Sonntag, 31. August 2014

Warum die Geburt im Krankenhaus gelandet ist

Das Gebären von Kindern ist keine Krankheit. Im Gegenteil, es ist ein Prozess, der das Leben weiterbringt, fördert und vermehrt. Deshalb scheint es seltsam, dass es zu einem Teil des Krankenhauslebens wurde - Hospitäler erfunden zur Heilung von Kranken. Die Hausgeburt ist in den reichen Ländern zu einer seltenen Ausnahme geworden, und in den Entwicklungsländern gehen alle, die es sich leisten können, zur Geburt ins Spital.

Um diese Entwicklung zu verstehen, sollten wir drei Aspekte bedenken, die offensichtlich dabei zusammenarbeiten, dass die Geburt auf der ganzen Welt in den letzten Dekaden in die Krankenhäuser überführt wurde.

Erster Gesichtspunkt: Das medizinische Establishment hat mehr Einfluss in der Gesellschaft gewonnen, seit es begonnen hat, mit der modernen Wissenschaft zusammenzuarbeiten. Die Menschen vor Risiken zu schützen wurde ein wichtiges Ziel von Politik und Gesellschaft, und die auf Wissenschaft beruhende Medizin bot ihre Dienste zu diesem Zweck an. Da sie sich auf großartige Erfolge bei der Bekämpfung und Ausrottung vieler Krankheiten berufen konnte, stellte sie ihre Macht unter Beweis, Menschen bei der Verbesserung ihres Leben zu helfen und Risiken zu minimieren. Schließlich übernahm sie auch die Rolle, bei der Geburt die beste Versorgung für Mutter und Kind bereitzustellen - wo sollte es da noch ein Risiko geben, wenn alle Experten mit ihren Instrumenten und Maschinen da sind, während ein Kind geboren wird?

Zweiter Gesichtspunkt: Das Anwachsen von Stress in der modernen Gesellschaft hat besonders auch die Geburt als sehr sensible Lebensphase betroffen. Dazu hat die Verbreitung von unsicheren Bindungsmustern zwischen Eltern und Kindern eine Atmosphäre von Unsicherheit rund um das Gebären bewirkt, sodass schwangere Frauen immer mehr ihren Instinkten misstrauen und statt dessen den Ärzten das Vertrauen entgegen bringen, besser zu wissen, was es bei der Geburt eines Kindes braucht.

Dritter Gesichtspunkt: Das ökonomische System des Kapitalismus beruht auf der Ausbeutung der menschlichen (und natürlichen) Ressourcen. Es benötigt Menschen, die an Stress gewohnt sind. Deshalb ist es im Interesse dieses Systems, dass die Menschen ihr Leben unter gestressten Bedingungen beginnen.


Der Patriarchalismus und die Entfremdung der Geburt


Hebammen haben im Lauf der Geschichte zunehmend ihre unabhängige Rolle als Expertinnen der Geburt verloren. Sie wurden zwar in den medizinischen Apparat aufgenommen, zwischen den Ärzten und den Müttern, aber den universitär ausgebildeten Medizinern untergeordnet.

Es ist eine eigenartige Entwicklung, dass die in der Mehrzahl männlichen Ärzte zu den Experten der Geburt gemacht wurden, während die weibliche emotionale und intuitive Weisheit von Müttern und Hebammen abgewertet wurde, die immerhin während Millionen von Jahren gut genug war, um die Weitergabe des menschlichen Lebens zu gewährleisten. Dabei handelt es sich wohl um einen späten Sieg des Patriarchalismus, nicht nur über das traditionelle weibliche Wissen von der Geburt, sondern auch über die Natur als Ganzer. Die Geburt wurde aus ihrer natürlichen Umgebung herausgelöst und in die künstliche Atmosphäre der Spitäler überführt. So entsteht das neue Leben bereits in maximaler Distanz zur Natur. (Man braucht nur ein modernes Spital zu besuchen, um diese Distanz zu erleben, z.B. gibt es im Wiener Allgemeinen Krankheit kaum Räume, die Zugang zum natürlichen Licht haben.

Diese Ärzte haben keine Ausbildung in emotionalem und intuitivem Wissen, sondern nur darin, wie wissenschaftliche Daten überwacht und "bewiesene" Methoden angewandt werden, die gefährliche Situationen verhindern oder bewältigen sollen. Obwohl bei weitem die meisten Verfahren, die in Spitälern angewendet werden, niemals wissenschaftlich geprüft wurden, wirkt die magische Kraft des weißen Mantels, um den Ärzten die führende Rolle bei der Geburt anzuvertrauen, die ihnen von den Müttern und von der Gesellschaft als ganzer zugeschrieben wird. Werdende Mütter vernachlässigen ihre Intuition und ihre Erfahrungen aus neun Monaten Schwangerschaft zugunsten des überlegenen Wissens von studierten Doktoren. Deshalb wird die Geburt von Menschenwesen immer weniger emotional, empathisch und intuitiv und statt dessen standardisiert und mechanisiert, ähnlich eher einer Geburtsfabrik oder einer hochriskanten Operation als einem mystischen Prozess als Wunder der Natur.

Folglich darf es nicht verwundern, dass sich die Kaiserschnittgeburten in den vergangenen Jahrzehnten sprunghaft vermehrt haben, weit über das medizinisch notwendige Maß hinaus. Medikation und chirurgische Eingriffe wurden zu routinemäßigen Prozessen bei der Geburt. Neue Risiken entstehen wegen der mechanisierten und sterilisierten Umgebung der Spitäler. Kinder werden in eine Welt von Maschinen, künstlichem Licht und gestressten Menschen hineingeboren. Angst ist die einzige Emotion, die im sterilen Kreißsaal zugelassen ist. Jede Spur von Natur wird sorgfältig entfernt und draußen gelassen, sodass das Baby in dieser keimfreien Atmosphäre keine Chance hat, mit der Natur in Kontakt zu treten.


