Sonntag, 21. Februar 2016

Heftigkeit und Irrtum

"Durch Heftigkeit ersetzt der Irrende, was ihm an Wahrheit und an Kräften fehlt."
(Goethe)

Was ist der Unterschied zwischen Heftigkeit und Kraft? Heftigkeit ist impulsiv, Ausdruck einer Emotion, die sich mit Gewalt Bahn bricht. Sie sackt in sich zusammen, sobald ihre Energie verbraucht ist. Kraft kommt aus einer tieferen Schicht unseres Wesens, wenn es mit Quellen verbunden ist, die über uns selbst hinausreichen. Diese Quellen sind es auch, wo wir die Wahrheit finden. 

Deshalb braucht die Wahrheit keine Intensität, sie wirkt, wenn wir uns darauf einlassen, was sie spricht. Umgekehrt kann aus der Heftigkeit keine Wahrheit kommen, außer jener über die emotionale Impulsivität, die sich ausdrückt. Es ist also keine Wahrheit, die über die Person und den Moment hinaus bedeutsam ist. Irrtümer, Halbwahrheiten und Verdrehungen können wir an der Heftigkeit erkennen, an ihrer impulsiven Emotionalität, in der sich Angst und Hass Durchbruch verschaffen und die Vernunft überschwemmen. Ist das Feuer niedergebrannt, bleibt nichts von dem, was es angezündet hat.

Arbeit des Begriffs und der Gefühle


Wollen wir den Raum der Vernunft betreten, ist Arbeit gefordert: "Die Anstrengung des Begriffes", wie es Hegel genannt hat, und Arbeit der Gefühle. 

Das Denken hat seine inneren Gesetzmäßigkeiten, und diese müssen wir beachten, wenn wir uns auf diesem Weg zur Wahrheit bewegen wollen. Nicht jeder Gedanke, der uns hochploppt, ist wahr. Ob etwas ein Irrtum ist, erschließt sich erst durch die Prüfung und durch die Einsicht in die Zusammenhänge und Hintergründe. Wir können z.B. das Gegenteil dessen prüfen, was wir für richtig halten, um zu erkennen, ob wir wirklich auf dem richtigen Denkweg sind oder auf einem Holzweg. Wir sollten uns ernsthaft mit dem auseinandersetzen, was andere dazu denken oder schon gedacht haben. Wir müssen unseren Gedanken die Zeit lassen, die sie brauchen, und wir müssen sie mit unserer Aufmerksamkeit und Konzentration verfolgen.

Denken erfordert also Disziplin, damit es den Kriterien der intellektuellen Redlichkeit  entspechen kann. Vorschnelles und unüberlegtes Denken ist häufig nur das Nachplappern von fremden vorgekauten Gedanken, wie auf facebook, wo die Hassparolen fleißig geteilt werden, offenbar ohne dass sich die Teiler überlegen, ob hier ein Irrtum verbreitet wird und was sie mit der Verbreitung von Irrtümern anrichten könnten. 

Irrtümer verbreiten sich wie Viren, heutzutage beschleunigt durch die dichte Informationsvernetzung, die infolge der sozialen Dienste im Internet zur Realität geworden ist. Diese Geschwindigkeit überfordert unsere inneren Integrationsfähigkeiten. Wir nehmen uns nicht die Zeit zu prüfen, ob etwas, was behauptet wird, stimmt oder stimmen kann. Wir spüren nur rgendwie, wie weit es in unsere Vorurteilsstruktur passt, und schon ist es unsere Ansicht, die wir in die Cyberwelt hinausposaunen. Stellt sich irgendwann heraus, dass das Ganze ein Betrug, eine Irreführung, ein Hoax war, erreicht uns diese Nachricht vielleicht gar nicht, weil sie mangels Heftigkeit weniger Erregung und Strahlkraft beinhaltet, weil sie weniger "cool" ist. Oder wir nehmen sie am Rande zur Kenntnis, denn in den Tiefen unserer Seele hat sich nur das eingegraben, was als heftig in unser Nervensystem eingedrungen ist. Das nachfolgende Dementi kann nicht mehr löschen, was in der emotionalen Tiefe abgespeichert ist. Denn unser Unbewusstes ist nach dem Leitspruch organisiert: Je heftiger desto bedeutsamer!

