Dienstag, 11. Januar 2022

Verschwörungstheorien und Normalitätsscham

Auch wenn es schon lange Verschwörungstheorien gibt und sie immer wieder einen mächtigen Einfluss auf die Gesellschaft und Geschichte ausgeübt haben – ich denke hier nur an die vielen Mythen, die zum Zweck der Entfachung der Judenfeindschaft seit dem Mittelalter erfunden wurden –, stehen wir doch in letzter Zeit in Zusammenhang mit der Pandemie stark im Bann dieses Phänomens. Was sich in der Debatte um den Klimaschutz und um die Regierungsführung des US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump geoffenbart hat, wurde seit der Ausbreitung des Corona-Virus mittlerweile zum allgegenwärtigen Diskussionsthema. Denn ein Großteil der Gespräche, die die Menschen führen, dreht sich um die Pandemie, und dabei ist es kaum mehr möglich, Inhalte, die aus dubiosen Quellen stammen, zu vermeiden. Die Lage ist inzwischen so unübersichtlich, dass es einem Laien schwer möglich ist, hieb- und stichfeste, auf Fakten beruhende Aussagen zu treffen. Die Aufgabe, wissenschaftlich valide Erkenntnisse von Spekulationen und Extrapolationen aus Einzelbefunden zu unterscheiden, ist zwar notwendig, um sich in dem Feld orientieren und sinnvolle Positionen beziehen zu können, aber zeitaufwändig und mühsam.

Hier geht es um die Frage, warum Menschen dazu neigen, Verschwörungstheorien zu entwickeln bzw. ihnen Glauben zu schenken. Was treibt sie dazu, nicht den allgemein für verlässlich geltenden wissenschaftlichen Quellen zu vertrauen, sondern Einzelpersonen und Einzelmeinungen? Welche Rolle spielt die Scham in diesem Zusammenhang? Ich möchte für diesen Zweck den Begriff der Normalitätsscham einführen. Diese Schamform tritt auf, wenn sich jemand nicht wohl fühlt, wenn er sich als gewöhnlich, normal oder durchschnittlich wahrnimmt. Nichts Besonderes zu sein, ist schambesetzt; stolz kann man nur sein, wenn man auf etwas verweisen kann, was sonst niemand hat oder kann. Es gibt Menschen, die es brauchen, etwas Einzigartiges darzustellen und sich von allen anderen abzuheben. Es ist, als ob sie nur scheinen können, wenn Scheinwerfer auf sie gerichtet sind. Natürlich ist jeder Mensch auf seine Weise einzigartig, aber nicht alle brauchen den Beweis und die Bestätigung dafür, die den früher erlittenen Mangel an Bedeutsamkeit ersetzen sollen.

Die Angst vor der Durchschnittlichkeit

Wie hängt diese Schamform mit Verschwörungstheorien zusammen? Die Spur ist schnell gefunden. Denn ein wiederkehrendes Argument bei solchen Gedankengebäuden lautet, dass es zwei Wahrheitsquellen gibt: Den „Mainstream“ mit seinen gleichgeschalteten Medien einerseits, und das alternative Wissen mit seinen „alternativen Fakten“, das von der Mehrheitsmeinung unterdrückt wird andererseits. Die alternativen Wissensträger werden oft als Opfer dargestellt oder präsentieren sich selbst auf diese Weise: Sie werden nicht gehört, sie werden nicht zu Debatten oder zur politischen Entscheidungsfindung eingeladen, sie werden wegen ihrer Meinung gekündigt oder sogar verfolgt. Mit den Opfern eines anonymen „Systems“ identifizieren wir uns leicht, vor allem wenn wir eine Empfänglichkeit für die passive Opferscham und den korrespondierenden Opferstolz in uns tragen. 

Das Misstrauen gegenüber der Mehrheitsmeinung hat eine Verbindung zur Normalitätsscham. Was normal ist, verdient Skepsis, was aus der Norm fällt, ist interessant und lehrreich. Mit einer alternativen Sichtweise, die aus einem Eck kommt, das die Mehrheit übersieht, haben wir einen Vorteil und stehen besser da. Wir haben den Durchblick, der allein dadurch schon sinnhafter ist, dass er der Mehrheitsmeinung widerspricht.

Soweit haben wir es mit Gesetzmäßigkeiten der Wahrnehmungspsychologie zu tun: Das Seltene, nicht Vorhersehbare hat mehr Bedeutung als das Regelmäßige und Gewohnte. Wenn es irgendwo im Raum kracht, schauen wir hin und wollen wissen, was los ist. Es könnte ja eine Gefahr drohen. 