Stress und unsichere Bindung


Unter diesen Umständen ist es extrem schwierig, dass Mutter und Vater eine liebevolle Bindung zum Kind aufbauen. Denn Gefühle werden, so gut es nur geht, ausgeschlossen. Der ganze Apparat ist nicht daran interessiert, emotionale Bedürfnisse zu erfüllen, sondern nur darin, sich um mögliche Risiken zu kümmern, die von außen beobachtet und gemessen werden können.

Der hinter dieser Entwicklung stehende Trend hat mit der Emanzipation der Frauen aus ihrer traditionellen Rolle als Hausfrauen und Kindererzieherinnen zu tun. Indem sie die Welt der Lohnarbeit betreten haben, übernahmen die Frauen auch den externen Stress, der den Kapitalismus regiert. Sie mussten diesen Schritt aus dem grundlegenden Bedürfnis heraus machen, die schicksalhaften Entbehrungen einer hoffungslos verarmten Schicht, durch die Geburt zugeschrieben, hinter sich zu lassen. Wollte eine Familie diesem Los entrinnen, bot die Industriegesellschaft des 19. Jahrhunderts (in Europa und Nordamerika) und später in anderen Teilen der Welt die Möglichkeit der bezahlten Fabriksarbeit. Das Einkommen des Familienvaters alleine war nicht ausreichend, um die Mittel für Überleben und Unterhalt zu erarbeiten. Deshalb haben die Mütter begonnen, ins Arbeitsleben einzusteigen, um ein besseres Leben zu erreichen und der Armut zu entrinnen. Der Preis lag darin, dass die Frauen den Stress der modernen Arbeitswelt übernommen haben, der zu den Belastungen durch das Kindererziehen und der Haushaltsführung dazu kam. Dieser Stress ist anderes als der Stress, der die älteren landwirtschaftlichen Gesellschaften prägte.

So werden also die Kinder in eine Umwelt voll von industrialisiertem Stress hineingeboren. Von früh an sind sie dem Stress ausgesetzt und chronifizieren ihn unbewusst, bis sie ihn an die nächste Generation weitergeben. Babys, die sich schon in ihrer pränatalen Zeit an Stress gewöhnen mussten, werden dann unter Stress geboren. Mütter, deren eigene Pränatalzeit und Geburt von Stress geprägt war, werden dann wieder mit großer Wahrscheinlichkeit ihre Kinder mit Stress gebären.

Gestresste Geburten führen zu belasteten Beziehungen zwischen Mutter und Kind. Medikation, Operationen und Kaiserschnitte haben massive Einflüsse auf Mutter und Kind. Die emotionale Energie, die notwendig ist, um mit diesen Belastungen zurecht zu kommen, reduziert die Möglichkeiten, eine sichere Bindung von beiden Seiten aufzubauen. Deshalb kann die Hospitalisierung der Geburt zur Entwicklung von unsicheren Bindungsmustern führen, die sich in Gewohnheitsmustern von vermeidenden oder ambivalenten Beziehungen im späteren Leben ausprägen, bis sie dann der nächsten Generation weitergegeben werden.

Solche Muster verringern die Fähigkeit des empathischen Beziehens. Es fällt schwer, die Bedürfnisse von anderen sowie von sich selbst zu spüren. Der Fokus ist nach außen gerichtet, sodass Hilfe vor allem von dort erwartet wird. Mütter, die während ihres Lebens und besonders auch während ihrer eigenen Geburt durchlebt haben, fühlen sich in Bezug auf das Gebären inkompetent. Deshalb suchen sie Unterstützung bei externen professionellen Helfern, bei Experten, insbesondere bei Ärzte in ihrem weißen Kittel.


Von Anfang an Stress verinnerlichen


Von der anderen Seite betrachtet, benötigt eine Gesellschaft, die von den ökonomischen Werten des Kapitalismus beherrscht wird, arbeitende Menschen, die ein Maximum an Stress aushalten und bereit sind, ihre Lebenssubstanz bis zum Punkt der Erschöpfung herzugeben. Der Kapitalismus, der vom Drang nach Profitmaximierung angetrieben wird, hat die unvermeidliche Tendenz, alle Ressourcen auszubeuten, die menschliche Lebensenergie eingeschlossen. Ausbeutung erzeugt Stress, und die Welt des Kapitalismus toleriert nur Menschen, die bereit sind, alles zu geben, und die abgehärtet genug sind, um mit ausufernden Forderungen zurecht zu kommen und die mit den Kompensationen, die das System anbietet, leben können.

Also braucht der Kapitalismus Menschen, die an Stress gewöhnt sind, sodass sie nicht bemerken, wann sie die Grenzen ihrer Gesundheit überschreiten. Solche Menschen werden geschaffen, wenn ihr Leben unter Stress und Belastung beginnt. Auf diese Weise wird der Stress internalisiert und damit chronifiziert. Das sind die optimalen Startbedingungen für eine Welt der Ausbeutung und der exzessiven Anforderungen.

Mit der Internalisierung von Stress ist folgendes gemeint: Wenn die äußerliche Quelle für Stress nicht mehr existiert, wie die Peitsche in der Sklavenhaltung, wird der Stress im Inneren aufgebaut. Die innere Peitsche entsteht: Du bist nicht gut genug, du musst mehr arbeiten, du musst bessere Leistungen erbringen. Ein Kind, das in der sterilen Umgebung eines Spitals geboren wurde, muss schnell alle Erwartungen aufgeben über das, was es als wesentlich und als normal ansieht: Eine Mutter, voll des Staunens und der Freude über ihr Kind, Menschen um sie herum, die ihre Bedürfnisse sowie die des Babys unterstützen, in einer liebevollen und fürsorglichen Atmosphäre. Statt dessen regiert der Stress, und das Baby muss mit diesem Stress umgehen, indem es selbstabwertende Annahmen über sich selbst trifft: Ich bin nicht gut genug für diese Welt, um zu empfangen, was ich brauche und verdiene. Ich muss mich verbessern, ich muss mich ändern. Wenn der Kapitalismus eine Person wäre, würde er ausrufen: "Ja, genau so will ich dich, du bist willkommen in der Welt der Ausbeutung!"


