Freitag, 26. Juni 2015

Spirituelle Kreissätze

Spirituelle Lehren verwenden häufig an zentralen Stellen sprachliche Gemeinplätze in der Form von Kreissätzen. Das Alltagsdenken mit seiner am Praktischen orientierten Logik kann damit nicht viel anfangen. Deshalb eignen sich solche Sätze für Kabarettnummern und bieten flapsigen intellektuellen Skeptikern Anlass für Pointen.

Ein Beispiel für einen spirituellen Sprachkreis: „Es geschieht alles so, wie es bestimmt ist = Es ist so bestimmt, wie es geschehen soll.“ Geschehen und Bestimmung ist eins, und beide bedingen sich wechselseitig. Was geschieht, ist bestimmt, was bestimmt ist, geschieht.

Damit ist kein Informationsgewinn verbunden, sondern es wird bestätigt, was schon bestätigt ist. Also ist die Nachricht redundant, es kommt nichts Neues damit rein. Wozu also das Brimborium, wozu der Heiligenschein um einen solchen Satz herum?

Der Sinn eines spirituellen Satzes liegt nicht im Übermitteln einer neuen Information, sondern im Vermitteln einer Haltung zum Leben. Der Satz zielt auf einen Meta-Sinn: Worum geht es im Leben? Wie verhalte ich mich zu dem, was geschieht?

Wenn alles, was geschieht, bestimmt ist, heißt das, es soll genauso sein, wie es geschieht. Es heißt, dass es gut so ist, wie es geschieht. Das ist also keine Aussage über die Fakten, es ist aber auch keine Aussage im Sinn einer ethischen Wertung. Denn auf der Ebene der Ethik können und müssen wir vieles nicht gutheißen, was geschieht. Im Gegenteil, wir sind aufgefordert, gegen Unrecht, Unmenschlichkeit, Misshandlungen und Gewalt zu protestieren und all das, soweit es in unserer Macht liegt, zu verhindern.

Allerdings gibt es eine Ebene, die jenseits der ethischen Einschätzung liegt, eben die spirituelle. Sie umfasst zwar die ethische Dimension ebenso wie die des pragmatischen Wirklichkeitsbezugs, geht aber darüber hinaus. Sie bringt den Menschen in seine innere Mitte, in seine Balance, indem sie die Möglichkeit anbietet,  dass wir das, was passiert, nicht in Frage stellen müssen, sondern so akzeptieren können, wie es eben kommt. Mit dieser Einstellung wird auch das Umgehen mit den anderen Ebenen gefördert.

Die bewertungsfreie Ebene ermöglicht, in Frieden zu kommen mit allem, was auf den anderen Ebenen nicht im Frieden ist. Ein häufiges Missverständnis besteht darin, dass dieses In-Frieden-Kommen mit dem Unfrieden als ein Sich-Abfinden, als eine resignative oder zynische Abkehr von der Welt aufgefasst wird. Dem Missverständnis unterliegen im Übrigen nicht nur Beobachter von außen, sondern manchmal auch die Akteure selbst. Denn die spirituellen Lehrsätze werden dann zu Leersätzen, wenn sie genau dafür verwendet werden, die eigene Überforderung oder Bequemlichkeit angesichts der friedlosen Umstände des Lebens zu rechtfertigen: Es ist ja alles gut so wie es ist, also brauche ich nichts tun und kann mich zurücklehnen.

Den Frieden finden mit dem, was nicht im Frieden ist, bedeutet, nicht gegen das anzukämpfen, was geschieht, sondern mit ihm mitzugehen und mitzuleben. Dann ist es am besten möglich, das Notwendige und Passende zu tun, wo etwas zu tun ist, und das Unnotwendige zu lassen. Es geht um die Haltung der Gelassenheit, aus der heraus das Handeln im richtigen Maß und in der optimalen Orientierung stattfinden kann. Gelassenheit hat nichts mit Gleichgültigkeit oder Passivität zu tun, sondern bildet den Hintergrund für Aktivitäten, die aus der entspannten Wachheit und Achtsamkeit für die Erfordernisse des Moments kommen.

Spirituelle Kreissätze machen also nur dann einen Sinn, wenn Sprecher und Empfänger in diesem Modus der Gelassenheit sind. Sie können auch als Verlockung dienen, in diesen Zustand zu kommen, wenn ihm jemand schon sehr nahe ist. Dann lassen solche Sätze ein Gefühl der Weite und Offenheit erahnen, das zum Verweilen und tieferen Erkunden einlädt. Sie dienen als Türöffner für eine Welt der inneren Freiheit, nach der wir immer wieder auf der Suche sind.

Die Sätze können auch als Hypothese ausprobiert werden: Wie fühlt sich das an, wenn ich annehme, dass alles, was geschieht, auch so bestimmt ist? Kann ich mich dabei tiefer entspannen oder regen sich Widerstände? Wenn letzteres der Fall ist, „ist es auch bestimmt, dass es so geschieht“, sprich ist es nicht weiter tragisch, und es heißt, dass ich mich auf einer anderen Bewusstseinsebene befinde. Merke ich, dass mich der Satz tiefer mit mir und der Wirklichkeit verbindet, hat er seine Wirkung getan.

Deshalb ist es wichtig, mit solchen Sätzen, auch wenn sie schon als hilfreich für sich selber erfahren wurden, nicht wahllos oder unbedacht um sich zu werfen. Wenn die Adressaten nicht auf der entsprechenden Wellenlänge sind, kann die spirituelle Lehre mehr Schaden als Nutzen anrichten. Aus der Lehre wird eine Belehrung, und Belehrungen haben üblicherweise nur eine Richtung: von oben nach unten. Niemand ist gerne unten.

Immer sollten wir uns auch daran erinnern, dass es in sprachlicher Form keine absoluten Wahrheiten geben kann. Alles, was wir haben, sind vorläufige Formulierungen, und diese machen nur Sinn, wenn sie an den jeweiligen Kontext, also an die Bewusstseinsebene der Empfänger, angepasst sind. Spirituelle Kreissätze sind trotz ihrer erhabenen Gravität, die sie für Eingeweihte ausstrahlen, auch nur relative, sprich scheiteranfällige Versuche, das Absolute zum Vorschein zu bringen. Diese Sätze brauchen also nicht den Anspruch auf Wahrheit zu erheben, sondern bieten sich als Dienstleister an, die wir wahlweise nutzen können.

Auch die Poesie nutzt diese Form der Redundanz: „Es ist, was es ist, sagt die Liebe“, lautet der Refrain in Erich Frieds bekanntem Gedicht. Der Dichter verweist mit der scheinbar nichtssagenden Formulierung auf das Unaussagbare, also auf das Spirituelle. Er macht uns darauf aufmerksam, dass wir mittels Informationen die Mysterien nicht verstehen können, z.B. das Geheimnis, was die Liebe ist.