Diese Spuren sind es dann, die das Handeln leiten und unsere Wahrnehmung prägen. Wir suchen in unserer Umwelt unbewusst nach allem, was unsere Erwartungen bestätigt und werden natürlich schnell und nachhaltig fündig. Eine asylsuchende Person hat einen Supermarkt geplündert, hat unser Unbewusstes aufgeschnappt und den Schluss gezogen, dass solche Personen gefährlich sind. 

Vielleicht gibt es irgendwo im Kopf auch die Information, dass der Vorfall gar nicht stattgefunden hat. Doch die Angstspur, die die Falschnachricht in uns hinterlassen hat, ist wirksam. Personen, die "asylsuchend" wirken, begegnen wir mit Misstrauen, und für solche Personen etwas zu tun oder Geld zu spenden, lehnen wir mit innerer Entrüstung ab - die sollen selber schauen, wie sie zurecht kommen, die bedrohen uns nur.

Jenseits der Heftigkeit


Heftigkeit verträgt sich nicht mit Vernunft. Heftigkeit will nur explodieren, das ist alles. Deshalb sollten wir uns darin üben, andere Menschen, die gerade heftig sind, explodieren zu lassen, möglichst so, dass wir selber dabei nicht Schaden nehmen, und das, was sie in ihrer Heftigkeit zum Ausdruck bringen, nicht für bare Münze nehmen. Und dass wir so mit unserer eigenen Heftigkeit verfahren: Wenn sie explodieren will, sie in einem Rahmen, der möglichst andere Menschen nicht in Mitleidenschaft zieht, explodieren zu lassen, und, sobald es geht, zu einer gelassenen Haltung zurück zu finden, in der wir uns im Vernunftgebrauch und in offener und liebevoller Kommunikation üben können. Denn wie sprach der Dichter noch: "Was man zu heftig fühlt, fühlt man nicht allzu lang."

Das ist ein Teil der Arbeit der Emotionen. Ein anderer ist es, nachzuforschen, was uns so in Heftigkeit gebracht hat. Woher kommt die Ladung eigentlich, woher stammt der Kern der Erzürnung? Wer sind die "Hintermänner" meiner Erregung, d.h. wer ist eigentlich gemeint? Und wie sehe ich die Sache oder das Thema, wenn die Erregung abgeklungen ist? Kann ich weitere Sichtweisen und Blickpunkte zulassen? Vielleicht wird aus dem einfärbigen und eindimensionalen Bild ein buntes, vielgestaltiges - differenziert und individualisiert statt verallgemeinernd und pauschalisierend.

Das ist ein Bild, das es uns leichter macht, uns in der Wirklichkeit zu orientieren. Es ermöglicht Flexibilität und variables Eingehen auf die ständig wechselnden Anforderungen der Welt. Wir tun uns also selber Gutes, wenn wir die Anstrengung des Begriffs und der emotionalen Arbeit auf uns nehmen. Wir öffnen uns für die vielgestaltigen Wunder und Überraschungen, die uns das Leben bietet. Wir bewegen uns mehr und mehr in dem und aus dem heraus, was wir selber sind, durch die Welt, statt Kopien anderer Menschen darzustellen oder die Emotionen aus unserer Kindheit auszuagieren, von einem Irrtum zum nächsten taumelnd. Das, was das Eigene unseres Selbstes ist, ist das, was die Welt von uns braucht, damit sie sich im kreativen Wachstum weiter entfalten kann.