Zurück zur Natur in der Geburt


Es gibt also zwei Seiten, die bei der Hospitalisierung der Geburt zusammenarbeiten: die soziale Dynamik des Zeitalters der modernen Industrialisierung als einer objektiven Macht, und der Drang von Menschen, sich ein besseres und sichereres Leben im Rahmen dieses ökonomischen Systems zu schaffen, was die subjektive Seite für diesen Prozess darstellt. Die Wissenschaft spielt dabei eine scheinbar unschuldige Rolle, indem sie diese Entwicklung mit Fakten unterstützt, die die Notwendigkeit der Spitalsgeburt unterstreichen sollen. Aber indem die emotionalen und relationalen Folgen dieser Entwicklung ignoriert werden, dient sie bloß den Interessen der kapitalistischen Gesellschaft.  Die Wissenschaft wird zur kognitiven Absicherung und Affirmation der Instrumentalisierung der Geburt und hat deshalb den Charakter einer Ideologie mit pseudo-religiösem Einfluss angenommen.

Es muss natürlich erwähnt werden, dass die wissenschaftliche Medizin mitgeholfen hat, die Säuglingssterblichkeit sowie die der Gebärenden sowie andere Gefahren bei der Geburt zurückzudrängen. Aber sie hat auch zu einer Steigerung des emotionalen Stresses beigetragen, mit anderen negativen Auswirkungen auf die körperliche und emotionale Gesundheit mit Langzeitfolgen.

Um den Teufelskreisen zu entkommen, die durch die Institutionalisierung der Geburt entstehen, muss "die Natur" so viel wie möglich in den Geburtsvorgang zurückgebracht werden: Natur in Form von emotionaler Intelligenz und uraltem weiblichem Wissen und Können, sowie in der Form einer freundlichen und entspannten Umgebung. Dann kann die normale Geburt wieder zur Norm werden, nämlich eine Geburt ohne Bedarf an institutionaliserter Hilfe, sondern einfach ein Wunder der Natur, die ein wunderschönes neues Lebewesen erschaffen hat, gefeiert von offenherzigen Menschen.



Vgl. Kaiserschnitt als Geburtsmethode

Gleichheit und soziale Sicherheit

Soziale Gleichheit hat unterschiedliche Bedeutungen, die aus verschiedenen Bewusstseinsstufen stammen. Wenn wir uns die entsprechenden Zuordnungen klarer machen, können wir uns besser mit dem Gleichheitsbegriff in der Gesellschaft bewegen und uns innerhalb unserer sozialen Beziehungen orientieren. Außerdem können wir uns darüber klarer werden, welche Form von Gleichheit wir wollen und für welche wir in der gesellschaftspolitischen Diskussion eintreten. Hier wird der Gleichheitsbegriff besonders in Verbindung mit der sozialen Sicherheit betrachtet. Denn ursprünglich liegt die Begründung für die Sicherheit jedes Mitglieds der Gesellschaft in der Gleichheit der Zugehörigkeit, wie im Folgenden erläutert wird.

Die Grundlage unseres Gleichheitsempfindens wurde in den frühesten Formen der Sozialerfahrung in Stammesgesellschaften gebildet. Die tribale Gleichheit besteht darin, dass jedes Mitglied des Stammes seinen Platz hat und selbstverständlich dazugehört. Es gibt keine Unterschiede in der Zugehörigkeit, auch wenn in anderen Hinsichten unterschieden wird - zwischen Männern und Frauen, zwischen Alten und Jungen, zwischen Erfahrenen und Unerfahrenen usw. Jedes Stammesmitglied bringt seine Kräfte und Fähigkeiten zum Wohle aller mit ein und bekommt seinen gerechten Anteil an den Ressourcen. Im Stamm wird auch auf die Schwächen jedes Einzelnen geschaut, sodass, wenn notwendig, die Stärkeren die Schwächeren unterstützen. Jedes Stammesmitglied weiß, dass das Ganze und somit jeder Einzelne nur durch Zusammenhalt Bestand haben kann.

Gleichheit und Bindungssicherheit


Wir tragen dieses Empfinden des Zusammenhalts und der selbstverständlichen Zugehörigkeit und Gleichheit in uns, und es wird in jeder Familie wieder neu begründet. Dort hat sich das Sozialgefühl der Stammesgesellschaften noch erhalten. Jedes Baby, das in eine Familie hinein geboren wird, trägt dieses Gefühl als Erwartung an sichere und verlässliche Bindungen und an einen selbstverständlichen Platz in sich und bringt es seinen Bezugspersonen entgegen, sobald es das Licht der Welt erblickt.

Es trifft auf Menschen, die gelernt haben, sich in der komplexen Sozialwelt der Moderne zu bewegen, und deren ursprünglicher Gleichheits- und Gerechtigkeitsbegriff viele gewollte und ungewollte Modifikationen erfahren hat. Sie haben im Lauf ihrer Lebensgeschichte ihre emanzipativen Kräfte (zweite Bewusstseinsstufe) nutzbar gemacht und zugleich gemäß den Bedürfnissen von hierarchischen Organisationen (dritte Bewusstseinsstufe) eingedämmt. Sie haben erfahren, wie soziale Sicherheit an verschiedene Bedingungen geknüpft ist und immer wieder erworben werden muss.