Vgl. Im Unfrieden in Frieden sein

Samstag, 20. Juni 2015

Ich weiß, was für dich gut ist

„Ich weiß besser, was für dich gut ist als du selber.“ Eltern gebrauchen diesen Satz ihren Kindern gegenüber. Er wird oft verbal geäußert, noch öfter aber implizit in Handlungen übersetzt, nach dem Muster: „Du machst es jetzt so, wie es sich gehört, was ich weiß und du nicht.“

Eltern wissen mehr als Kinder, das ist nun mal sonnenklar, und sie wollen nur ihr Bestes für ihre Kinder. Also müssen sie ihnen auf den Weg mitgeben, wie es richtig und wie es falsch gemacht wird im Leben.

Was sollen Kinder gegen diese Argumentation sagen? Schließlich sind sie vergleichsweise noch kurz auf der Welt und können bei vielen Themen nicht mitreden. Es fehlt ihnen an Wissen und Erfahrung. Deshalb übernehmen sie notgedrungen ungeprüft die Aussagen der Eltern.

Doch gibt es zweierlei Arten von Wissen, die hier eine Rolle spielen. Die eine Art von Wissen handelt von den Dingen und Umständen dieser Welt: Wenn die Ampel auf Rot steht, darf die Straße nicht überquert werden. In der Nacht wird es dunkel, weil die Sonne nicht mehr scheint. Zwei und zwei ergibt vier. Das wissen Kinder von Anfang an nicht, das müssen sie lernen, und da müssen sie sich denen anvertrauen, die es besser wissen.

Die andere Art von Wissen bezieht sich darauf, was ein gutes und ein richtiges Leben ist. Da schöpfen die Eltern aus ihrer Lebenserfahrung, die aber auf ihr Leben beschränkt ist. Ihre Kinder haben viel später, in einer anderen Zeit, mit ihrem Leben begonnen und sind mit gänzlich anderen Voraussetzungen gestartet – genetisch, innerpsychisch, sozial, politisch, ökologisch usw. Die Ähnlichkeiten, die wir an unseren Kindern erkennen, haben nichts damit zu tun, dass diese ganz neue Menschen sind, die in dieser Weise noch nie da waren. Und deshalb ist ihnen unsere Lebenserfahrung nur beschränkt von Nutzen. Sie können sie in ihre Lebensgestaltung als Möglichkeit hineinnehmen, müssen aber selber entscheiden, was ihnen daran nachahmenswert erscheint und was davon sie nicht brauchen können.

Wir haben also in Wirklichkeit überhaupt kein Wissen darüber, was für jemand anderen gut ist. Manchmal maßen wir uns ein solches Wissen an, stülpen dabei aber den anderen unsere Sicht der Welt über – aus Angst, dass wir selber leiden würden, wenn die Person nicht macht, was wir für sie als optimal bestimmen. Wir haben aus unserer Lebensperspektive heraus Erwartungen, und wollen nicht, dass sie von anderen enttäuscht werden, weil wir dann unsere Planungen ändern müssten.

Es sind vor allem die unbewussten elterlichen Erwartungen, die das Erziehungsverhalten steuern. Diese Erwartungen sind oft von den Frustrationen der Eltern gesteuert: Was sie selber in ihrem Leben erreichen wollten und nicht erreichen konnten, erwarten sie von ihren Kindern. Unbewusst erleben sie ihre Kinder aus Erweiterungen ihres Selbst, das mit deren Erfolgen wächst und mit den Misserfolgen schrumpft. Solche Eltern erzählen dann z.B.: „Auf die Mathematik-Schularbeit haben wir eine Zwei bekommen“, als hätten sie selber die Schularbeit geschrieben und als könnten sie den Erfolg aufs eigene Konto verbuchen. Im Fall des Misserfolgs leiden sie mit dem Kind, aber vor allem mit sich selbst, und machen dem Kind den Druck, die Leistung zu erbringen, weil es eigentlich um sie selber geht.

Solche Eltern können sich auch schwer von ihren Kindern lösen. Sie wollen zwar ihren Kindern eigene Fehler und Umwege ersparen, lassen sie aber nicht voll in ihr eigenes Leben. Denn sie können ja nur ein gutes Leben leben, wenn es nach den elterlichen Maßstäben gestrickt ist. Sie halten ihre Kinder damit in Abhängigkeit und bleiben ebenso von ihnen abhängig, es entsteht also eine wechselseitige Dependenz. Mit „bestem Wissen und Willen“ wird den Kindern ein eigenständiges Leben verweigert oder schwergemacht.

Sollen Kinder dagegen mündige und selbstbewusste Erwachsene werden, müssen wir sie in ihrer Eigenwahrnehmung stärken, sodass sie mehr und mehr für sich selber entscheiden können, was für sie gut ist und was nicht. Sie erwerben damit die Sicherheit mit ihrem inneren Sinn, sodass sie spüren können, in welche Richtung sie gehen wollen. Dieses Vertrauen in sich können sie nur entwickeln, wenn ihnen die Eltern vertrauen – bedingungslos, aber nicht blind.

„Keiner weiß besser, was ihm gut tut und für ihn notwendig ist, als der Betroffene selbst. Wir können einander also nicht beibringen, was für uns gut ist. Nicht mit noch so ausgeklügelten Techniken. Aber wir können einander dabei unterstützen, es selbst herauszufinden,“ schreibt der personzentrierte Psychotherapeut Peter F. Schmid.

Unmündigkeit in der Gesellschaft


Wir finden das Modell des Besserwissens in unserer Gesellschaft, und es ist da weit verbreitet, offenbar weil es auch in der Erziehung nach wie vor eine große Rolle spielt. Nehmen wir als Beispiel das Gesundheitssystem. Was eine gute Therapie für ein Leiden darstellt, wird von der etablierten Medizin bestimmt, möglichst, aber praktisch nur in seltenen Fällen, gestützt auf evidenzbasierte Medizin. Denn zur größten Zahl der Behandlungen gibt es nur Erfahrungswerte, aber keine empirische Daten. Jedenfalls bestimmt der medizinische Experte, was gut für den Patienten ist. Der Patient mit seinem eigenen Wissen über seinen Organismus und seine Persönlichkeit kommt dagegen nicht oder kaum zur Sprache. Das Gesundheitssystem weiß, was für seine Zugehörigen das Beste ist, auch wenn es nur statistische Daten oder herkömmliche Verfahrensweisen sind, die zur Verfügung stehen.

Es ist die Dritte-Person-Perspektive, die hier eingenommen wird: Es gibt ein objektives Wissen, dem gefolgt werden muss, damit das Heil erlangt wird. Die Person selber und ihr Wissen spielt keine Rolle und ist nicht gefragt. Sie wird behandelt wie ein unmündiges Kind, dessen unmündiger Status bewahrt werden soll. Das ist der Preis der Auslieferung an den Standard der Dritten-Person-Perspektive als einzig vertrauenswürdigen Quelle von sinnvollem Wissen: Die Irrelevanz des subjektiven Wissens und des inneren Sinns als Informationsquelle. Patienten, die ihre Befindlichkeit und ihr Wissen über sich selbst einbringen, stören und sind lästig, wie kleine Kinder, die zuviele Fragen stellen anstatt zu tun, was man ihnen sagt.