Mittwoch, 17. Februar 2016

Die Bagatellisierer und die Übertreiber

Quelle: malters.npage.de
Manchmal suchen sie einander aus, manchmal krachen sie dann aufeinander: Die einen, die sagen: Alles nicht so schlimm, und die anderen: Das ist ja furchtbar - jeweils bezogen auf das gleiche Ereignis. Wir sehen daran nicht nur, dass wir die Wirklichkeit immer in Konzepte packen, sodass es sie in Wirklichkeit gar nicht ohne diese Konzepte gibt. Wir sehen daran auch, dass wir bestimmte Gewohnheiten haben, nach denen wir die Kontexte für unsere Erfahrungen auswählen. Und dass wir uns zu Menschen hingezogen fühlen, die die unserer gegenteilige Strategie vertreten - offensichtlich eine Verführung zum Unglücklichsein, die uns unser Unterbewusstsein präsentiert. Denn die Bagatellisierer leiden unter den Übertreibungen der Übertreiber und die Übertreiber an den Untertreibungen der Bagatellisierer umgekehrt.

Das Leiden der Bagatellisierer oder Minimierer besteht darin, dass sie befürchten, von einer Übermacht des Schrecklichen überrollt zu werden, das die Übertreiber oder Maximierer vor ihnen aufbauschen. Diese wiederum befürchten, dass die Bagatellisierer blind und naiv übersehen, welcher Gefahr sie ausgesetzt sind, und sie selbst deshalb in den Abgrund mitreißen werden.

Beiden geht es um Verstanden- und Gesehenwerden: Die Übertreiber fühlen sich alleingelassen: Sie erkennen das Ausmaß des Furchtbaren und niemand versteht sie. Deshalb müssen sie auf die Bagatellisierer einwirken und sie aus ihrer Lethargie reißen. Ebenso die Bagatellisierer: Sie wollen die Situation entspannen und beruhigen und werden dafür noch bekämpft. Sie werden in ihren löblichen Absichten missverstanden und sollen nun auf Gedeih und Verderb in den Kanon der Übertreiber einstimmen. Weil ihnen jede unnötige Aufregung verhasst ist, wollen sie mit aller Macht auf die Übertreiber einwirken, ihr Treiben zu mäßigen.

Unschwer erkennen wir hinter den polaren Reaktionen das Kampf-Fluchtschema, das in unsere Stressmechanismen eingebaut ist. Wenn wir einer Gefahr ausgesetzt sind, stehen wir vor dieser Alternative. Bagatellisieren heißt, vor der bedrohlichen Wirklichkeit zu flüchten, indem wir den Kopf im Sand vergraben, und übertreiben bedeutet, dagegen zu kämpfen, indem wir den Mund aufmachen, die Zähne zeigen und brüllen.

Mit jeder dieser Haltungen geraten wir in die Enge, weil wir in unserer Angst gefangen sind. Sinnlose Kämpfe kosten unnötige Energie, gelähmtes Wegschauen bindet unnötige Energie. In der Beziehungsdynamik geraten wir ins Dilemma, „uns selbst“ zu verteidigen oder aufzugeben, also eigentlich nur unser Reaktionsmuster, aber das ist schwer genug.

Die Angst-App


Natürlich gibt es einen Ausweg aus dem Dilemma. Die meisten Bedrohungen, denen wir uns ausgesetzt fühlen, sind Produktionen unseres Kopfes, unserer Angstfantasien. Wir haben eine Traummaschine in unserem Gehirn, die frei fabuliert und koloriert, was an Informationen aus der äußeren Welt geliefert wird. Sie ist eine Funktion unseres Stresssystems, gewissermaßen eine App, die sie sich hochgeladen hat, um sich scheinbar das Leben zu erleichtern: Schneller soll erkannt werden, wo die Gefahren lauern und leichter sollen dann die geeigneten Gegenstrategien generiert werden. Übereifrig erfindet diese Apparatur Ängste und Bedrohungen, die es in der äußeren Wirklichkeit gar nicht gibt. Das Maximieren bzw. Minimieren dieser Fantasieprodukte liegt an der Grundeinstellung der App, entweder eher auf Kampf oder auf Flucht.