Die Folge ist, dass es in unserer Gesellschaft keine selbstverständliche Bindungssicherheit mehr gibt. Was die tribale Ebene anbetrifft: Es gibt nur mehr statistisch schwächer werdende Wahrscheinlichkeiten, dass die Eltern als Paar zusammenbleiben, und schwindende Glücksfälle, in denen die Eltern genügend qualitative Zuwendung und Zeit für ihre Kinder zur Verfügung haben. Im Familiengefüge der (post)industriellen Welt sind die sozialen Sicherheiten, die Kinder brauchen, durch eine Vielzahl von individuellen und kollektiven Stressfaktoren zunehmend geschwächt. Beziehungen zwischen Familienvätern und -müttern sowie zwischen Eltern und Kindern sind nicht mehr von einer selbstverständlichen Sicherheit geprägt, sondern vielfachen Belastungen und Bedrohungen ausgesetzt.

Gleichheit in unterschiedlichen Gesellschaftsformen


Auf der makrogesellschaftlichen Ebene bildet sich diese Bindungsunsicherheit in unterschiedlichen politischen Ordnungsvorstellungen ab. Zugehörigkeit als Voraussetzung von Gleichheit wird je nach den zentralen Ideen der einzelnen Bewusstseinsstufen definiert. In der hierarchischen Ordnung z.B. ist die Zugehörigkeit durch die Geburt festgelegt und bleibt einem Individuum relativ starr zugeordnet. Die soziale Sicherheit wird in dem Rahmen des Standes gewährleistet. Gleichheit gibt es bestenfalls innerhalb eines Geburtsstandes, sowie auf einer abstrakteren Ebene durch den Einfluss von Hochreligionen auf das Menschsein allgemein ausgedehnt, z.B. durch die Festlegung des Christentums, dass alle Menschen Kinder Gottes sind. Allerdings fällt der Widerspruch zwischen dieser Idee und der extremen Ungleichheit in einer hierarchischen Gesellschaft meist nur dem nachträglichen Beobachter.

Deshalb hat der Begriff der Gleichheit schon lange seine Einfachheit und Eindeutigkeit verloren und ist in vielen vormodernen Gesellschaften gar nicht mehr wahrnehmbar. Es wird deutlich, dass ihn jede Bewusstseinsstufe hat für ihre Zwecke genutzt, um auf jeweils komplexerer Organisationsstufe brüchige Sicherheiten herzustellen.

Wir werden uns jetzt näher mit dem Spannungsverhältnis beschäftigen, das diesen Begriff am Übergang zwischen der materialistischen (vierten) und der personalistischen (fünften) Stufe prägt, da sich hier viele Elemente der aktuellen gesellschaftspolitischen Diskussion zuordnen lassen.

Das Gleichheitsprinzip im Kapitalismus


Der Kapitalismus (= das Wirtschaftssystem, das der vierten Bewusstseinssufe entspricht) verwendet das Prinzip der Gleichheit, das von einem archaischen Grundgefühl der Menschen getragen wird, zur Durchsetzung seiner Ziele. Alle Mitglieder der Gesellschaft werden in ihrer Leistungsfähigkeit gleichgesetzt - und gleichermaßen ausgebeutet. Wer schneller schlapp macht, hat eben draufgezahlt, wer länger durchhält, wird mehr belohnt. Dieses Prinzip wird verinnerlicht, und wer nicht mitkann, wird mit einem sozialen schlechten Gewissen behaftet. Solche Personen sollten sich tunlichst schämen und vor der Öffentlichkeit verstecken. Sie gehören nicht mehr zu einer Gesellschaft von Leistungsträgern, in der das Ausmaß an Zugehörigkeit vom Ausmaß an Leistung abhängt, das jemand beisteuert. Das kann dann schnell bewirken, dass die stigmatisierten Leistungsversager an Depressionen oder anderen psychosomatischen Leiden erkranken, was dann ihre Leistungsfähigkeit und -motivation weiter schwächt.

Der Sozialstaat wurde eingeführt, um die zerstörerischen Auswirkungen des Kapitalismus nicht nur auf einzelne, sondern auch auf den Zusammenhalt der Gesellschaft als ganzer abzumildern. Deshalb wurden Elemente der personalistischen Bewusstseinsstufe in die politische Willensbildung inkludiert. Es wurden Regeln eingeführt, die jedem Mitglied der Gesellschaft ein menschenwürdiges Leben garantieren sollten (z.B. durch Krankengelder, Mindestsicherung, Altersvorsorge usw.). Finanziert wird dieses System durch die Umverteilung von Einkommen mittels Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen.

Die staatliche Sozialpolitik geht dabei von einem differenzierten Menschenbild aus, das jedem Menschen ein Leistungsmotiv zuschreibt, aber Unterschiede in der Leistungsfähigkeit anerkennt, seien diese durch unterschiedliche Konstitution, Schicksalsschläge oder ungünstige Lebensbedingungen bedingt. Es greift insoferne tribale Inhalte auf, sodass es nicht akzeptiert werden kann, dass einzelne Menschen oder Gruppen unter die Räder kommen und vor die Hunde gehen. Ist z.B. eine bestimmte Region massiv von Unwettern betroffen, werden die Menschen nicht einfach sich selbst überlassen, sondern die Gemeinschaft greift helfend ein. Wenn jemand aufgrund einer schweren Erkrankung aus dem Arbeitsprozess ausscheiden muss, erhält er entsprechende Unterstützungen.

Die Faulheit und die Neidgesellschaft


"Trittbrettfahrer" oder "Schmarotzer" des Sozialsystems werden in Kauf genommen, also Menschen, die ihre Leistungsfähigkeit dafür einsetzen, Lücken im Kontrollsystem zu finden, das ihnen ein angenehmes Leben möglich macht, ohne dass sie sich dafür anstrengen müssen. Das System muss beständig danach trachten, einerseits das Netz möglichst dicht zu halten, dass also keine benachteiligte Gruppe durchfällt und dass andererseits die Kontrolle gegen Missbrauch und Betrug effektiv unterbunden werden kann.