Der Aufruf an die Aufklärung, den Immanuel Kant im 18. Jahrhundert formuliert hat:

„Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, müsste heute lauten: „Habe Mut, deinem inneren Sinn zu vertrauen.“ Zu diesem Mut gehört, aus dem Vertrauen selbstbestimmt zu handeln und im eigenen Leben beide Perspektiven zu verbinden: Das objektive Wissen, das die Wissenschaften liefern, und das subjektive Wissen, das der innere Sinn zur Verfügung stellt. Zu dem Mut gehört auch, anderen Menschen diesen Mut zuzumuten. Dann kommen wir unseren Kindern und auch allen Mitmenschen gegenüber nie mehr auf die Idee, besser als sie selber zu wissen, was für sie gut ist.

Vgl. Die Erste-Person-Perspektive als Wissenschaft
Die Innenperspektive

Mittwoch, 17. Juni 2015

Die Zumutung

"X hat das von mir verlangt - was für eine Zumutung!" So verwenden wir das Wort: Es wird uns etwas rübergeschoben, was wir als Überlastung empfinden. Der andere ist so egoistisch, denkt nur an sein Eigenes und nicht an uns, er nimmt keine Rücksicht, sondern will uns nur vor seinen Karren spannen. Dagegen müssen wir uns zur Wehr setzen.

Interessanterweise könnte in dem Wort eine weitere Bedeutung stecken: Jemand schreibt uns den Mut zu, dass wir das oder jenes machen oder nicht machen. Ich soll morgen früh um sechs aufstehen, weil du mit mir frühstücken willst? So eine Zumutung! Du hältst mich also für so mutig, sprich kraftvoll und entschlussfreudig, dass ich es schaffe, so früh aufzustehen. In der Zumutung steckt die Anerkennung von Qualitäten, derer ich mir selbst vielleicht gar nicht so bewusst bin.

Ich kann mir dann noch immer überlegen, ob ich diesen speziellen Mut, den mir der andere zuschreibt, aufbringen will; das ist ja letztlich noch immer meine eigene Entscheidung. Aber wenn ich die Zumutung im wörtlichen Kontext verstehe, entspanne ich mich leichter, und wenn ich mich entspanne, kann ich leichter in mich hineinhorchen und dem nachspüren, was ich wirklich selber will. Ich kann dann auch den Mut aufbringen, zum Wunsch der anderen Person Nein zu sagen, oder den Mut, meine Müdigkeit am Morgen zu überwinden.

Wenn wir anderen etwas zumuten, signalisieren wir, dass wir ihnen auf Augenhöhe begegnen: Wir anerkennen sie als gleich mächtig wie wir selber. Wir vertrauen ihnen, dass sie das schaffen, was wir von ihnen möchten, weil wir sehen, wozu sie in der Lage sind. Wir fordern sie heraus, zu ihrer eigenen Kraft zu stehen und aus ihr heraus zu handeln. Wir glauben von ihnen, dass sie über ihren Schatten springen und ihre Komfortzone überschreiten können. 

Allerdings ist es wichtig, dass wir bei der Zumutung  die Grenzen der anderen Person achten und nicht blind auf unserer Erwartungshaltung beharren. Wenn wir anderen etwas zumuten, gehört dazu, dass wir uns selbst zumuten, eine Ablehnung der Zumutung auszuhalten und zu respektieren. Wir können den Blick der anderen auf ihre Möglichkeiten richten, aber es steht uns nicht zu, zu verlangen, dass sie danach handeln. Schließlich müssen sie unsere Sichtweise nicht teilen. Wir müssen uns also zumuten, unsere Zumutung zurückzuziehen, wenn sie bei der anderen Person auf Ablehnung stößt.

Andererseits brauchen wir auch nicht aus Höflichkeit oder vermeintlicher Anspruchslosigkeit auf jede Zumutung zu verzichten. Wenn wir von anderen Personen nichts verlangen, aus welchen Gründen auch immer, glauben wir, dass sie nicht in der Lage sind, sich innerlich zu dehnen und zu strecken und über sich und ihre Gewohnheiten hinauszuwachsen. Die Aufgabe von Lehrern ist es immer, an die weiteren Möglichkeiten, die in jedem Menschen stecken, zu appellieren. Da wir im täglichen Umgang miteinander immer auch Lehrer füreinander sind, trifft es auch dort zu, dass wir uns selber zumuten können, anderen mehr zuzumuten, als sie sich selber zutrauen. 

Mut ist der Gegenspieler der Angst, und wir schauen der Angst der anderen ins Auge, wenn wir eine Zumutung aussprechen. Dazu müssen wir oft selber über die Schwelle einer eigenen inneren Angst steigen. Doch wenn wir dem anderen signalisieren können, dass wir uns der Angst stellen, motivieren wir sie, sich nicht völlig ihren Ängsten auszuliefern. Dann wird aus der Zumutung eine Ermutigung und aus dieser eine Ermächtigung.

Die Zumutbarkeit der Wahrheit


Ein Beispiel für die Rolle der Zumutung kommt in dem berühmten Zitat von Ingeborg Bachmann zur Sprache: „Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar." Die Dichterin formuliert einen Anspruch, der aus dem Menschsein selbst hervorgeht: Die Wahrheit repräsentiert die Ganzheit des Menschseins und fordert die beständige Suche danach. Das Fragmentierte am Menschen ist das, was all die Probleme verursacht, unter denen die Menschen und die Menschheit leidet. Wird die Suche nach der Wahrheit nicht mehr zugemutet, wird also der Selbstverblendung kein Spiegel mehr vorgehalten, dann versinkt die Menschheit in der Dunkelheit, in der auch Spiegelbilder nicht mehr gesehen werden.

Hier folgt der Zusammenhang des Zitats aus einer Rede, in der Ingeborg Bachmann
auf die Aufgabe der Schriftsteller zu sprechen kommt: "Wie der Schriftsteller die anderen zur Wahrheit zu ermutigen versucht durch Darstellung, so ermutigen ihn die andren, wenn sie ihm, durch Lob und Tadel, zu verstehen geben, dass sie die Wahrheit von ihm fordern und in den Stand kommen wollen, wo ihnen die Augen aufgehen. Die Wahrheit nämlich ist dem Menschen zumutbar." (Aus: Dankrede bei der Entgegennahme des "Hörspielpreises der Kriegsblinden" 1959)

An einer anderen Stelle schreibt sie:  "Denn wir wollen alle sehend werden. Und jener geheime Schmerz macht uns erst für die Erfahrung empfindlich und insbesondere für die der Wahrheit. Wir sagen sehr einfach und richtig, wenn wir in diesen Zustand kommen, den hellen, wehen, in dem der Schmerz fruchtbar wird: Mir sind die Augen aufgegangen. Wir sagen das nicht, weil wir eine Sache oder einen Vorfall äußerlich wahrgenommen haben, sondern weil wir begreifen, was wir doch nicht sehen können. Und das sollte die Kunst zuwege bringen: dass uns, in diesem Sinne, die Augen aufgehen." (Ingeborg Bachmann, Werke, IV, S. 276 [Über die Kunst])

Dienstag, 16. Juni 2015

Der Hochmut in der Selbstverkleinerung

Manchmal drücken wir uns vor der Realität mittels Selbstverkleinerung. Wir trauen uns etwas einfach nicht zu, wir können das nicht, und eigentlich wollen wir das gar nicht. Es handelt sich dabei nicht um Dinge, die andere von uns verlangen oder die wir tun sollten, weil es von uns erwartet wird. Es geht hier vielmehr um Handlungen, die aus unserer kreativen Lebensorientierung entspringen, bei der es um die Verwirklichung von eigenen Lebenszielen geht: Etwas, was wir ganz bestimmt selber wollen. Es hat uns die Idee gleich voll beflügelt und begeistert. Wir haben die ersten Schritte gesetzt, sie sind wie von selbst aus uns geflossen. Wir waren im ungebremsten Schaffensdrang. Dann verebbte dieser plötzlich oder unmerklich-allmählich.