Der Vorteil beim Minimieren


Allerdings hat das Übertreiben gegenüber dem Bagatellisieren einen Nachteil (betrachtet von der Aussicht auf mehr Angstfreiheit). Das Übertreiben arbeitet mit einer Verstärkung der Ladung. Es wird mehr Energie ins System gepumpt, dadurch werden die Gefühle intensiver und folglich in der Erinnerung fester eingebrannt, sodass ähnliche Situationen schnell zu ähnlichen Bewertungen und Reaktionen führen. Die Übertreiberin füttert den Angstspeicher erfolgreicher, weil dieser Ereignisse nach dem Grad der Erregung und emotionalen Ladung unterscheidet: Je heftiger, desto prominenter ist die Speicherung.

Beim Bagatellisieren wird die Energie minimiert, und das kann im Fall der Angstlenkung zur inneren Blockade führen. Wenn die Minimierung allerdings in die Entspannung führt, weil die Person erkennt, dass die Gefahr nicht real ist und deshalb nicht so wichtig genommen werden muss, bewegt sie sich auf den Ausweg aus dem Dilemma zu.

Das gilt es zu unterscheiden: Übertreiber können ihr Gegenüber der Bagatellisierung zeihen und dabei übersehen, dass dieses bereits im Entspannungsbereich sind. Das wird sie gemäß der Systemdynamik zur Verstärkung der Übertreibung motivieren, bis sie ihr Gegenüber aus der Entspannungssphäre geholt haben, dann stimmt die allerdings destruktive Dynamik wieder.

Für Übertreiber ist es schwieriger aus dem Zyklus zu entkommen, weil sie aus Gewohnheit mehr Energie in das ohnehin schon angespannte System pumpen. Sie steigern den Stress und brauchen länger, um wieder in die Realität herunterzukommen. Die Bagatellisiererin in der Problemtrance kann zwar auch nicht leicht aus ihrer Haut, aber wenn sie die Entspannung kultiviert, kann sie ihre Einstellung zur Entschärfung der Angstkontexte nutzen. So steht ihr der Weg zur Entspannung offen.

Naivität oder Weisheit?


Im Film "The Bridge of Spies" gibt es einen running gag. Er taucht das erste Mal auf, als der Strafverteidiger dem russischen Spion, der aufgeflogen ist, mitteilt, dass ihm die Todesstrafe droht: "Aren't you worried?" Der Spion darauf: "Would it help?"

Ein Bagatellisierer, ein Stoiker oder ein Weiser? Die Einschätzung hängt ab von der Kontextgewohnheit des Betrachters: Kommt sie aus der Kampf- oder Fluchtperspektive oder hat sie sich schon von diesem Dilemma gelöst? Hat da jemand erkannt, dass es nicht um Flüchten oder Kämpfen geht, sondern um sinnvolles Handeln, wenn dieses möglich ist, und um das Akzeptieren dessen, was unvermeidlich ist?

Montag, 15. Februar 2016

Mütter - Väter - Kinder

Zwischen Vätern und Müttern gibt es viel Gemeinsames und viel Unterschiedliches. Zum einen ist klar, dass die Mutter eine intensive und tiefgreifende Geschichte mit ihrem Kind teilt, die durch die Monate der Schwangerschaft von der Empfängnis bis zur Geburt reicht. Dadurch, dass das heranwachsende Kind voll am mütterlichen Stoffwechsel teilnimmt, dadurch, dass die Mutter in der Lage ist, intern mit dem Kind zu kommunizieren, dadurch, dass das Kind alle Rhythmen der Mutter aufnimmt und ihr Leben in dieser Zeit voll teilt, entsteht eine vielgestaltige und komplexe Beziehung zwischen Mutter und Kind, die vom Vater nie in dieser Dichte nachvollzogen werden kann. Sie wächst und entwickelt sich über neun Monate in Exklusivität.

Väter treffen frühestens bei der Geburt auf ein schon weitgehend fertiges Lebewesen und haben seine Entwicklung nur indirekt, gefiltert durch den mütterlichen Organismus mitbekommen – falls sie überhaupt präsent sind, was die Natur im einfachen Sinn der Weitergabe des Lebens nicht unbedingt erfordert. Mit der Geburt entsteht die Beziehung zwischen einem relativ selbständigen und ansatzweise handlungs- und kommunikationsfähigen Individuum und dem Erwachsenen.