Diese sogenannten Leistungsverweigerer sind allerdings keine geborene Faulpelze, sondern wurden durch die Sozialisation dazu "gemacht". Fehlende Anerkennung von früh an, fehlende Förderung weiterhin, fehlende Erfolgserlebnisse und Bestätigungen - mit einer solchen Geschichte ist es schwer, mit Engagement eine eigene Karriere aufzubauen. Misserfolge und Missgeschick können dann dazu führen, dass das geregelte Mittun in der Leistungsgesellschaft nicht mehr klappt.

Die Oszillation zwischen dem Ausbau des Sozialstaates und dem Ausbau der Kontrolle ist auch deshalb wichtig, weil unsere Gesellschaft auch eine Neidgesellschaft ist. Der soziale Neid ist einerseits ein Korrekturmechanismus des fortwährend angestrebten Ausgleichs zwischen dem basalen Gleichheitsanspruch und dessen Individualisierung. Andererseits ist er getragen von den Ängsten der emanzipatorischen Stufe der Bewusstseinsevolution, insbesondere dem Konkurrenzgedanken, der besagt, dass jeder im Prinzip allein für sein Überleben zuständig ist und dafür sorgen muss, und dass folglich der Vorteil des anderen den eigenen Nachteil bewirken kann.

Diese Wildwest-Einstellung, die wir ebenfalls in tieferen Schichten unserer Persönlichkeit in uns tragen, tut sich schwer mit den Komplexitäten des Sozialsystems. Wer sich selber zu den Leistungsträgern, zu den „Anständigen“ und „Fließigen“ zählt, hat sich Argusaugen angewohnt, mit denen die anderen überwacht werden. Gibt es welche, die weniger tun und mehr kriegen? Solche Fälle müssen aufgedeckt und ausgeschaltet werden. Das tribal geprägte Gleichheitsmotiv ist unüberhörbar, es wird allerdings nur selektiv, also wenn es einem selber nutzen könnte, angewendet. Es wirkt nur im Blick nach oben und verhält sich in der anderen Richtung blind: Diejenigen, die selber mehr tun als man selber, aber weniger kriegen, werden ignoriert oder abgewertet ("Wenn jemand so blöd ist", "Jeder kriegt, was er verdient" usw.).

So wirkt also das emanzipative Erbe im Kapitalismus in die Richtung einer selektiven Entsolidarisierung: ausgegrenzt werden sollen jene, die die eigene Stellung in der Gesellschaft bedrohen könnten. Das Neidmotiv hilft bei der Steuerung.

Einerseits hilft diese Einstellung bei der permanenten Verbesserung des sozialen Ausgleichs, weil sie auf mögliches Ungleichgewicht hinweist, andererseits nagt sie am gesellschaftlichen Zusammenhalt. Denn wenn die Unterschiede zu groß und zu offensichtlich werden, entsteht sowohl oben wie unten die Tendenz, sich der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung zu entziehen. Statt dessen entstehen die Netze der Korruption und die Gewohnheiten der Steuerhinterziehung und -verweigerung.

Gleichheit in systemischer Sicht


Um den Gleichheitsbegriff sozial abzufedern und die damit verbundenen Spannungen und Ängste abzubauen, bedarf es systemischer Elemente und Denkweisen. Zum Beispiel tritt auf dieser Ebene die Idee auf, dass es zum Nutzen aller sein kann, wenn die individuelle Schwäche gestützt und ausgeglichen wird. Die Begründung dafür findet sich nicht nur auf der ökonomischen Schiene (auch Arme sollen Mitglieder in der Konsumgesellschaft bleiben), nicht nur im emotionellen Bereich (mehr soziale Absicherung bewirkt mehr soziale Zufriedenheit), sondern auch im Sinn einer Diversität, die jedem Mitglied der Gesellschaft einen Wert zubilligt, gleich in welcher Form der Beitrag zum Ganzen besteht. Für die Zugehörigkeit zur Gesellschaft sollte es keine prinzipielle Rolle spielen, ob dieser Beitrag durch Leistungen erbracht wird, die einen Mehrwert erwirtschaften (bezahlte Arbeit) oder durch Tätigkeiten, die keinen sichtbaren Beitrag zur Steigerung des Sozialprodukts bringen, aber in anderer Weise Wirkung entfalten: Wenn z.B. jemand, der aus irgendwelchen Gründen aus dem Bereich der Arbeitsfähigkeit herausgefallen ist, ein hilfsbereiter und angenehmer Nachbar ist.

Je mehr die Grundtoleranz in der ganzen Gesellschaft wächst, desto mehr sollte die Bereitschaft bei jedem einzelnen Mitglied steigen, einen eigenen Beitrag zum Ganzen beizusteuern. Ein hohes Maß an dieser Toleranz verringert den Druck auf die Menschen, arbeiten und leisten zu müssen, um dazuzugehören. Ohne Druck geht es und fällt es prinzipiell leichter: Ohne Müssen arbeiten und leisten wir mehr und Besseres.

Auf diesem Weg könnte eine systemisch geprägte Gesellschaft die Motive des tribalen Gleichheitsbegriffes auf einem hohen Organisationsniveau verwirklichen und damit ein hohes Maß an sozialer Sicherheit sowohl mit einer Entlastung von Stress für alle und einer Stärkung der Leistungsmotivation verbinden.

Dienstag, 5. August 2014

Alkoholmissbrauch und die Folgen

Die Studie, die die Auswirkungen von Alkoholmissbrauch in Familien auf die Kinder nachgewiesen hat, wurde in einem früheren Blog vorgestellt. 