Schließlich ist die Lust am Kreieren verflogen, die Ideen fehlen oder die Kraft ist erschöpft. Und da meldet sich gerne eine Stimme in uns, die sagt: Ich kann das nicht, ich schaffe es nie, ich bin nicht gut genug usw. Sie rechtfertigt die Schaffensblockade, die aufgetreten ist und bringt uns manchmal dazu, das ganze Projekt abzubrechen.

Blockierungen und Widerstände sind Teil von jedem Schaffensprozess. Am Anfang stehen meist enthusiastische Flow-Zustände, die den kreativen Prozess in Gang setzen. Diese Energie ist nicht für die "Mühen der Ebene" geeignet, die irgendwann dazu treten, wenn sich die umgebenden Realitäten in den Ablauf einmischen: Müdigkeit, andere Bedürfnisse, versiegende Ideen, umständliche und mühsame Arbeiten (z.B. Recherchen beim Schreiben eines Sachartikels). Das Nichtwissen um die Unumgänglichkeit dieser Phase im Schaffensprozess kann dazu führen, dass das Projekt an diesem Punkt abgebrochen wird und für immer in einer Schublade verschwindet, aus der es sich zwar immer wieder kleinlaut meldet, aber nie wieder herausgenommen und weiterverfolgt wird. Genausowenig wird es als gescheitert fallengelassen und mental entsorgt, sodass es im Hintergrund wirksam bleibt und am Schaffensgewissen nagt („Du hast doch dieses Projekt noch immer nicht weiterbetrieben…“).

Wissen wir um diesen Aspekt beim Kreieren, so können wir mit ihm kreativ umgehen, solange, bis sich der kreative Fluss wieder Bahn bricht und uns durch die Engstellen hindurch begleitet. Erfahrene Kreatoren haben dafür ihre eigenen Strategien entwickelt und auf ihre individuellen Widerstände angepasst. Manche Künstler z.B. arbeiten konsequent bestimmte Zeiten am Tag, andere legen längere Pausen mit Ablenkung dazwischen ein oder versprechen sich Belohnungen usw.

Das Ego im kreativen Prozess


Möglicherweise dient die Schaffensblockade der Einbeziehung des Egos in den kreativen Prozess: Solange das Flow-Erleben dominiert, ist das Ego abgemeldet, es hat keine Chance gegen die Übermacht des kreativen Stromes. Wenn dieser an Schwungkraft verliert, meldet sich das Ego wieder. Es ist der Hüter des Mittelmaßes, der Gewohnheitszone, und es ist mit Misstrauen gegen Gipfelzustände ausgestattet, die es aus seiner Lethargie reißen.

Deshalb versteckt sich in der scheinbaren Bescheidenheit eine besondere Variante des Hochmutes, der sich insgeheim besser wähnt als die kreative Lebenskraft. Kreativität verlangt die Hingabe an das, was zu tun ist, gleich, ob es leicht geht oder schwerfällt, gleich ob es angenehm ist oder eine Überwindung verlangt. Hingabe an etwas Größeres ist das, was das Ego nicht kann und wovor es die meiste Angst hat. Also sucht es die Selbstverkleinerung als Ausrede: Ich bin ja so klein und unbedeutend, ich kann deshalb nichts Besonderes vollbringen. Ich bleibe bei dem Wenigen, das ich jetzt habe, und dafür habe ich es sicher.

Es will sich wieder in der Komfortzone einrichten und zurücklehnen. Kein Risiko einzugehen ist seine Devise. Lieber eine relative Sicherheit und Bequemlichkeit als Gefahr zu laufen, mehr vom Leben zu bekommen, denn es könnte auch in weniger umschlagen.

Unser Ego durchschauen


Erkennen wir hinter der Blockade unser ängstliches Ego mit seinen gefinkelten Strategien, so fällt es uns leichter, weiterzumachen. Wir besinnen uns darauf, was wir selber wollen, was uns als Idee und Vision beflügelt und vergewissern uns unserer Kraft. Wir haben vieles schon geschafft in unserem Leben, und wir können deshalb auch neue Herausforderungen, wie sie jede Schaffensblockade darstellt, meistern. Das Match heißt Ego gegen kreativen Fluss, und wir sind es, die entscheiden, wer gewinnen soll.

Die Tücken im kreativen Zyklus zu verstehen ist so wichtig wie die kreative Arbeit selbst. Denn was nützen halbfertige Ideen und unvollendete Werke? Jede durchwanderte Schaffenswüste lehrt uns, den Hochmut der Bescheidenheit durch die Bescheidenheit der Hingabe zu ersetzen. Jeder überwundene Widerstand stärkt das Vertrauen in den kreativen Fluss, der immer wieder Überraschendes zutage fördert, wenn wir ihm den Raum und die Zeit lassen, die er dafür braucht.

So ging es mir auch beim Schreiben dieses Blogs, der aus einem Gespräch über das Blogschreiben entstanden ist, das die ersten Absätze schnell gefüttert hat. Bis zur letzten Zeile musste ich einige Durststrecken überwinden, die von Zweifeln benagt waren, ob das Thema genug für einen Blogbeitrag hergibt und ob mir noch ein sinnvoller Abschluss gelingen wird. Nun bin ich am Punkt der Zufriedenheit und Dankbarkeit, dass der Text gelungen ist. Dir als Leser(in) steht natürlich deine eigene Meinung dazu frei. Ich jedenfalls freue mich über alle, die zu diesem Text und durch ihn hindurch bis zu seinem Ende finden.

Montag, 15. Juni 2015

Die erotische Ökologie von Andreas Weber

Der deutsche Biologe und Umweltphilosoph Andreas Weber hat in seinen Büchern die Schöpferische oder Erotische Ökologie vorgestellt. Viele seiner Gedankengänge decken sich mit den auf diesen Blogseiten erörterten Gedankengängen und führen sie noch weiter.

