dass es für seine Zeitgenossen Sinn macht. Oft haben sie selber nur mündlich gelehrt und selber nichts aufgeschrieben. Die Niederschriften sind z.B. beim Neuen Testament ein bis zwei Generationen nach dem Tod Jesu erfolgt, und die Exegeten streiten darüber, ob überhaupt und wenn ja, welche Worte und Sätze Jesus gesagt haben könnte. Weitgehender Konsens herrscht darüber, dass der überwiegende Teil der Texte aus der Feder der Evangelisten stammt. Die Bibelwissenschaftler haben auch herausgefunden, wie dicht die heiligen Schriften in die jüdische Tradition und in die sie umgebende römisch-hellenistische Welt eingebunden waren. Die Evangelien sind also durchwachsen von Überlieferungsstoff aus der reichhaltigen Literatur der jüdischen Propheten und abgestimmt auf die Zuhörer- und Leserschaft des vorderasiatischen Kulturraumes des 1. Jahrhunderts.

Verschriftlichte Wahrheit ist also immer relative Wahrheit, eine zeitlose Wahrheit, die in die Zeitlichkeit eingetreten ist. Denn der unweigerliche Gang der Geschichte bringt beständig neue Herausforderungen und Erfordernisse. Für diese müssen die Schriften immer wieder neu interpretiert werden, damit sie für die jeweilige Lebenspraxis tauglich sein können. Sie gleichen deshalb eher einem Steinbruch als einer unveränderlichen Quelle der immer gleichen spirituellen Inspiration.


Der Siegeszug der Vernunft


Der Streit um die richtige Auslegung der Schriften, also der Auslegung von Erfahrungen, ist so alt wie die Religionen selbst. Mit der Verbreitung der Rationalität, also des vernunftgeleiteten Denkens in der Folge der Verbreitung der Bildung und der Schriftkultur (Stichwort Buchdruck) schob sich zwischen die Welten der zwei Wahrheiten eine dritte Schicht, die in weiten Teilen der Welt die Dominanz gewann. Ich nenne diesen Siegeszug des neuen diesseitsgeleiteten Denkens das materialistische Bewusstsein. Es kann auch als der Exzess des Relativen bezeichnet werden, denn es drängt alles an den Rand, was nach einer endgültigen Wahrheit verlangt. Wichtig ist nur die Beherrschung der Materie für die Zwecke der Überlebenssicherung und der Luxurierung dieses abgesicherten Lebens. Der momentane Gewinn und Erfolg drängen sich vor alle Fragen nach den letzten Dingen.

Damit geraten die Religionen in die Defensive. Sie verlieren ihr Deutungsmonopol, das ihnen von den Wissenschaften abgenommen wird. Die wissenschaftliche Rationalität legt gnadenlos bloß, was die Religionen an vorrationalen Konzepten und Praktiken angesammelt haben. Die Exponenten der Aufklärung von Voltaire bis Freud entlarven die Heuchlereien und unerlösten neurotischen Komplexe im alt ehrwürdigen und morschen Gerüst der Religionen. So finden sich die Kirchen mit all ihrem Gepränge auf der Ebene der Folklore wieder, ohne die vertikale Orientierung noch glaubhaft vertreten zu können.


Die neue Zukunft der Mystik


Allerdings geht die Evolution des Bewusstseins weiter. Zwar wird bis ins systemische Bewusstsein der Relativität gehuldigt, weil sie maximale Freiheit und Flexibilität verspricht, aber gerade durch die Universalisierung und Globalisierung der Relativität kann die Öffnung für die Sphäre der absoluten Wahrheit in ganz neuer Weise geschehen. Denn durch die klare Unterscheidung von Machtfragen und Sinnfragen, die durch die systemische Vernunft getroffen werden kann, sowie durch die Notwendigkeit von integrer und ethisch fundierter Lebenspraxis ergibt sich zwanglos der Übergang in das holistische Bewusstsein, das sich aus dem Fundus der endgültigen Wahrheiten speist.

Die Religionen, inzwischen ihrer Machtmonopole und weltlichen Ordnungsverpflichtungen weitgehend entkleidet, können auf ihre reichhaltige Tradition in der Pflege und Weiterentwicklung der endgültigen Wahrheit verweisen. Sie stehen sich jetzt direkt von Angesicht zu Angesicht gegenüber, Weltreligion gegen Weltreligion, aufgefordert, den Kern des Gemeinsamen hinter den Maskierungen der jeweiligen Überlieferungen freizulegen und sich voreinander zu verneigen. Dabei gilt es, die vielen Wunden zu heilen, die sich die Religionen gegenseitig im Lauf der Geschichte durch Gewalt und Gegengewalt, Abwertung und Gegenabwertung zugefügt haben und bis heute zufügen. Es gilt auch, die Ängste zu überwinden, die eigene Tradition zu verraten und zu verlieren, wenn deutlich wird, wie sehr sich die den jeweiligen Wahrheitskernen entsprechenden spirituellen und mystischen Erfahrungen gleichen. Denn es geht nur Tand aus der Welt des Relativen verloren, wenn Christen und Moslems, Juden und Buddhisten usw. sich gemeinsam in die Erfahrung der einen Wahrheit vertiefen.

Und es ist auch nicht mehr notwendig, Shintoanhänger oder Bahai, Hindu oder Taoist zu sein. Denn zur einen Wahrheit findet jeder einen Zugang, der ihn ernsthaft sucht, ob über eine der angestammten Religionsgemeinschaften, über frei angebotene Meditationen und neue spirituelle Lehrer oder ganz für sich selbst. Jedenfalls gilt der Satz, den der bedeutende katholische Theologe Karl Rahner (1904 – 1984) schon vor vielen Jahren geschrieben hat: „Der Fromme (in einem anderen Zitat: Der Christ…) von morgen wird ein Mystiker sein, einer, der etwas erfahren hat, oder er wird nicht mehr sein.“

Die Erfahrung, bei der es in der Mystik geht, ist dann und nur dann eine Erfahrung der endgültigen Wahrheit, wenn sie von allen Einflüsterungen und Schattierungen der prärationalen Erfahrungswelt gereinigt ist. Die Geschichte der Religionen ist auch eine Geschichte der Prä-Trans-Verwechslungen. Nicht nur in der Verbreitung von abergläubischen Ängsten, durch die sich die Kirchen und religiösen Gruppen immer wieder hervorgetan haben, sondern auch in der Propagierung eines naiven Erlösungsglaubens verkleiden sich kindliche Traumatisierungen und Größenfantasien als spirituelle Wahrheiten.

Der Mystiker von morgen wird also auch ein solcher sein, der die Rationalität und die aufgeklärte Vernunft voll in sich aufgenommen und verdaut hat und sich zugleich den Wunden und Verletzungen der eigenen wie der kollektiven Lebensgeschichte gestellt hat.