Kinder aus Familien, bei denen der Alkoholkonsum eine große Rolle spielt, erleben von früh an, wie das Trinken von den Erwachsenen zur Stressentlastung eingesetzt wird. Selber haben sie keine Chance, den Stressoren in ihrer Umgebung zu entkommen, die durch den Alkoholmissbrauch der Eltern ihr Leben von Anfang an belasten. So müssen sie von früh an Stress bewältigen, und übernehmen dann, sobald es geht, den Akohol als Mittel dafür, so wie es ihnen in der Kindheit vorgelebt wurde. 

Der Teufelskreis ist hiemit in Gang gesetzt, in dem die Menschen vom Alkohol sukzessive in Besitz genommen werden und ihre Freiheit und schließlich ihre Würde verlieren. Die innere Anspannung braucht die Droge zur Entlastung, das Trinken produziert über kurz oder lang Probleme, die neue Belastungen nach sich ziehen, woraus wieder der Drang zum Alkoholkonsum entsteht.
 

Die fortschreitende Selbstzerstörung, zu der diese Prozesse führen, werden indirekt von einem Klima der gesellschaftlichen Duldung des Alkoholkonsums unterstützt. Die schrankenlose Zugänglichkeit der Droge, ihre Einbindung in viele Rituale, also die Alkoholkultur, die in unseren Ländern tief im Brauchtum verwurzelt ist, bieten die Rahmenbedingungen für diese dysfunktionale Form der Stressbewältigung und Kompensation von Traumatisierungen und emotionalen Vernachlässigungen.
 

Die Botschaft lautet einerseits: Alkohol ist harmlos, wir alle trinken ihn, und sobald du zu den Großen gehörst, darfst du auch davon trinken. Du darfst auch mal "über die Stränge schlagen" und dich betrinken. Das Alkoholtrinken bestätigt deine Zugehörigkeit, und auch mit dem Vollrausch kannst du beweisen, dass du einer von uns bist. Andererseits: Sobald du eine Grenze überschritten hast, wirst du ausgegrenzt, verachtet und pathologisiert.

Diese Doppelgesichtigkeit der Alkoholkultur bildet den gesellschaftlichen Konflikt ab, der sich darin zeigt, dass die Stressbewältigung gesellschaftlich normiert wird mit Mitteln, die zusätzliche Probleme erzeugen, für die wieder die gesundheitssschädigende Substanz als Bewältigungsstrategie angeboten wird. Wenn jedoch das System zusammenbricht, wenn also die individuelle Bewältigungsstrategie scheitert, lässt zugleich das soziale Netz das Individuum fallen. Damit kann die Alkoholkultur unbeschadet bestehen bleiben, denn es hat ja nur ein Individuum versagt. Der Alkoholiker wird nun Institutionen am Rand der Gesellschaft übergeben, die ihm im besten Fall helfen, die Traumatisierungen der eigenen Lebensgeschichte aufzuarbeiten, während das Trinken im Zentrum fröhlich weitergeht - fröhlich auch deshalb, weil es jemand anderen erwischt hat.
 

In der Ablehnung der Gesellschaft, Verantwortung für das Los derer zu übernehmen, die an den angebotenen Bewältigungsstrategien scheitern, spiegelt sich die Verantwortungsabgabe, die Kinder erleben, wenn die Eltern nicht wahrnehmen können, was sie ihnen antun bzw. schuldig bleiben. Die Sinnes- und Bewusstseinstrübungen, die für Alkoholiker und andere Drogenabhängige symptomatisch sind, bewirken das Ausblenden des Leides, das anderen zugefügt wird, weil das eigene Leid so dominant erlebt wird.
 

Diese typische Verantwortungsverschiebung der Eltern auf die Kinder, wie sie in Alkoholikerfamilien auftritt, ist als Beispiel ein Ausschnitt aus den verschiedenen Formen von Blindheit, die für die meisten Eltern kennzeichnend ist. Blind sind sie dort, wo ihre eigenen Eltern blind waren, das ist das Netz der unbewussten Weitergabe von Verletzungen und Traumatisierungen. Dieses Netz speist sich in die Gesellschaft und ihre Normen und Rituale ein, und von dort wird wieder die Weitergabe der schädigenden Muster über die Generationen in Gang gehalten.
 

Deshalb können Eltern das nicht, was die Gesellschaft nicht kann. Auch aus diesem Grund hat die Zuteilung von Schuld an einzelne Individuen oder an "die Eltern" als Gesamtheit in solchen Fragen wenig Sinn.
 

Das heißt aber nicht, dass man dann sowieso nichts machen kann. Im Gegenteil: Ändern wird sich dort etwas, wo die Zusammenhänge im Ganzen ins Bewusstsein gerückt und schonungslos zur Kenntnis genommen werden. Jeder Mensch kann an dieser Einsicht ermessen, worin seine eigene Verantwortung besteht. Im nächsten Schritt geht es darum, diese Verantwortung zu übernehmen, so gut es geht. Diese Verantwortung beginnt bei jeder Person selbst, hört aber dort nicht auf. Sie erstreckt sich auch darauf, andere an ihre Verantwortung zu erinnern und zu ermutigen. So kann auch dieser Teufelskreis durchbrochen werden.
 

Verantwortung ist ein Schlüssel, den jeder nur selbst nutzen kann, den wir aber leicht vergessen, sodass wir andere brauchen, die uns aufmerksam machen (was nur funktioniert, wenn sie das liebevoll machen!).