Weber geht aus von einer untrennbaren Verschränkung von Materie und Geist, die er als Grundlage des gesamten Kosmos sieht. Er meint: "Es gibt keine Subjektivität, die vom Leib entkoppelt wäre." (AF S. 96) und beruft sich dabei auf den namhaften Gehirnforscher Antonio Damasio, für den der Geist gleichsam eine virtuelle Darstellung des lebenden Körpers ist und die Wurzeln des Mentalen in der Subjektivität des Körpers liegen. Zusammengefasst: "Eine Voraussetzung der Schöpferischen Ökologie besteht darin, dass alles, was wir als Geist beschreiben, vollkommen der Materie angehört - freilich ohne dabei auf die Eigenschaften der ‚bloßen‘ Materie zusammenzuschrumpfen." (AF S. 291) "Lange Zeit galt eine solche Verbindung zwischen Außen (der Biochemie des Körpers) und Innen (unserem subjektiven Erleben) in der Biologie als absurd. Heute aber entdecken Molekularbiologen, wie Gefühle, die reine ‚Innendimension‘ also, sogar das Erbmaterial verändern." (L S. 93)

Wir haben keine Möglichkeit zu einer "objektiven" Wahrnehmung, weil uns die Natur mit Wahrnehmungsorganen ausgestattet hat, die uns die Wirklichkeit so liefern, wie es die Natur als für uns passend bestimmt hat. Wir können daran auch grundsätzlich nichts ändern, weil wir weder unsere Augen und Ohren noch unser Gehirn umbauen können. Wir können uns aber dieser Tatsachen bewusst sein und danach unser Bild der Welt ausrichten - als unweigerlich relativ, aber gerade in dieser Relativität äußerst produktiv. Weber nennt das die zarte Empirie: "In ihr weitet sich das eigene Selbst als Echo des ständig vibrierenden schöpferischen Potenzials, und jedes wirklich wahrgenommene Objekt erschafft ein neues Wahrnehmungsorgan in uns.“ (L S. 104)

Da jedoch die Naturwissenschaften in den vergangenen Jahrhunderten unser Verhältnis zur Welt, insbesondere zur Natur mit dem Anspruch auf Objektivität geprägt haben, haben wir das Bewusstsein entwickelt, über der Natur zu stehen. Damit ist einen Gegensatz zwischen Natur und Kultur erfunden worden. Tatsächlich sind wir nach wie vor und primär Naturwesen, direkt und eng mit den anderen Naturwesen verbunden. Deshalb meint Weber: "Wir müssen die Natur für unsere Seele retten." (AF S. 24)

Als Schüler des Biologen und Systemforschers Francisco Varela, der weithin durch das Buch "Der Baum der Erkenntnis" (zusammen mit Umberto Maturana) bekannt wurde, versteht Weber den Aspekt der Selbstschöpfung (Autopoiesis) des Lebens. Jede Körperzelle betreibt diese Selbstschöpfung, indem sie z.B. in der Lage ist, in einer Sekunde bis zum einem Dutzend von zerstörten DNA-Verbindungen zu reparieren.

Wichtig ist für Weber die Innenperspektive, ohne die wir uns selbst und das Leben nicht verstehen können. Er zitiert in diesem Zusammenhang gerne Rainer Maria Rilke, der den Begriff des "Weltinnenraums" geprägt hat. "ˋSeele' heißt Innerlichkeit, und es ist diese, die wir mit den anderen Wesen gemeinsam haben, in wie geringem Maße auch immer." (AF S. 78)

Deshalb gelangt er zur Auffassung, dass wir mit dem Fühlen (was wir hier den inneren Sinn nennen) an unsere Lebensprozesse heranreichen. "Wenn sich die Physik des Lebens am besten als Gefühl beschreiben lässt, dann ist dieses Gefühl doch zugleich immer mit dem Stoff verkoppelt, aus dem der Organismus besteht. Gefühl ohne Materie ist nicht möglich. Das, was sich uns als Gefühl innerlich zeigt, ist etwas, das mit uns als Körper 'äußerlich' geschieht, denn alles Leben ist immer an den Stoff ausgeliefert." (AF S. 78)

Bei allen biologischen Vorgängen gibt es eine innere Seite, die den "Standpunkt, ein Betroffener zu sein" (AF S. 102) beinhaltet. "Dieser Standpunkt ist symbolisch, das heißt, er stellt den Körper nicht dar wie eine Anzeigetafel den Betriebszustand eines Kraftwerks, sondern übersetzt ihn in Empfindung. ... Empfindung ist die gemeinsame Sprache aller Zellen und aller Wesen, die Sprache der Körper und der Dichter." (Ebd.)

Die Empfindung ist also die unterste Quelle der Information aus dem Bereich der Natur, die intern zu Bewusstsein gelangen kann. Sie ist deshalb das wichtigste Tor zum Unbewussten, das wir in der Psychotherapie nutzen können und nutzen müssen, wenn wir an die Wurzeln von Problemen im vorsprachlichen Bereich gelangen wollen.

Und die Heilung von Symptomen und Krankheiten ist die Wiederherstellung der Einheit: "Denn jede Heilung bedeutet, den ungestörten Fluss wiederherzustellen, der den Stoff des Wesens von Augenblick zu Augenblick ordnet." (AF S. 114)

Weber ist bei seinen Versuchen, die Subjektivität der Natur zu verstehen, auf die Universalität der Sprache und die Grundlagen der inneren oder organischen Kommunikation gestoßen. Er meint, dass die "symbolische Sphäre unseres Inneren sich in einer einzigen universellen Sprache, einer ‚Lingua franca‘ des Körpers, ausdrückt. ... Die Buchstaben dieser Sprache sind kein Text außerhalb der Materie. Sie müssen vielmehr als eine Erscheinungsform der Materie einen emotionalen Wert vermitteln, der für Lebewesen sofort lesbar ist. Das Medium der Gefühle muss demnach emotional geformte Materie sein, denn ohne den Stoff könnte die Sprache der Gefühle nicht erscheinen ... Der Geist ist nichts anderes als der Körper – aber in seiner Bedeutung für den Fortgang des Lebensprozesses. Das Medium ist tatsächlich nichts als Materie – aber es ist so geformte Materie, dass sie für ein Lebewesen unmittelbar und unausweichlich eine existenzielle Bedeutung hat." (AF S. 103-104) "Das Kern-Selbst ist die Bedeutung der körperlichen Prozesse. Es ist ihre stets vorhandene, unablösbare seelische Dimension." (AF S. 100)

Die „Lingua franca“, also die Universalsprache des Lebendigen, ist auf diesen Seiten schon mehrfach postuliert worden – die innere Kommunikation als Grundlage aller Lebensprozesse. Auf dieser Ebene lassen sich Physik und Psychologie verbinden. Weber greift dazu auf die Forschungen von Jaak Panksepp über die Kommunikation der Gefühle zurück: "Hat Panksepp recht, dann gibt es wirklich eine Durchgängigkeit der Formen zwischen dem Physischen und dem Psychischen. Dann verbindet eine Kette von Analogien die Fluktuationen der Moleküle in der Zelle mit neuronalen Mustern, mit der Spannung von Körperhaltungen, der Bedeutsamkeit sprachlicher Ausdrücke und der Vibration musikalischer Themen." (SF S. 108)

Die Welt des Denkens ist nur die Fortsetzung dieses Kontinuums: "Das Abstraktionsvermögen ist das Erbe der Natur in uns. Wir sind selbständig geworden, indem wir die symbolische Funktionsweise unserer Körper nach außen getragen haben - in die Kultur." (AF S. 129)