Bindung und Autonomie


In der Psychoanalyse wurde von der Mutter-Kind-Symbiose gesprochen (z.B. Margaret Mahler), in der das Kind körperlich und seelisch völlig von der Mutter abhängig sei. Es könne weder zwischen Innen und Außen, noch zwischen sich und der Mutter unterscheiden. Allerdings haben die Ergebnisse der Säuglingsforschung z.B. durch Daniel Stern (Die Lebenserfahrung des Säuglings, Klett-Cotta 2011) gezeigt, dass das Baby schon von früh an als selbständiger Partner der Mutter agiert und kommuniziert.  


Dennoch ist es nicht verwunderlich, wenn die Vertrautheit in dieser Interaktionsbeziehung zwischen Mutter und Kind von Anfang an stärker ist als mit dem Vater. Denn diese Beziehung beginnt erst mit der Geburt, wenn auch der Vater das Baby von seinen Bewegungen im Mutterleib und das Baby den Vater über seine Stimme kennen mag. Sie beginnt in einem Zustand der relativen Autonomie, während der Aspekt der Abhängigkeit in der Mutter-Kind-Interaktion aufgrund der Vorgeschichte in der Schwangerschaft prominenter vertreten sein wird.

Die Polarität von Vater und Mutter


Daraus stammt die klassische Polarität zwischen den Müttern, die die Bindung zum Kind vor dessen Autonomie stellen, und die Väter, für die die Autonomie des Kindes wichtiger ist als die Bindung. Mütter verzehren sich manchmal vor Sehnsucht, wenn die Kinder größer werden und das Haus verlassen. Väter ermutigen die Kinder, in die Welt hinauszugehen und Abenteuer zu suchen. Mothers stroke and fathers poke, Mütter streicheln und Väter schubsen, wie es das Englische so prägnant ausdrücken kann.

Natürlich sind beide Seiten der Polarität wichtig für Wachstum und Entwicklung. Und natürlich verstehen Väter in der Regel etwas von Bindung und Mütter etwas von Autonomie. Natürlich freuen sich Mütter, wenn die Kinder in der Welt erfolgreich sind, und natürlich haben Väter Ängste, wenn z.B. die Tochter erstmals alleine ausgeht. Aber die biologische Regie der Vorgeschichte verteilt in der Regel die Gewichtung unterschiedlich zwischen Vätern und Müttern, und das ist auch gut so, weil die Kinder beides in ihrem Leben brauchen und so Rollenvorbilder von verschiedenen Personen mitnehmen können. Kinder, die das Schicksal haben, nur mit einem Elternteil aufzuwachsen, leiden unter dem Mangel, ebenso wie der Elternteil, der versuchen muss, beide Aspekte zu vermitteln, was nur schwer gelingen kann.

Das väterliche Erbe ist gleich wichtig wie das mütterliche - genetisch und emotional


Das ist die weitgehend akzeptierte Sicht der Rollenverteilung zwischen Müttern und Vätern in Psychologie und Soziologie. Jedoch wird durch die Erkenntnisse der pränatalen Psychologie, die davon ausgeht, dass das menschliche Bewusstsein und zelluläre Erinnerungsvermögen bis zur Empfängnis zurückreicht, eine Erweiterung der Sichtweise angeboten. 


Da der Anfang des menschlichen Lebens nur durch die Vereinigung einer Samenzelle mit einer Eizelle möglich ist, ist er gleichermaßen väterlich und mütterlich geprägt. Auf der Ebene der Biologie ist in gewisser Weise das Väterliche gleich wichtig wie das Mütterliche. Dazu kommt, dass das genetische Erbe, das vom Vater kommt, genauso wichtig für die Entwicklung der Persönlichkeit ist wie das, was von der Mutter kommt. Über diese genetischen Informationen „kennt“ das heranwachsende Baby den Vater und „weiß“ etwas über seinen Charakter und sein Leben. Das kann der Grund sein, warum Babys von Anfang an ein besonderes Vertrauen zu ihrem Vater entwickeln, wenn sich dieser seinerseits von der Geburt an für die Bedürfnisse des Babys engagiert und Kontakt mit ihm aufnimmt.