Montag, 4. August 2014

Inneres Wachsen und Beziehungen

Inneres Wachsen erleichtert das Leben, indem sich der Problemdruck und die Stressempfindlichkeit verringert. Unterwegs auf diesem Pfad zu sein, bedeutet natürlich, noch nicht am Ziel zu sein. Stolpersteine können sich in den Weg legen, neue innere Fragen auftun und Verunsicherungen bewirken. Das Aufarbeiten der inneren Themen führt insbesondere im Beziehungsbereich zu interessanten Einsichten. 

Jede Beziehung beruht auf "Abmachungen", auf unbewusst getroffenen Vereinbarungen, die das Beziehungsleben regulieren. Wenn sich eine der Beteiligten an diesen Übereinkommen in ihren Einstellungen verändert, verändert sich das Grundgefüge der Beziehung. Es muss neu geregelt werden, was deshalb komplex ist, weil es um die unbewussten Dynamiken geht. Hier kommen ebenso unbewusste Kräfte ins Spiel, die neue Vereinbarungen erzeugen wollen. Sie bedienen sich u.a. der Methode des Vergleichens, die geeignet erscheint, unter Berücksichtigung der neuen Kräfteverhältnisse ein Gleichgewicht herzustellen. 

Allerdings kann die Einstellung entstehen: "Ich bin besser (bewusster, empfindsamer, menschlicher, ...) als du." Diese Einstellung erzeugt ein Gefälle in der Beziehung, die Spannungen und Streit hervorrufen kann. Inneres Wachstum ist sowohl vom Tempo als auch von der Entwicklungsrichtung eine sehr individuelle Angelegenheit. Wie schon festgestellt, gibt es keine vergleichbaren inneren Entwicklungsprozesse, sondern äußerst individuelle Abläufe. Dennoch wirken bei den meisten, die auf dieser Heerstraße unterwegs sind, die unbewussten Mechanismen des Vergleichens weiter, und oft werden sie sogar noch zusätzlich angeheizt. 

Ein Beispiel, wie das Vergleichen Schwierigkeiten in den aktuellen Beziehungen bewirken kann: Das neu erlernte Vokabular der Selbsterforschung wird als Waffe im Beziehungskampf eingesetzt. Die Einsicht in das Gestrüpp von Dysfunktionalitäten und Neurosen, das der Blick ins eigene Innere offenbarte, offenbart nun auch die "Gestörtheit" des Beziehungspartners. Daraus erklärt sich dessen Unfähigkeit im Verstehen und Harmonieren. "Schon wieder projizierst du deine Mutter auf mich", "das machst du nur, weil du die Verstrickung mit deinem Vater noch immer nicht gelöst hast", in dieser Art wird das partnerschaftliche Streitgespräch psychologisch aufgeladen. Die "Muster" der anderen Person werden bloßgestellt, und es ist diese, die sich in ihrer Eingeschränktheit dringend und schleunigst verändern muss. Denn sie hat ja wohl das eigene Unglück verschuldet und durch ihre Unbewusstheiten die eigenen Leidenszustände verursacht. 

Der Beziehungspartner wird im Extremfall dämonisiert und pathologisiert, um sich selber als "heiler", als "normaler" und als weniger gestört darzustellen. Damit will man sich selber sicherer fühlen. Wiederum ist diese Sicherheit trügerisch, weil sie am Fundament der Beziehung rüttelt. Nicht selten kommt es gerade in der zweiten Phase des inneren Wachsens zu Beziehungstrennungen, häufig aus dem Eindruck heraus, dass sich die andere Person nicht oder nur zu wenig, bzw. in die falsche Richtung bewegt, sodass kein Zusammenklang mehr möglich erscheint. Die Schere klafft immer weiter auseinander: Auf der einen Seite ein wachstumsorientiertes Ich, auf der anderen das beharrende Du. 

 Je mehr und öfter man sich "besser" fühlt im Vergleich zum Partner, desto wahrscheinlicher wendet sich der Blick auf Ausweichmöglichkeiten. Die Qualitäten, die am Partner vermisst werden, sind ja keine utopischen Wunschträume, vielmehr gibt es Menschen, die gerade über diese Qualitäten verfügen und denen zuzutrauen ist, dass sie sie auch in eine Beziehung einbringen können. Man trifft solche Menschen in Selbsterfahrungsgruppen und anderen Veranstaltungen der Szene. Warum also in der angestammten Beziehung bleiben, wo andere mehr und Besseres versprechen? 

Erfahrene Therapeuten und Lehrer legen nahe, gerade in den turbulenten Phasen des inneren Wachsens keine weitreichenden äußeren Entscheidungen zu treffen, also keine neuen (oder zusätzlichen) Beziehungen einzugehen, keine lange bestehenden Bindungen zu beenden usw. Sie wissen, dass die im Inneren aufbrechenden Konflikte gerne nach außen verlagert werden, um hier eine scheinbare Entlastung vom Problemdruck zu erreichen. Werden solche gravierenden Lebensveränderungen vorgenommen, verschärfen sie nur die innere Belastung und verkomplizieren den inneren Weg. Manchmal kann die Empfehlung hilfreich sein, eine "Beziehungspause" einzuführen, wenn die Beziehungssituation aktuell auswegslos erscheint. Denn in der Distanz kann sich leichter aussortieren, was in die Beziehung und was zur eigenen inneren Entwicklungsarbeit gehört.

Unterschiede im Wachsen 


Tatsächlich ist es schwer, das Ungleichgewicht auszuhalten, das entsteht, wenn nur ein Partner am inneren Wachstum interessiert ist. Die Sichtweisen auf das Leben differenzieren und verfeinern sich, und stoßen auf Unverständnis, wenn sie vom Beziehungspartner nicht geteilt werden. Ebenso kommen im Zug der Innenerforschung Wünsche und Bedürfnisse an die Oberfläche, die lange Zeit zurückgedrängt oder vergessen waren, und die der Beziehungspartner, der auf das bisherige Niveau des Austausches eingestellt war, nicht gleich automatisch verstehen und erfüllen kann. 