Doch hat dieser große Bogen auch einen Rücklauf, den wir ernst nehmen müssen: "Aber wenn die archaischen Gesellschaften recht haben und alles Kulturelle in der Tiefe eine Ökologie ist, die uns mit der Natur verbindet, dann vernichtet Naturzerstörung letztlich immer die Gesellschaft. Auch in unserem Fall. Ihr Tod wird sich bloß später zeigen.“ (AF S. 129-130) "Kurzum: Wir müssen Natur bewahren, weil wir sie selbst sind, und wir müssen Natur bewahren, weil sie alles ist, was wir nicht sind." (AF S. 279)

Tiefgründig ist auch die Auseinandersetzung mit dem Tod: Je mehr wir unser Leben steigern wollen, desto mehr laden wir den Tod ein. "Lebenwollen um jeden Preis ruft den Tod - den Tod anderer Menschen, anderer Wesen, die Auslöschung von Sprachen, Ideen und, am schlimmsten, von Möglichkeiten und Freiheitsgraden - beständig hervor." (L S. 80-81) Deshalb ist Egoismus immer selbstschädigend, und das Interesse an der gemeinsamen Lebenserhaltung und Lebenssteigerung ein Grundmerkmal des Lebens. Weber kritisiert auch die Esoterik in diesem Zusammenhang: "Esoterik ist im Übrigen nur eine weitere sehr menschliche Weigerung, den Tod zu akzeptieren, indem man die Kontrolle über alles übernimmt, in diesem Fall durch die Illusion, das Ganze ‚geistig‘ zu durchschauen und beherrschen zu können." (L S. 65)

Einen Weg, den Bezug zur Natur zu wahren, sieht Weber darin, die Poetik mit der Rationalität gleichzusetzen: "Poesie ist nicht die Ausnahme. Poesie ist der Maßstab unserer Rationalität." (AF S. 111) Deshalb sind seine theoretischen Texte in poetische Erzählungen eingebettet. Er benennt diese Vorgangsweise der Wirklichkeitserfassung als poetischen Materialismus: "Poetischer Materialismus heißt, dass der Sinn in die Körper eingeschlossen bleibt und wir ihn nicht extrahieren können, ohne diese Körper zu beschädigen.“ (L S. 211)

Ich hoffe, dieser schmale Überblick über zwei Bücher von Andreas Weber hat Appetit auf mehr gemacht! Seine erotische Ökologie bietet viele Schätze und Einsichten.

Andreas Weber: Alles fühlt. Mensch, Natur und die Revolution der Lebenswissenschaften. Berliner Taschenbuchverlag 2007 (zit. als AF)
Andreas Weber: Lebendigkeit. Eine erotische Ökologie. München: Kösel 2014 (zit. als L)

Die Homophobie und die darwinistische Ideologie

Vor ca. 150 Jahren begann der Darwinismus den kulturellen und wissenschaftlichen Raum mit großem Erfolg zu erobern. Lange Zeit bekämpft vor allem von religiös geprägten Wertvorstellungen, ist mittlerweile der Gedanke der Evolution der Arten zum Allgemeingut der öffentlichen Meinung geworden. Auch die Theorie der Selektion, bekannt unter dem Motto „survival of the fittest“ – das Überleben der „Passendsten“, wird weithin akzeptiert.
 
Der sogenannte Kreationismus, der, ausgehend von konservativen bis fundamentalistischen religiösen Kreisen in den USA, versuchte, den Einfluss des Darwinismus zurückzudrängen, blieb dagegen marginal und ohne Chance, weil Behauptungen, Fehlschlüsse und Glaubensannahmen gegen wissenschaftliche Fakten in unserer Gesellschaft schlecht aussteigen.

Der Darwinismus hat sich nicht nur wegen seiner wissenschaftlichen Grundlagen,  sondern auch wegen seiner Allgemeinverständlichkeit als eine führende Realitätskonstruktion durchgesetzt: Das Überleben der "Fittesten", der "Tauglichsten", und die Höherentwicklung der Arten orientiert an den Notwendigkeiten der Anpassung an die jeweiligen Unterschiede kann viele Phänomene in der Natur zutreffend erklären.

Er passt allerdings auch in den Kontext des modernen materialistischen Bewusstseins. Wir kennen den Gedanken der Konkurrenz, in der sich der "Beste" durchsetzen soll, aus dem tagtäglichen Leben in einer leistungsorientierten Gesellschaft. Wir sind auch mit dem Gedanken der Auswahl vertraut, sind vielleicht vorsichtig geworden, den Gedanken der Auslese allzu unbedacht zu verwenden. Wir teilen weitgehend den Glauben an die genetische Determination, auch wenn dieser nicht mehr dem Stand der wissenschaftlichen Diskussion entspricht. So dient der Darwinismus als eine der Leitmodelle unserer Gesellschaft. „Die darwinistische Ideologie kennt keine Werte außer der egoistischen Gier, und sie rückt diese in den Status eines Naturgesetzes.“ (Andreas Weber, Alles fühlt, S. 19)

Die Natur kann jedoch nicht nur über das deterministische darwinistische Modell verstanden werden. Natur ist mehr als der Kampf der Arten ums Überleben. Natur ist auch kreativer Überschuss. Z.B. zeigen Tiere Verhaltensweisen, die sich durch die Evolutionstheorie nicht erklären lassen, vielmehr nach ihr überhaupt keinen Sinn ergeben. Sie spielen und tollen herum, entwickeln Varianten ihres Bewegungsrepertoires oder ihrer vokalen Ausdrucksmöglichkeiten, die keine Bedeutung haben für das individuelle Überleben noch für das der Gattung. Selbst die Entwicklung der feinen Unterschiede bei unterschiedlichen Blättern von Bäumen lässt sich auf darwinistischer Grundlage nicht erklären. Ein Nachtigallenmännchen singt bis zu 22 Stunden am Tag, bloß um einem evolutionären Zweck zu dienen?


Gender-Variabilität


Was die Geschlechtlichkeit des Menschen anbetrifft, gibt es auch da die großzügige Variabilität der Natur. Sie produziert gerne Fülle und Überschuss, und kümmert sich viel wenig um die Überlebenschancen aller ihrer Produkte als wir aufgrund unserer darwinistischen Prägungen vermuten. Es genügt, wenn eine bestimmte Menge von Lebewesen bis zur Fortpflanzung gelangt, damit die Natur als ganze weiterbestehen kann. Die Variabilität ist dafür eine notwendige Voraussetzung. Je mehr Unterschiede entstehen, desto mehr unterschiedliche Umweltbedingungen können ausgehalten und verarbeitet werden.

Von dieser Arten-, Unterarten- und individuellen Vielfältigkeiten ist auch die menschliche Sexualität nicht ausgenommen. Es gibt auch in diesem Bereich unterschiedliche Orientierung in einem breiten Spektrum. Nur wenige von ihnen sind im darwinistischen Sinn erklärbar: z.B. ergibt die homosexuelle Orientierung in Hinblick auf den Imperativ des Weiterbestehens der eigenen Art keinen Sinn, weil sie die Erzeugung von Nachkommen nicht beinhaltet.