Ideologie und Scham

Aber die Theorien werden dann zur Ideologie, wenn sich die Scham einmischt. Sie muss abgewehrt werden und dann verwandelt sich eine einfache Wahrnehmungspriorität in eine zentrale innere Gestalt, um die herum sich ein Weltbild aufbaut. Dieses innere Bild ist emotional aufgeladen, weil es der Gefühlsabwehr dient. Diese Aufladung tarnt sich als Wichtigkeit und missionarischer Eifer, so als ginge es um Leben und Tod. Psychologisch betrachtet, wurde also eine Überlebensstrategie aktiviert: Ich habe den Schlüssel zur Überlebenssicherung gefunden und darüber muss ich jetzt alle informieren und überzeugen. 

Die Auserwählten und die Masse

Um den exklusiven Zugang zur Wahrheit zu verteidigen, wird die Mehrheit oft als dumm, ignorant und naiv dargestellt. Manchmal wird sie mit Schafen, denen irrtümlicherweise geringe Intelligenz zugebilligt wird, und mit Lemmingen verglichen, die sich einer Legende (die aus einem Disneyfilm stammt) zufolge massenweise in den Selbstmord stürzen. Die Gegner mit dummen Tieren zu vergleichen (auch wenn die Vergleiche den Tieren gegenüber unfair sind), bringt einen selber in die Position des überlegenen Vernunftwesens. Wer die allgemeinen Wahrheiten vertritt, hat Scheuklappen auf, ist das arglose Opfer von dunklen Machenschaften und macht sich zum nützlichen Idioten der Machteliten, die im Hintergrund alle Fäden ziehen. Der ganze Ruhm des Aufklärers der bösen Umtriebe fällt auf den, der aufdeckt, was im Verborgenen hinterhältig Schaden anrichten will. Der Stolz dessen, der alles durchschaut hat und es besser weiß als alle anderen, ist der psychische Lohn für den Verschwörungserfinder und für seine Gläubigen. Materiellen Lohn gibt es meist auch genug, wie diverse Recherchen herausgefunden haben. Es gibt viele reiche Leute, die solche Mythenbildner finanzieren, weil sie sich davon Vorteile für die eigene Reichtumsmehrung und die dafür notwendige politische Macht erwarten. In dieser Hinsicht sind also die Verschwörungsanhänger die willfährigen Erfüllungsgehilfen für diese Finanziers.

Religiöse Denkschablonen

Wenn die Allgemeinheit schon allein deshalb im Unrecht ist, weil sie die Mehrheit bildet, folgt daraus, dass das Heilswissen nur von einer Minderheit stammen kann. Eine Denkschablone, die in diesem Zusammenhang mitspielt, stammt aus der Religionsgeschichte: Die Erlösung kommt nie aus der normierten und bornierten Mehrheit (nicht von den „heuchlerischen Pharisäern“), sondern über Außenseiter, die angefeindet und z.T. verfolgt wurden, die aber der bornierten Mehrheit mutig den Spiegel vorgehalten haben. Alle großen Religionsgründer (Buddha, Christus, Muhammad) sind diesen Weg gegangen und haben Großes bewirkt.

Eine zweite religiöse Denkschablone ist die der Auserwählung. Esoterisches Wissen im ursprünglichen Sinn war ein solches, das nur einer eingeweihten Kleingruppe zugänglich war und nur im engsten Kreis weitergegeben werden durfte. Die, die an der Botschaft des Erlösers teilhaben, sind besonders begnadete Menschen, weil sie über ein exklusives Wissen verfügen. Sie unterscheiden sich von allen anderen Menschen, weil sie die Avantgarde darstellen: Sie sind in einen Bereich des Geheimnisses des Lebens eingedrungen, den sonst niemand kennt. Sie sind unter den vielen anderen die Auserwählten.

Die dritte Denkschablone besteht darin, dass die Wahrheit „einleuchtet“ und beim bloßen Anhören überzeugt. Sie ist einfach und braucht keine anstrengenden Studien, um verstanden zu werden. Alles, was nicht sofort intuitiv ankommt, weil es genaueres Nachdenken und komplexere mentale Fähigkeiten erfordert, kann nicht von Wert sein, sondern ist gedacht, die Menschen zu verwirren und in die Irre zu führen. Auserwähltes Wissen 

Ideologie und Wissenschaft

Allerdings geht es bei den Themen, um die sich die Verschwörungsmythen ranken, nicht um Religion, sondern um Gesundheit, Klimaentwicklung usw., also um Themen, die durch die wissenschaftlichen Forschungen erst in ihrer Dringlichkeit erkannt wurde und auf der Basis eines gesicherten Wissens gesellschaftlich gelöst werden müssen und nur auf dieser Basis gelöst werden können, wozu Ideologien und Religionen nichts beitragen können. Im Gegenteil: Alle ideologischen oder religiösen Einflüsse in diese Themen helfen nicht bei der Problemlösung, sondern verkomplizieren die Diskussion und verwirrten viele Menschen, wodurch die Probleme zusätzlich verschärft werden. 