Durch das Entdecken der eigenen Individualität werden die eigenen Konturen schärfer und prägnanter wahrgenommen und akzentuiert. Die Unterschiede zeichnen sich deutlicher ab, während häufig die Gemeinsamkeiten verblassen. Manchmal fragen dann Menschen, ob sie in einer Beziehung bleiben sollen, die immer mehr auseinander zu driften erscheint. Sie fühlen sich ausgebeutet und missverstanden, emotional unterernährt oder fortwährend abgewertet. 

Die Liebe im Relativen ist immer störanfällig, weil sie an Bedingungen hängt. Die Suche nach mehr Sichterheit in einer Beziehung ist eigentlich eine Suche nach der Liebe, die aber nur in der Bedingungslosigkeit besteht und wirkt. In den ersten Phasen des inneren Wachsens werden nur die Bedingungen verfeinert und differenziert, und es bedarf weiterer innerer Klärung, bis die Seele so weit ist, Bedingung nach Bedingung fallen zu lassen. Dann breitet sich die bedingungslose Liebe von selber aus.

Meins ist besser als deins 


Doch auch dann, wenn beide Partner an der Innenentwicklung interessiert sind, kann es zu Spannungen kommen. Besuchen die beiden die gleiche Schule oder arbeiten sie mit der gleichen Methode, kann es offen oder insgeheim zur Konkurrenz kommen, wer sich schneller und intensiver weiterbewegt. Sind die Methoden und Zugänge unterschiedlich, wird leicht ein Streit darüber ausbrechen, welche Richtung die bessere und effektivere ist. Schwachstellen der anderen Person, wie sie im Alltag auftreten, können dann als Mängel in der entsprechenden Wachstumsdisziplin dargestellt werden, um die eigene Methode und damit sich selber als besser herauszustellen.

Über das Vergleichen hinauswachsen 


Jeder tiefgehende und weitreichende innere Weg führt irgendwann zur Erkenntnis, dass Vergleiche zwischen Menschen nicht weiterhelfen. Denn sie beinhalten Bewertungen und konstruieren Konzepte, die bei der Einordnung von Menschen helfen sollen, aber gleichzeitig Gräben zwischen ihnen ausheben. Irgendwann leuchtet ein, dass solche Kategorisierungen Unrecht und Unfug sind. Sie werden der Individualität und Besonderheit jedes Menschen nicht gerecht, und sie beschränken die eigenen Wahrnehmungsmöglichkeiten und damit die innere Freiheit des Wachsens. 

Irgendwann kommt die Erfahrung dazu, dass je mehr Druck auf den Partner ausgeübt wird, sich in eine bestimmte Richtung zu bewegen, umso mehr Gegendruck erzeugt wird, gerade das nicht zu tun. Die Einsicht, durch die eigenen Bemühungen das zu erschweren, was sie bewirken sollen, ist ernüchternd. Dann kann die Hilflosigkeit, die angesichts der erfolglosen Bestrebungen entstanden ist, dem Verständnis weichen, dass der Impuls zur Veränderung nur dann wirksam werden kann, wenn er von innen kommt. So fällt es leichter, zu akzeptieren statt zu agieren. Die Erleichterung kann sich dann entspannend auf die Beziehungsgestaltung auswirken - und, wunderbarerweise, nicht so selten dazu führen, dass sich der Partner doch zu bewegen anfängt. 

Solche Erkenntnisse sind ein klares Zeichen für das Eintreten in die dritte, systemische Phase der inneren Entwicklung. Die systemische Denkweise belehrt darüber, dass sich die eigenen Beziehungsthemen nicht durch einen Partnerwechsel verändern. Sie sind das Gepäck, das wir aus den frühen Erlebnissen mit Bezugspersonen aufgeladen haben. Darin findet sich das Grundrepertoire dessen, was wir in Beziehungen einbringen können, und darauf greifen wir immer wieder zurück, vor allem, wenn wir in Stress und Anspannung geraten. 

Also steht neben der Option, den Partner zu wechseln, "weil es nicht mehr passt", auch die Option, die Verantwortung für die eigenen Anteile an den Themen zu übernehmen und für sich selbst und auch mit dem Partner zusammen Licht auf diese Themen zu werfen. In der Paartherapie, in Beziehungsgruppen oder anderen paarorientierten Veranstaltungen und Kursen treffen sich dann die wachstumsorientierten Beziehungspartner, um die Themen, die sich zwischen ihnen immer wieder auftun, zu bearbeiten. 

Das funktioniert nur dann, wenn es ihnen gelingt, die systemische Sichtweise einzunehmen. Sie führt aus den Verirrungen des Vergleichens heraus, indem sie hilft, "in die Mokkasins des Feindes" zu schlüpfen. Die Perspektive des anderen einzunehmen öffnet die Augen für die eigenen Schwächen, die sich hinter dem Sich-Besser-als-der-andere-Fühlen-Müssen verbergen. Es wird deutlich, dass in den Themen, die am Beziehungspartner stören, eigene vergessene Verletzungen festgemacht sind, die der Partner ohne Absicht aktiviert. Hier kann gelernt werden, dem Partner für das Bewusstmachen eigener Themen zu danken, statt ihn dafür zu bekämpfen oder ihn zur eigenen Sichtweise zu erziehen. 

Doch erst in der vierten Phase des inneren Wachstums wird die Kraft nutzbar, die darin besteht, die Partner in den Beziehungen in ihrer Werthaftigkeit zu schätzen, gleich ob sie sich einem Weg des inneren Wachsens verschrieben haben oder nicht. Für die bedingungslose Liebe gibt es keine Unterschiede zwischen den Menschen mehr, und jedes Bedürfnis, besser oder weiter zu sein als jemand anderer, ist verschwunden.