Fast alle frühen Gesellschaftsformen haben die Homosexualität strikt abgelehnt, verfolgt und verfemt, obwohl das Phänomen in allen Kulturen ziemlich regelmäßig vorkommt, völlig unabhängig von der Härte der jeweils angedrohten Strafen. In einfachen tribalen Zusammenhängen mag das verständlich sein: das Überleben des Stammes ist von möglichst vielen gesunden Nachkommen abhängig, deshalb muss der geschlechtlichen Fortpflanzung ein wichtiger Stellenwert eingeräumt werden, und alles, was dem Weiterbestehen der Gemeinschaft nicht dient, muss verboten werden.

Die höher entwickelten  Gesellschaften haben diese Sichtweise aus pragmatischen Gesichtspunkten aufgegeben. Es gibt eine genügend große Zahl von heterosexuellen Personen, die das Weiterbestehen der Gemeinschaft garantieren. Zudem herrschten in Gesellschaften mit beschränkten Ressourcen ständische Einschränkungen der Fortpflanzung, die z.B. die Heirat an Besitz knüpften, sodass legitimer Nachwuchs nur bei begüterten Familien möglich war. Dennoch blieb die Homosexualität verboten.

Der steigende Wohlstand und die Verallgemeinerung der Eheschließung seit der Industrialisierung führten zu einem rasanten Wachstum der Bevölkerung. Der Fortbestand der eigenen Gattung ist seither kein objektives Problem mehr, sondern die Frage, wie die große Zahl von Menschen auf dem Planeten ernährt werden kann. Deshalb haben demographische Argumente gegen die Homosexualität keine Basis mehr.

Die Entwicklung der allgemeinen Menschenrechte seit der Aufklärung führte konsequenterweise zur Anerkennung des Rechts auf die Wahl der eigenen geschlechtlichen Orientierung, der Freiheit, diese auch zu praktizieren, und zum Verbot von Diskriminierungen. 1990 wurde die Homosexualität von der WHO aus der Liste von psychischen Erkrankungen gestrichen. Gleichzeitig steigt seit einigen Jahrzehnten die Akzeptanz für gleichgeschlechtliche Partnerschaften in den westlichen Gesellschaften an. So ist es nur eine Frage der Zeit, dass in immer mehr Ländern die gesetzliche Gleichstellung mit heterosexuellen Partnerschaften vollzogen wird. Dort, wo es noch nicht der Fall ist, wird darüber diskutiert, und es ist damit zu rechnen, dass zunehmend liberalere Regelungen eingeführt werden.


Homophobie oder Hass auf Gleichgeschlechtlichkeit


Umso erschreckender wirken Berichte über Gewalttaten gegen Homosexuelle, die für gleiche Rechte demonstrieren oder paradieren, wie kürzlich in der Ukraine, vor einiger Zeit in Serbien und Polen. Sind es nur Ängste vor einer latenten eigenen Homosexualität, die Menschen aggressiv auf Homosexualität machen?

Die klassischen homophoben Ideologien taugen nicht mehr. Im Hintergrund wirkt vermutlich zusätzlich das popularisierte darwinistische Modell, mit dem solche Menschen unbewusst ihre gewalttätigen homophoben Impulse rechtfertigen. Sie meinen, damit auf der Seite der Stärkeren zu sein, die zum Überleben ausersehen sind, und das gibt ihnen das Recht, auf die Schwächeren loszugehen. Wer in der Lage ist zuzuschlagen, kann sich dem Geschlagenen überlegen fühlen und ihn zugleich verachten.


Darwins Entideologisierung


Neben der Verurteilung von jeder Form von Homophobie müssen wir uns auch für die missbräuchliche Verwendung darwinistischer Hypothesen sensibilisieren. Charles Darwin war Wissenschaftler, und die Wissenschaft schreitet in ihren Erkenntnissen weiter, damit lassen sich Ideologisierungen von Hypothesen aus den Angeln heben. Darwins Evolutionstheorie wurde auch auf das Soziale übertragen, allerdings in sehr eingeschränkter biologischer Sicht und mit einer falschen Übersetzung der Selektionstheorie: Es sollen nicht die „Fittesten“ überleben, sondern die „Stärkeren“. Dieser Sozialdarwinismus wurde zu einer der Grundlagen der nationalsozialistischen Ideologie des deutschen Herrenmenschen, die damit ihre massiven Gewaltverbrechen legitimierte, die sich auch gegen Homosexuelle richtete. Der Sozialdarwinismus hat weitgehend die kulturelle Dimension der menschlichen Evolution ausgespart und damit zur einseitigen Sichtweise der Nazis beigetragen. 


Literatur zur Darwinismuskritik:
Andreas Weber: Alles fühlt. Mensch, Natur und die Revolution der Lebenswissenschaften. Berliner Taschenbuchverlag 2007



Sonntag, 7. Juni 2015

Vom Anfang und vom Ende der Sinnfrage

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Ein Leben ohne Sinn kann zwei Hintergründe haben: Jemand findet keinen Sinn oder jemand braucht keinen Sinn. Dazwischen liegt wohl ein großer Unterschied.

Ein Leben, indem kein Sinn gefunden werden kann, scheint etwas vom Schlimmsten zu sein, was uns widerfahren kann. Der Sinn gibt dem Leben die innere Verbindung. Ohne Sinn wäre das Leben leer und schal, flach und hohl. Das Prädikat "sinnlos" steht für das Ende der lebenswerten Welt, für das Ende des Menschseins. Was sinnlos ist, soll man lassen, eine sinnlose Aktion soll man beenden, ein sinnloses Leben braucht nicht weitergeführt zu werden. Deshalb ist eine Antwort auf die Sinnfrage, was also dem Leben Sinn geben könnte, was also die Leere auffüllen könnte, von existenzieller und konstitutiver Bedeutung.

Viktor Frankl, der Begründer der Logotherapie, stellte die Sinnfrage in das Zentrum seiner theoretischen und praktischen Arbeit. Er war der Meinung, dass die Frage nach dem Sinn des Lebens als Ausdruck des Menschseins schlechthin gelten kann. Es gehöre zum Menschsein dazu, seine Existenz, sein Sein als fragwürdig zu erleben. Menschsein hieße auch, die ganze Fragwürdigkeit des Seins zu erfahren.

Hier wird im Weiteren erörtert, ob diese "Existenzialisierung" der Sinnfrage stimmen kann: Nach dem Sinn des eigenen Lebens und des Seins als Ganzem zu fragen, wäre ein Grundzug des Menschseins. Jemand, der sich die Frage nicht stellt, wäre demnach als Mensch nicht vollständig, etwas Wesentliches würde fehlen.

Jeder Mangel an Sinn entsteht aus dramatischen Brüchen im Leben und ist deshalb eine Folge von Traumatisierungen. Mit einem Trauma wird die unmittelbare Verbindung zum Leben zerschnitten und abgetrennt. Gelingt es danach nicht oder nur eingeschränkt, die Beziehung zum Leben wieder aufzunehmen, kann ein Zweifel am Leben erwachsen. Die Seele versteht nicht, wie etwas so schwer Verletzendes und Zerstörendes wie ein traumatisierendes Erlebnis stattfinden konnte. Da kann etwas nicht in Ordnung sein mit diesem Leben, da fehlt etwas Grundlegendes.

Die Erfahrung der Sinnlosigkeit oder der Sinnleere kann sich als furchtbarer innerer Zustand äußern. Viele depressive Menschen berichten von einem solchen Gefühl der Leere, das mit Antriebslosigkeit, Interesselosigkeit und zugleich rastloser Unruhe verbunden ist. Es ist, als wäre das Innere auf einer panischen Suche, ohne zu wissen, wie es suchen könnte, was es sucht und wo es zu finden wäre.  Gesucht wird eine Verbindung zum Leben, aber gefunden wird nur das Abgeschnittensein davon. Diese Spannung macht den depressiven Zustand so unerträglich.

Die Anbindung an das Leben, oder das Verbundensein mit dem Leben, haben wir hier als den Zustand des Fließens bezeichnet. Er besteht darin, dass es keine Trennung gibt zwischen dem, was lebt, und dem, was erlebt. Diesen Zustand kennen Babys und Kleinkinder. Sie sind im unmittelbaren Erleben. Mit dem Zugewinn an Reflexionsfähigkeit im Lauf des Aufwachsens wird dieser Zustand überlagert von den Mechanismen des Denkens. Unser Verstand ist in der Lage, alles, was es gibt, in Frage zu stellen. Er wirft damit beständig die Sinnfrage auf: Macht es einen Sinn, aufzustehen in der Früh, macht es einen Sinn, die Zähne zu putzen usw. Alles, was geschieht oder getan wird, braucht einen Grund, um in Gang zu kommen, und jeder dieser Gründe kann wieder in Frage gestellt werden.


Die Sinnfrage als Krankheitssymptom


Von da an wird das Leben vom Denken regiert. Ab diesem Zeitpunkt könnte man sagen, dass es ein Glücksfall ist, wenn das Denken nicht so mächtig wird, dass es die Beziehung zur Fließerfahrung des Lebens total oder nur partiell abschneidet. Es könnte jederzeit und jeder Person passieren, und es passiert auch immer mehr Menschen: Depressionen sind rapide im Ansteigen begriffen und werden nach Berechnungen in einigen Jahren zur Volkskrankheit Nummer zwei. Tatsächlich sind es nicht einfach Zufälle, die die Einheit mit dem Leben zerstören, sondern gravierende Lebenserfahrungen, die nicht verarbeitet werden konnten, und davon ausgelöste Störungen der inneren Entwicklung.

Die Sinnfrage ist also ein Krankheitssymptom. Sie ist ein Ausfluss des Fragens, eine Folge der Macht, die das Denken zur Lebensbewältigung im Erwachsenenleben einnimmt. Und deshalb genügt es auch nicht, die Frage im Denken, also intellektuell, zu beantworten. Das Denken kann dazu dienen, die eigene Last zu erleichtern, indem es sich selbst und seine Grenzen reflektiert. Es kann sich selbst immer wieder in die Schranken weisen und seine eigenen Auswüchse eindämmen. Es kann sich aber nicht selber stilllegen.

Soll ein Ausweg aus der Falle des Denkens gelingen, braucht es auch die Mitwirkung der Gefühle. Solange aus dem Gefühlsbereich Ängste hochsteigen, nutzt die intellektuelle Anstrengung überhaupt nichts. Denn Ängste sind die Wurzel der Fragen: Was, wann, wo, wer, wie? Unsicherheiten lösen die Denktätigkeit aus, und unser Hirn soll wieder Sicherheit herstellen.

Das Sinnerleben wird sich dabei nicht einstellen, denn diese ist eine holistische Erfahrung, die alle Ebenen des Menschseins miteinschließt. Dazu müsste sich das Innere befrieden und die rastlosen Gefühle zur Ruhe kommen. Erst wenn sich die Ängste zurückgezogen haben, kann das Leben wieder fließen.

Der Widerstand gegen das Leben, also gegen das, was in jedem Moment gerade geschieht, sei es innerlich oder äußerlich, ist es, wodurch das sinnerfüllte Erleben verloren geht. Deshalb führt der Weg über das Akzeptieren dessen, was ist.

Gründe für das zu erfahren, was ist, kann uns helfen, zu akzeptieren. Wenn wir erfahren, dass ein Unfall passiert ist, tun wir uns leichter, den Stau zu akzeptieren. Wenn wir erfahren, dass wir einer viralen Ansteckung erlegen sind, können wir unsere Krankheit leichter ertragen als wenn wir über keine Diagnose verfügen. Wenn uns mitgeteilt wird, dass es beim Einladen der Koffer Probleme gibt, geht es uns besser, eingeklemmt und angeschnallt im Flugzeug zu sitzen und zu warten, bis die Reise losgeht. Durch die Kenntnis von Gründen können wir Ereignisse in einen Zusammenhang stellen und bekommen dadurch das Gefühl, handlungsfähig zu sein, also zu meinen, dass wir etwas tun können, auch wenn wir gar nichts tun können. Dann können wir uns ein wenig entspannen, indem wir den Widerstand gegen das, was ist, ein Stück aufgeben.

Doch bleiben wir auch durch das Verstehen von Gründen noch im Verstand, und die Gefühle, die wir brauchen, um mit dem Leben wieder im Reinen zu sein, stellen sich damit noch nicht automatisch ein.

Das Verschwinden der Sinnfrage


Wer die Sinnfrage stellt, will eigentlich wieder mit dem Leben in Einklang kommen. Die Frage kann ihn auf den Weg führen zu erkunden, wie er die Unschuld des Paradieses verloren hat und wie die Selbstverständlichkeit wieder gewonnen werden kann. Bei dieser Erforschung werden Bruchstellen auftauchen, an denen die Einheit mit der Wirklichkeit auseinandergefallen ist.

Das Ziel der Suche liegt allerdings dort, wo das Fragen aufhört, weil der Sinn in jedem ist, was geschieht, ob wir danach fragen oder nicht. Wenn die Bruchstellen geheilt sind und das Leben überall fließen kann, wo es gestaut war, verschwindet die Sinnfrage von selber.

Wenn also die Anbindung an das Leben, in welcher Form auch immer, gefunden werden kann, hat das Leben Sinn. Genauer gesagt, es wird deutlich, dass der Sinn dem Leben immanent ist oder mit ihm identisch ist. Das Leben fragt sich nicht selber, ob es Sinn hat, ebensowenig wie der Mond, wenn er sich um die Erde dreht oder die Rose, ob sie aufblühen soll oder doch nicht – ebenso wie wir uns an guten Tagen nicht fragen, ob es Sinn macht, aufzustehen oder diese und jene Arbeit zu verrichten.

Die Sinnfrage brauchen wir dann nicht mehr mit einer Grundeigenschaft des Menschen in Verbindung zu bringen. Sie dient uns als Hinweis auf Bruchstellen, an denen wir uns mit dem Leben entzweit haben. Sie zeigt uns, wo wir hinschauen müssen, dass wir wieder ganz werden. Denn wir haben nicht wirklich ein Grundbedürfnis nach Sinn, sondern vielmehr nach Ganzheit, die den Sinn in sich beinhaltet.