Deshalb arbeitet der Schweizer Pränatal- und Babytherapeut Franz Renggli nur dann mit einem Baby, das z.B. schlecht schläft und viel schreit, wenn Mutter und Vater mitkommen. Denn das Unbehagen des Babys kann Ausdruck einer Störung in der Beziehung sowohl zur Mutter als auch zum Vater sein oder Ausdruck einer nicht aufgearbeiteten Verletzung und Traumatisierung bei einem der beiden Elternteile, die das Kind übernommen hat.

Allerdings gibt es auch auf der genetischen Ebene einen selten beachteten Unterschied: Die Energieerzeuger in den Zellen, die Mitochondrien, haben eine eigene DNA, unterschieden von jener, die nach der Befruchtung durch die Verbindung der mütterlichen und väterlichen Chromosomen entsteht. Diese mitochondriale DNA bildet sich aus dem Zytoplasma der Eizelle, stammt also nur von der Mutter und aus der mütterlichen Generationenlinie.

Biologie ist sozial und das Soziale ist biologisch


Beim Menschen ist die Biologie immer auch emotional, sozial und kognitiv. Wir sind nicht in der Lage, zu verhindern, dass sich diese Bereiche gegenseitig beeinflussen. Wir können nur mit Hilfe unserer abstrakten Denkfunktion Unterscheidungen einführen, die uns das Verständnis erleichtern und uns ermöglichen, die Komplexität der Vernetzungen in Sprache zu übersetzen. Aber in der Wirklichkeit unseres Leben und Erlebens haben alle diese Ebenen eine eminente Bedeutung, und die Biologie im Grund die wichtigste, weil sie unmittelbar unser Überleben sicherstellt und deshalb alle anderen Ebenen beeinträchtigt sind, wenn die Physiologie durcheinander ist, während die umgekehrte (top-down) Richtung viel schwächer ausgebildet ist.

Die biologischen Grundvorgänge spielen immer eine Rolle und hinterlassen Spuren auf allen Ebenen. Sie wirken auf unsere Emotionalität und unser Verhalten ein. Deshalb sollten sie beachtet werden, wenn es um neue Entwicklungen in der Gesellschaft geht: wenn ein Kind von zwei Frauen oder zwei Männern großgezogen wird, wenn ein Kind durch Adoption bei Adoptiveltern aufwächst usw. Die Biologie wirkt in alle Bereiche des Erlebens hinein und lässt sich weder durch moderne medizinische Reproduktionstechniken noch durch sozio-kulturelle Änderungen wie der Gleichstellung von homosexuellen Partnerschaften überlisten. Wie wir die Techniken nutzen, die wir zur Verfügung haben und unsere Gesellschaft einrichten, sollten wir freilich nicht von den biologischen Grundlagen abhängig machen, denn das wäre wiederum eine einseitige ideologische Verkürzung im Sinn des Biologismus: Die (immer auch sozial interpretierte) Biologie sollte die Grundprinzipien der Gesellschaftsordnung liefern.

Wir sollten aber andererseits diese modernen Entwicklungen nicht dazu verwenden, um die Lebensgrundlagen und ihren Informationsgehalt sowie ihre systemischen Bedürfnisse völlig auszublenden oder zu ignorieren. Es ist wichtig, alles im Blick zu behalten: Das, was das Leben will und braucht, das, was die Individuen wollen und brauchen, das, was die Gesellschaft will und braucht. Aus einer integralen Sicht entstehen die besten Wege zu den richtigen Entscheidungen in all den individuellen Fällen und Problemlagen, die mit dem Thema verbunden sind und für die Themen, die durch die Fortschritte in den Reproduktionstechniken und in der gesellschaftlichen Liberalisierung noch auf uns zukommen werden.