Die Mythenerzähler greifen die Wissensbasis an, indem sie wissenschaftliches Wissen mit nichtwissenschaftlichem Wissen gleichsetzen bzw. sogar überordnen. Damit gibt es keine verbindlichen Standards mehr, mit denen freie Erfindungen und fakten- und evidenzbasierte Erkenntnisse unterschieden werden können. Und das ist auch das Ziel dieser Bestrebungen. Wissenschaftliches Wissen ist gewissermaßen der Hauptfeind der Verschwörungstheoretiker. Deshalb wird auch gerne behauptet, dass die Wissenschaftler von irgendwelchen Geldgebern gekauft sind und deshalb alle Studien und Forschungsergebnisse Fälschung und arglistige Täuschungen darstellen. Je mehr die Wissenschaften diskreditiert werden, desto leichter ist es, die eigenen Behauptungen am Meinungsmarkt durchzusetzen. Die Wissenschaften, die aus dem Zusammenwirken von Tausenden von Forschern bestehen, werden als Summe von Einzelmeinungen dargestellt – das ist ein wichtiger Teil, gewissermaßen der zentrale Hebel bei allen Verschwörungstheorien. Denn das Evidenzmonopol, das die Wissenschaften in der modernen Gesellschaft errungen haben (die es nicht geben würde, wenn es keine Wissenschaften gäbe), ist der natürliche Gegner aller Ideologien und Mythen. 

Natürlich treffen diese Aktionen die Wissenschaften nicht direkt, die weiter im Rahmen ihrer ausgefeilten Normen und Standards Forschung betreiben und die Forschungsergebnisse laufend weiterentwickeln und verbessern. Aber es betrifft die öffentliche Wirksamkeit der Wissenschaften und damit ihre Zukunft. Wenn große Teile der Gesellschaft zur Überzeugung gelangen, dass Wissenschaftler nur in ihre eigene Tasche wirtschaften und falsche und manipulierte Ergebnisse produzieren, dann macht es auch keinen Sinn mehr, die wissenschaftliche Forschung mit öffentlichen Geldern zu finanzieren. Außerdem sehen sich Regierungen zunehmend genötigt, alternative Wahrheitsbehauptungen ebenso in ihren Entscheidungen zu berücksichtigen wie die Wissenschaften, weil sie ja die verschiedenen Bevölkerungsteile vertreten wollen und von diesen gewählt werden.

Der Kampf gegen die Komplexität

Es geht also Verschwörungstheoretikern darum, mehr Macht und Einfluss auf die Öffentlichkeit zu nehmen, und sie nutzen zur Mobilisierung ihrer Anhängerschaft die psychischen Mechanismen der Normalitätsscham. Sie wollen den wissenschaftlichen Konsens zerstören und rütteln damit an den Grundpfeilern der Moderne. Die Vereinfachungen, die typisch für solche Mythen sind (ein Bösewicht oder eine Gruppe von Verschwörern steckt hinter allem Übel, ein Wissenschaftler weiß alles besser als all die anderen…), fachen die Hoffnung an, dass wir mit den Mitteln des vormodernen Denkens die Probleme der Gegenwart lösen können. Die Realität belehrt uns permanent eines anderen: Die Zusammenhänge sind komplex, und deshalb sind auch die Maßnahmen, die ergriffen werden müssen, um die Probleme zu lösen, komplex.

Das aktuell grassierende Virus ist ein Lehrmeister für die Komplexität, weil es zwar eines der einfachsten Lebewesen ist (es weist nicht einmal alle Eigenschaften eines Lebewesens auf), aber durch seine Mutationsfähigkeit laufend neue Bedingungen schafft. Die Erforschung dieser Variationen und ihrer Auswirkungen muss laufend evaluiert und aktualisiert werden, und das geht nur, wenn Tausende von Wissenschaftlern zusammenarbeiten, die es gewohnt sind, komplex und vernetzt zu denken. Sie präsentieren dann die Erkenntnisse, und die Politiker müssen dann in Verbindung mit den Komplexitätsforschern und anderen Experten ihre Entscheidungen treffen. Die Menschen, die an die Mythen glauben statt an die Komplexität der Wirklichkeit, sind dann misstrauisch, wenn sie sich auf komplexe Bedingungen einstellen müssen, die zudem immer wieder angepasst und verändert werden. Verschwörungswissen ist stabil, Wirklichkeitswissen muss flexibel sein, weil sich die Wirklichkeit dauernd verändert. Verschwörungswissen ist emotional, Wirklichkeitswissen ist nüchtern. Dem Virenproblem und auch den anderen großen Herausforderungen der Menschheit werden wir nicht mit starrem und emotional geladenem Wissen Herr. Vielmehr müssen wir uns der Komplexität stellen, mit einem forschenden und lernenden Geist und nicht einem, der auf Gefühlserlebnisse und Auserwähltheitsfantasien ausgerichtet ist.

Zum Weiterlesen:
Angstkonditionierung und Corona-Reaktion
Wird die Demokratie von Manipulatoren gekidnappt?
Komplexe Themen und komplexes Denken
Impfen, Wissen und Wissenschaft


Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen