Sonntag, 31. Januar 2016

Quantenkohärenz und bewusste Erfahrung

Der Begriff der Quantenkohärenz geht auf Forschungen von Mae-Wan Ho zurück, die sich als Biologin an der Open University (und Umweltaktivistin) die Frage nach dem, was das Leben und die Ganzheit eines Lebewesens ausmacht, gestellt hat. Sie hat dafür den Begriff der Quantenkohärenz gefunden. Zu erklären sind Kommunikationsphänomene im menschlichen Körper, aus denen deutlich wird, dass das Globale und das Lokale wechselseitig verschränkt sind und jeder Teil Kontrolle ausübt und  zugleich empfänglich und reaktiv ist.

Beispiele dafür sind langsame Oszillationen in den Riechkolben bei einer Geruchserfahrung, die mit den Bewegungen der Lunge in Phase sind. Ebenso schwingen die motorischen Zentren des Gehirns mit den Bewegungen der Gliedmaßen. Sie können deshalb koordiniert bewegt werden, weil jedes Glied ein kohärentes Ganzes ist, sodass eine Phasenbeziehung zwischen ihnen aufrechterhalten werden kann. Die komplexe Augen-Finger-Koordination, die ein Pianist braucht, hängt von der gleichen inhärenten Kohärenz der Subsysteme ab, die es erlaubt, dass eine augenblickliche Interkommunikation wie bei verschränkten Quantenteilchen abläuft. Denn es geht sich zeitlich gar nicht aus, dass von einer musikalischen Phrase zur nächsten die Inputs ins Gehirn geschickt, dort integriert und dann als koordinierte Outputs zu den Händen zurückgeschickt werden.

Mae-Wan Ho sieht die Grundlage für diese Kommunikationsphänomene in Flüssigkristallstrukturen, die es Zellen erlauben, das passende Gleichgewicht zwischen Festigkeit und Flüssigkeit zu bilden, was wiederum eine Voraussetzung für Lebensfähigkeit ist. Solche Strukturen finden sich in der Membran aller Zellen (vgl. Peter J. Collings, Liquid Crystals: Nature's Delicate Phase of Matter. Princeton 2001, S. 187 ff). Mae-Wan Ho schreibt diesen Strukturen die Fähigkeit zu, Signale in großer Geschwindigkeit zu verbreiten, sodass auf dieser Basis ein internes Kommunikationsnetz funktionieren kann. Dieses Netz ist evolutionär früher entstanden als das Nervensystem und arbeitet mit ihm zusammen, ist aber auch von ihm unabhängig.

Das Flüssigkristall-Netzwerk bildet nach Mae-Wan Ho die Grundlage für ein „Körperbewusstsein“. Dieses Körperbewusstsein, das im Flüssigkristallkontinuum enthalten ist, ist es also, das die Koordination der Körperfunktionen vermittelt. Man kann sich nach diesem Modell den Organismus als vielgestaltiges kohärentes elektrodynamisches Quantenfeld vorstellen, mit einer Unschärferelation zwischen Energie und Phase: Wenn die Phase definiert ist, ist die Energie unbestimmt und umgekehrt. Diese Beziehung könnte von fundamentaler Wichtigkeit für die Flexibilität und Anpassungsfähigkeit eines lebendigen Systems sein.

Messungen haben ergeben, dass Gleichstromfelder eine Halbleiterfähigkeit haben, die viel schneller ist als die Informationsweiterleitung über die Nervenbahnen. Während eines Wahrnehmungsereignisses können lokale Veränderungen im Gleichstromfeld eine halbe Sekunde vor der Ankunft des sensorischen Signals im Gehirn gemessen werden. Vermutlich werden die Gehirnaktivitäten von einem lokalen Gleichstromfeld auf den nachher eintreffenden sensorischen Reiz vorbereitet.

Bis zu 70% der Proteine in den Bindegeweben der Kollagene zeigen konstante Übereinstimmungsmuster auf, wie sie für Flüssigkristalle typisch sind. Kollagene sind sehr empfindlich für mechanischen Druck, Veränderungen im pH-Wert, anorganischen Ionen und elektromagnetischen Feldern. Deshalb können auch sehr schwache elektromagnetische Signale oder mechanische Störungen ausreichen, um einen Protonenstrom durch den ganzen Körper zu schicken, ideal für die Interkommunikation in der Art eines Protonen-Neuronen-Netzwerks.
Die Ganzheit des Organismus beruht auf einem hohen Grad an Quantenkohärenz. Sie tritt in ihrer reinen, ungestörten Form nur selten auf, „unter sehr außergewöhnlichen Umständen wie während einer ästhetischen oder religiösen Erfahrung, wenn die ‚reine Dauer‘ (…) des Hier und Jetzt völlig delokalisiert wird, in einem Bereich von Nicht-Zeit und Nicht-Raum.“ Deshalb gibt es die Quantenkohärenz in verschiedenen Graden oder Abstufungen.

Aus der Quantentheorie der Optik und Elektrodynamik ist bekannt, dass der kohärente Zustand annähernd stabil ist. Folglich ist dieser Zustand ein idealer Attraktor, zu dem sich das System zurückbewegt, wenn es gestört wurde und aus dem Gleichgewicht geraten ist. Das System sucht also von sich aus den kohärenten Zustand, weil es in diesem am besten seine Aufgaben erfüllen kann.

Das ist der starke Helfer bei allen Heilungsprozessen: Der Organismus will von sich aus zu seinem optimalen Fließgleichgewicht zurück. Alles, was wir dazu tun müssen, ist, ihm nicht im Weg zu stehen und die Hindernisse beiseite zu räumen. Dann bildet sich von selber ein kohärenter Zustand, in dem wir mit uns und mit unserer Umgebung im Einklang sind. In der Meditation und im Atmen in Kohärenz öffnen wir die Tore für die Kohärenz, für die wellenförmige Kommunikation der Flüssigkristalle, in der Theorie von Mae-Wan Ho.

Wie würde diese unsere Wellenfunktion ausschauen? „Vielleicht ist es ein verschlungenes supramolekulares Orbital von vieldimensionalen stehenden Wellen von komplexen Quantenamplituden. Das wäre eher wie eine schöne exotische Blume, in und aus vielen Dimensionen gleichzeitig flimmernd. Das würde unser holographisches Quantenselbst darstellen, erschaffen aus den Verstrickungen mit vergangenen Erfahrungen, der Erinnerung an alles, was wir gelitten und gefeiert haben, die Totalität unsere Ängste, Hoffnungen und Träume.“


Der Artikel "Quantum Coherence and Conscious Experience" von Mae-Wan Ho kann hier nachgelesen werden.

Freitag, 29. Januar 2016

Geistwandern und mentale Autonomie

Was können wir aus dem Gedankenwandern (mind wandering) lernen? Das ist doch etwas, was wir beim Meditieren loswerden wollen, weil es uns im Alltag auf die Nerven gehen kann und dafür prädestiniert ist, Missstimmungen zu erzeugen. Die Buddhisten sprechen vom Affengeist. Häufig leiden wir unter der Maschine in unserem Kopf, die dauernd neue oder immer gleiche Gedanken produziert, die uns in Unruhe versetzen.

Das Verständnis des inzwischen fleißig beforschten Phänomens kann uns helfen, uns selber besser zu verstehen und Wege zu unserer mentalen Autonomie zu finden, also zu der Fähigkeit, beeinflussen und bestimmen zu können, was in unserem Kopf abläuft. Damit beschäftigen sich Psychologen und Philosophen. Im Folgenden fasse ich einen informativen Artikel des Philosophen Thomas Metzinger zu dem Thema zusammen.

Was ist Autonomie? Metzinger definiert sie als rationale Selbstkontrolle, als Fähigkeit, das eigene Verhalten in Abstimmung mit Gründen und rationalen Argumenten zu kontrollieren. Zweitens ist Autonomie die Unabhängigkeit bei der Ausbildung des eigenen Willens, vor allem die Unabhängigkeit von der eigenen inneren Umgebung (z.B. Bedürfnisse, Vorurteile, Konditionierungen). Dazu kommt die Idee der "Selbstgesetzgebung", die Unabhängigkeit von einer äußeren Umgebung mit ihren Standards und Zwängen. Das dritte semantische Element der Autonomie ist die Selbstbestimmung: Die Fähigkeit, die eigenen Handlungen und die dazu führenden Entscheidungen kausal bestimmen zu können. Viertens geht es um Selbstbildung: Die Autonomie wird in einem fortlaufenden Prozess aufgebaut und ausgebaut, sie ist also nicht eine ein für alle Mal erworbene Eigenschaft. In diesem Prozess werden wir Personen, d.h. rationale Individuen mit einer kohärenten und bewussten Selbstrepräsentanz, d.h. wir wissen, wer und was wir sind.

Das mentale Handeln


Es gibt nicht nur körperliche, sondern auch mentale Handlungen, z.B. das absichtliche Fokussieren auf einen Gegenstand oder das bewusste Ziehen von logischen Schlussfolgerungen. Diese Handlungen sind mit Belohnungsbedingungen verbunden, weil sie auf einen Zielzustand ausgerichtet sind. Sie können absichtlich behindert oder beendet werden und verfügen über den subjektiven Charakter des Selbstvollzugs: Wir wissen, dass wir es selbst sind, die diese Handlungen vollziehen.

Metzinger unterscheidet zwei wichtige Typen der mentalen Handlung, die beide sukzessive im Lauf der Kindheit erworben werden und durch Gehirnverletzungen oder Alterungsprozesse eingeschränkt werden oder verloren gehen können:
•    Die Aufmerksamkeitsaktivität (AA) und
•    die Kognitionsaktivität (CA).

Die AA ist vermutlich die älteste und einfachste Form, sich selbst als wissendes Selbst zu erleben. Wir erleben uns in diesem Modus, wenn wir merken, dass wir unsere Aufmerksamkeit bewusst von einem Objekt auf ein anderes verschieben können.

Die CA ist ein Komplex von funktionalen Fähigkeiten, die mit der Erfahrung als kognitiv Handelnder verbunden sind, z.B. wenn jemand berichtet: "Ich denke gerade darüber nach" oder "Ich bin zu folgender Schlussfolgerung gelangt".

Beim Gedankenschweifen kollabieren diese Fähigkeiten. Es ist eine Form des unabsichtlichen Verhaltens, die allerdings nicht automatisch unintelligent oder behindernd sein muss. Kreativität, die Einprägung von Inhalten des Langzeitgedächtnisses und eine sorgfältige Zukunftsplanung können durch das mind wandering unterstützt werden.

Die Meta-Bewusstheit


Sie äußert sich bei der Beeinflussung von anderen mentalen Handlungen und bewirkt Mentalhandlungen der zweiten Ordnung. Diese Handlungen sind wesentliche Werkzeuge für das Erreichen höherer Stufen der M-Autonomie. Sie können andere mentale Aktivitäten beeinflussen. Beispiele dafür sind das Beenden von Gewaltfantasien oder das bewusste Aufrechterhalten eines spontan auftauchenden Tagtraumes.

Unter "Vetoautonomie" versteht Metzinger Fähigkeit der absichtlichen Hemmung von Handlungen, die wir nicht dem Gehirn, sondern der ganzen Person zuschreiben. Wir können nur rational sein, wenn wir über diese Fähigkeit verfügen. Es können jedoch hohe Grade der mentalen Autonomie ohne diese rationale Selbstkontrolle erreicht werden.

Die M-Autonomie


Unter mentaler Autonomie kann die Fähigkeit verstanden werden, den bewussten Inhalt des eigenen Bewusstseins zielgerichtet zu kontrollieren, mit Hilfe von AA oder CA. Entscheidend dafür ist die "Vetokomponente": Alle ablaufenden Prozesse können prinzipiell aufgeschoben oder beendet werden. Diese Fähigkeit ist sicher sehr unterschiedlich ausgeprägt, und Menschen verfügen über sie nur ungefähr ein Drittel ihrer bewussten Lebenszeit. Während dem Gedankenwandern fehlt die mentale Autonomie, weil wir nicht über die Veto-Komponente verfügen.

Das Gedankenwandern kann als Grundaktivität verstanden werden, die wir nutzen, um eine Minimalversion von Kontinuität als Plattform für längerfristige Motivation und Zukunftsplanung aufrechtzuerhalten. Da Metzinger der Meinung ist, dass wir über kein identisches Selbst verfügen, müssen wir dieses durch automatische Narrative virtuell erzeugen. Gewissermaßen erzählen wir uns immer wieder, dass wir sind, wer wir sind, und bringen uns damit dazu, das auch zu glauben.

Wenn wir Tagträumen nachhängen, Fantasien, Selbsterzählungen und depressiven Grübeleien, was wir bis zu zwei Drittel unserer bewussten Lebenszeit „tun“, denken wir nicht, sondern dann geschieht oder widerfährt uns das Denken. Allerdings vergewissern wir uns dabei, dass wir über die Zeit identische Wesen sind.

Folglich kann also das Gedankenwandern als Verlust von M-Autonomie verstanden werden, weil es mit einem unbemerkten Verlust von mentaler Selbstkontrolle und epistemischer Handlungsfähigkeit verbunden ist, entweder auf der Ebene der Aufmerksamkeit oder der Kognition. Unbeabsichtigt ablaufend, ist es nicht rational geleitet und kann nicht willentlich beendet werden. Auch wenn Aspekte dieser Tätigkeit funktional brauchbar sind, sind die insgesamten Kosten und allgemeinen negativen Effekte auf das subjektive Wohlbefinden offensichtlich und gut dokumentiert, z.B. in Hinblick auf  Leseauffassung, Gedächtnis und anhaltender Aufmerksamkeit. Zugleich konnte die Forschung nachweisen, dass das Phänomen allgegenwärtig ist.

Also sind Menschen ungefähr zwei Drittel ihrer Lebenszeit keine autonomen mentalen Subjekte, auch wenn sie von außen betrachtet bewusst präsent sind und üblicherweise auch von ihren Mitmenschen als solche behandelt werden. Denn die Zurechnung von Verantwortung gilt weiter, selbst für Zustände des inneren "Entrücktseins."

Das Gedankenschweifen kann allerdings auch ganz zum Stillstand kommen, entweder bei Übenden von Achtsamkeitsmeditation oder als Folge einer Verletzung im medialen frontalen Kortex.

Weiters folgt aus den Erkenntnissen, dass das bewusste Denken primär und vorherrschend ein automatischer subpersonaler Prozess ist, wie der Herzschlag oder die Immunregulation. Es ist empirisch plausibel anzunehmen, dass ein beträchtlicher Teil unserer eigenen kognitiven Phänomenologie einfach durch einen häufigen Fehler in der exekutiven Kontrolle bewirkt wird. Menschen sind dadurch charakterisiert, dass eine nahezu konstante subpersonale und automatisch erzeugte mentale Aktivität durch das Default-Mode-Netzwerk (im Deutschen etwas irreführend als Ruhezustandsnetzwerk übersetzt) abläuft, verbunden mit einer häufigen Unfähigkeit des ausführenden Kontrollsystems, zentrale Leistungsaufgaben vor einer Störung durch diese unterpersönlichen Denkprozesse zu schützen. Offenbar ist das Gedankenwandern eine Art „Standardeinstellung“ des Gehirns, zu dem es zurückkehrt, wenn nichts anderes von ihm verlangt wird (Harrer, Weiss 2016, S. 96). Und wir können uns schwer gegen seine überraschenden Überfälle auf unsere geordneten Denkvorgänge zur Wehr setzen.

Deshalb meint Metzinger, dass die autonome kognitive Selbstkontrolle die Ausnahme und nicht die Regel darstellt. Das Ideal des kognitiv geleiteten Menschen, der autonom und selbstkontrolliert rational denkt, ist dann nur ein Mythos, der von schwerdenkenden Philosophen über die Jahrhunderte verbreitet wurde, die sich und ihre Zunft dadurch selbst beweisen und rechtfertigen wollten.

Denken wie Atmen


Jede Metabewusstheit des ablaufenden Gedankenschweifens ist vergleichbar mit einer Metabewusstheit unseres Atems oder Herzschlags. Metabewusstheit ist das, was wir bei einer Achtsamkeitsübung oder einer Meditationsanleitung als „Beobachten“ beschreiben: Beobachte deine Atmung, beobachte deine Gedanken.

Diese drei Phänomene, Atmen, Herzschlag und spontanes aufgabenfreies Denken sind keine psychologischen Prozesse auf der Persönlichkeitsebene, sie sind vielmehr identisch mit unterschwelligen physiologischen Prozessen im biologischen Körper. Wenn die Gedanken zu schweifen beginnen, handelt es sich um einen physiologischen Ablauf mit einem spezifischen, weitgestreuten Muster der neuronalen Aktivität, der sich zu weiten Teilen mit dem Default-Mode-Netzwerk überlappt. Gedankenschweifen ist also einfach die erlebte Bewusstheit eines lokal ablaufenden körperlichen Prozesses.

Sind wir die Täter unserer Erkenntnisse?


Warum aber erleben wir subjektiv einige unserer kognitiven Prozesse als Eigenschaften der persönlichen Ebene aus der Erste-Person-Perspektive? Der Grund liegt darin, weil sie in ein EAM (epistemic agent model = Modell der epistemischen Täterschaft) eingebettet sind, das gerade in unserem Gehirn aktiv ist, und weil wir in einem Umfeld leben, in dem wir uns wechselseitig als rationale Individuen beschreiben und anerkennen, was dann wiederum das introspektive Erlebnis beeinflusst.

Metzinger ist der Auffassung, dass es das Gehirn selbst ist, das eine Komponente einrichtet, eine besondere Form der bewussten Selbstrepräsentation, die das System als erkennendes Subjekt darstellt, als Wesenheit, die ihr Wissen aktiv sucht und verbessert, z.B. durch CA und AA. Metzinger nennt diese Instanz EAM. Sie kann dazu dienen, laufende Prozesse in sie einzubauen, sodass die Erfahrung des Besitzens geschaffen wird (mein Gedanke, mein eigenes autobiografisches Gedächtnis, meine eigene Zukunftsplanung). Wenn diese Prozesse als Kontrollen auftreten, die kausale Einflüsse ausüben können, werden sie bewusst als Selbstkontrolle oder erfolgreiche mentale Selbstbestimmung erlebt. Dennoch ist ein Erkenntnismodell dieser Art kein kleiner Mann im Kopf, sondern ein gänzlich subpersonaler Prozess. Menschen werden Personen nur dadurch, dass sie sich erlebnismäßig mit dem Inhalt eines solchen Modells identifizieren können. Dazu helfen soziale Erfahrungen, z.B. jene durch den Sprachgebrauch, mit dem sich selbst und anderen ein Personenstatus zugeschrieben wird.

Die Abkürzung PSM (phenomenal self model = phänomenologisches Selbstmodell) bezeichnet eine bewusste Repräsentation des Systems als Ganzem, körperlich, psychologisch, sozial und persönlich. Unter Normalbedingungen ist ein großer Teil des menschlichen PSM „durchsichtig“, weil wir nicht in der Lage sind, es als Modell zu entlarven, sodass wir uns deshalb voll mit seinem Inhalt identifizieren.

Der Selbstrepräsentanz-Blink


Wir wissen nicht, warum eine Episode des Gedankenwanderns gerade begonnen hat, und typisch ist, dass das ganz erste inhaltliche Element als Überraschung kommt. Manchmal haben wir eine Metabewusstheit zum zweiten "Waggon" im Zug des Schweifens, aber das erste Element ist unvorhersehbar und trägt zum subjektiven Gefühl bei, die Kontrolle zu verlieren und uns in einem unbeabsichtigten mentalen Verhalten zu befinden. Das könnte man als systematische Blindheit der autobiografischen Selbstrepräsentation verstehen, denn das aktuelle Element des Übergangs in den Wanderzustand ist nichts, an das wir uns erinnern können, ist kein Teil unseres bewussten mentalen Lebens.

Metzinger nennt dieses Phänomen "Selbstrepräsentations-Blink" (SRB) - Blink heißt so viel wie Blinzeln, weil es so schnell geht wie ein Lidschlag. Der Vorgang kann auch als Versagen der Selbstkontrolle verstanden werden, die vielleicht durch eine Erschöpfung von neuronalen Ressourcen entsteht. Die Blindheit besteht vor allem gegenüber den selbstbezogenen Reizen, also den aktuellen Körperempfindungen. Es wechseln in diesem Moment zwei PSMs: Der vorige war noch mit der gegenwärtigen Umgebung verbunden, der neue ist nur mehr selbstbezogen.

Die Identifikationseinheit (UI) ist jene Eigenschaft, mit der wir uns gerade identifizieren und die zur Erfahrung von "Ich bin das!" führt. Wenn man das Geistwandern als Umschalten der Identifikationseinheit versteht, dann erkennt man, dass es in einen entkörperten Zustand führt, indem es von der aktuellen Körperwahrnehmung distanziert. Obwohl ein Zeitgefühl bleibt, geht dadurch das Raumgefühl verloren.

Wie endet eine Episode des Gedankenwanderns?


Weil Achtsamkeit und Gedankenwandern entgegengesetzte Phänomene sind (mindfulness ist das Gegenteil von mind wandering), kann der Prozess des Verlierens und Wiedergewinnens der Meta-Bewusstheit am eingehendsten in verschiedenen Stufen einer Achtsamkeitsmeditation erforscht werden. In frühen Phasen einer objektorientierten Meditation wird es zu zyklischen Verlusten der M-Autonomie kommen, und dazu der wiederkehrenden mentalen Handlung als Entscheidung, den Fokus der Aufmerksamkeit wieder zum Gegenstand der Meditation zurückzubringen, z.B. zum Atmen. Die Erfahrung wird als zielgerichtet und leicht angestrengt erlebt. In fortgeschrittenen Phasen der Meditation hat sich die Aufmerksamkeit geweitet, sodass die Bewusstheit im gegenwärtigen Moment als Ganzem ruhen kann. Solche stabilen Zustände der Meta-Bewusstheit können als Zustände ohne Identifikationseinheit verstanden werden. Während sich der beginnende Meditierer mit einem internen Modell eines mentalen Agenten identifiziert ("das meditative Selbst"), wird die Meta-Bewusstheit der zweiten Art als anstrengungslos und handlungsfrei beschrieben.

Achtsamkeit und Geistwandern


Das Geistwandern ist kein an sich schädlicher Vorgang. Aber es schränkt den Raum unserer Bewusstheit ein und kann uns emotionalen Zuständen ausliefern, die uns nicht guttun. Deshalb ist es ratsam zu lernen, den Anteil dieser Unbewusstheit zu reduzieren und dadurch Grade an innerer Freiheit und Autonomie dazuzugewinnen.

Worauf Metzinger nicht verweist, was aber durch Forschungen belegt ist: Jedes Unterbrechen des stream of consciousness, der schweifenden Gedankenaktivität, und jedes bewusste Zurücklenken der Aufmerksamkeit auf einen körperlich aktuellen Zustand stärkt die innere Autonomie, indem die präfrontalen und mesolimbischen Areale gestärkt und die limbischen Bereiche, vor allem die Amygdala geschwächt werden, also die Top-Down-Kontrolle verbessert wird. Wir können schneller erkennen, wann wir im unbewussten Gedankenschweifen unterwegs sind, und unsere Aufmerksamkeit schneller und leichter zurück in den Moment bringen. Das ist die Botschaft der Achtsamkeitsbewegung. Übung macht den Meister, und jede Meditation ist ein Schritt auf dem Weg, jeder Moment der Atembewusstheit und alle Zeit, die wir der Innenschau widmen.

Abkürzungsverzeichnis:

AA = attentional agency = Aufmerksamkeitstäterschaft (Selbsterleben mit Bezug zum eigenen Körper und einem hohen Niveau an Kontrolle der eigenen Aufmerksamkeit – wenn jemand sagt: „Ich bin ein Selbst, das gerade den Fokus meiner Aufmerksamkeit kontrolliert“)
CA = cognitive agency = kognitive Täterschaft (Selbsterleben mit Bezug zum eigenen Körper und einem hohen Niveau an kognitiver Kontrolle – wenn jemand sagt: „Ich bin ein denkendes Selbst“)
PSM = phenomenal self model = phänomenologisches Selbstmodell (die bewusste umfassende Repräsentation des eigenen Denkens als Ganzes – wenn jemand sagt: „Ich bin ein Selbst“)
EAM = epistemic agent mode l= Modell der epistemischen Täterschaft (die Annahme, dass wir Urheber unserer Erkenntnisse sind – wenn jemand sagt: „Ich bin ein wissendes Selbst“)
SRB = Selbstrepräsentanz-Blink (Augenblick, in dem die Aufmerksamkeit unwillkürlich von außen nach innen zum Gedankenwandern schwenkt)
UI = Unit of Identification = Identifikationseinheit (der Inhalt, mit dem sich das Ich gerade identifiziert)

Vgl. Thomas Metzinger: Kognitive Täterschaft. In: Welche wissenschaftliche Idee ist reif für den Ruhestand? Hg. von John Brockman. Fischer Taschenbuch 2016
Literatur: Harrer, Michael E., Weiss, Halko: Wirkfaktoren der Achtsamkeit – wie sie die Psychotherapie verändern und bereichern. Stuttgart: Schattauer 2016



Montag, 25. Januar 2016

Donald Trump und sein Vaterthema, aufgezeigt von Woody Guthrie



Donald Trump, der Milliardär, der amerikanischer Präsident werden will, ist mit seinem Ausländerhass und seinen rassistischen Einstellungen erblich belastet. Er sagt ja auch, dass sein Vermächtnis seine Wurzeln in seines Vaters Vermächtnis hat („My legacy has its roots in my father’s legacy.”). Vater Fred Trump war Immobilienmogul, und seine rassistischen Einstellungen sind deshalb jetzt aufgetaucht, weil er einen berühmten Mieter hatte: Woody Guthrie mietete im Dezember 1950 eine Wohnung in Brooklyn, und der Mietvertrag ist von Fred Trump unterzeichnet.

Woody Guthrie war kritischer Folksänger, mit seinem Lied “This Land Is Your Land” wollte er erreichen, dass alle Amerikaner einen gleichen Anteil an ihrem Land haben sollten. Da war sein Vermieter offenbar anderer Ansicht. Er hatte sich im Zug der Nachkriegswohnungsnot bereichert und die von ihm errichteten und vermieteten Wohnungen nach rassischen Gesichtspunkten vergeben. Kamen Schwarze ins Büro, um eine Wohnung zu mieten, wurde ihnen vom Türsteher gesagt, dass niemand da wäre, oder es wurden ihnen Mietpreise genannt, die nicht zu zahlen waren.
In seinen bisher unveröffentlichten Tagebüchern schreibt Guthrie über diese Praktiken, dass Leute wie Trump „Gott weit voraus“ wären, denn:
    God dont
    know much
    about any color lines.

Er prangerte diese Einstellung an:
    I suppose
    Old Man Trump knows
    Just how much
    Racial Hate
    he stirred up
    In the bloodpot of human hearts
    When he drawed
    That color line
    Here at his
    Eighteen hundred family project ...

Woody Guthrie kam wohl nicht dazu, diese Texte in Musik zu setzen und einem größeren Publikum zugänglich zu machen. Er litt an einer seltenen Nervenkrankheit, die ihm ab Beginn der 50er Jahre die Musikausübung unmöglich machte. Er wurde zum Pflegefall und starb 1967. Sein Sohn Arlo Guthrie übernahm sein musikalisches Erbe, u.a. ist er bekannt durch seinen Auftritt in Woodstock.

Die Texte wurden von Will Kaufmann, Professor für amerikanische Literatur und Kultur an der University of Central Lancashire veröffentlicht. 

Vom Umgang mit unserer Fehlerhaftigkeit

Fehler, Nachlässigkeiten und Vergesslichkeiten hauen uns leicht aus dem Flussmodus. Sobald wir bemerken, dass wir etwas übersehen haben, was wichtig gewesen wäre, oder nicht bemerkt haben, was uns hätte auffallen müssen, oder dass wir etwas gemacht haben, was sich als peinlich herausgestellt hat usw., beginnen wir mit Selbstgeißelung, vor allem, wenn es mit Nachteilen für uns verbunden ist: Die Eingangstür „ist zugefallen“ und der Schlüssel ist drin, die einzige Rettung ist der Schlüsseldienst und der lässt sich den Spaß kosten. Wir sind während des Kochens zum Telefon und haben vergessen, die Kochplatte zurückzudrehen, bis uns der Geruch daran erinnert und wir das verkohlte Essen entsorgen müssen. Wir haben einen anspruchsvollen und wichtigen Text geschrieben und vergessen, ihn abzuspeichern. Oft gehen wir schlimmer auf uns selber los als der ärgste Kritiker, den wir in unserer Umgebung oder aus unserer Kindheit kennen. Gnadenlos beschimpfen wir uns selber oder bestrafen uns, indem wir tagelang an nichts anderes denken als an das unrühmliche Vorkommnis und dabei das schlechte Gefühl wieder und wieder wachrufen.

Klar, die Selbstabwertung bringt nichts, wir fühlen uns zwar scheinbar besser dadurch, weil wir etwas von dem Dampf ablassen, der durch den Stress entsteht. Wir ersetzen den schlimmeren Stress durch einen leichteren und kontrollierbareren, weil uns ja klar ist, dass wir selber die Täter gegen uns sind.

Einfacher ginge es, ein paar bewusste Atemzüge zu nehmen und dabei entspannt auszuatmen. Damit verringert sich der Stress. Der Fehler ist passiert und nicht mehr rückgängig zu machen. Der Ärger über uns selbst hilft uns auch nicht, in Zukunft den oder einen ähnlichen Fehler wieder zu machen, genausowenig wie die Schelte unserer Eltern verhindert hätte, dass wir wieder etwas Schlimmes gemacht haben.

Wir können alles, was uns im Leben widerfährt, und vor allem unsere Fehlleistungen als Achtsamkeitstraining nehmen: Im Moment bei dem bleiben, was gerade geschieht und bei dem, was gerade zu tun ist. Dann kann nichts schief gehen. Und die besondere Übungsherausforderung besteht dann darin, nach einem Missgeschick so schnell wie möglich zur Achtsamkeit im Moment zurückzukehren, damit wir das tun, was zu tun ist, statt die Zeit und Energie zu vergeuden, indem wir uns anklagen und heruntermachen mit unseren beliebten „Hättichdochs“ und „Warumhabichnichten“.

Wir sind lebende Wesen und funktionieren deshalb nicht fehler- und klaglos. Wir sind nicht von einem perfektionssüchtigen Wesen erschaffen worden, sondern von einer Natur hervorgebracht, die den relativen Erfolg als pragmatisches Prinzip verfolgt. Fehler passieren und gehören dazu. Bekanntlich lernen wir aus Fehlern am besten oder sollten es zumindest. Denn wir sind Wesen mit unbegrenzter Lernfähigkeit und Flexibilität. Und eigentlich macht Lernen immer wieder auch Spaß.

Das Lernen mit Fehlern, die uns immer wieder unterlaufen, erledigen wir dadurch, dass wir neue Routinen einbauen und dann ins Unterbewusstsein absinken lassen, damit sie uns nicht mehr belasten. Dann haben wir wieder Zeit für den Flussmodus, der uns wohltut und Freude bereitet. Wenn wir also die Gewohnheit haben, unsere Schlüssel liegenzulassen, bauen wir eine neue Gewohnheit auf, den Schlüssel immer wieder an den gleichen Platz zu legen und/oder zu überprüfen, ob wir den Schlüssel eingesteckt haben, bevor wir die Türe hinter uns schließen.

Da ich im Moment einen launischen Computer habe, der unvorhersehbar und ohne Ankündigung mit seiner Arbeit Schluss macht, was mir schon einige Absätze Schreibarbeit gekostet hat, habe ich die automatische Speicherung auf eine Minute eingestellt, sodass höchstens der letzte Satz verlorengeht, und der ist meist noch im Kurzzeitspeicher im Hirn. In diesem Fall nimmt mir der Computer die Routine ab, die er durch seine eigene Fehlerhaftigkeit erfordert.

Es braucht einige Disziplin, für die wir unseren Funktionsmodus aktivieren müssen, um uns neue Gewohnheiten anzuerziehen, der Lohn dafür ist, dass nach einiger Zeit unser Unterbewusstsein übernimmt und uns erinnert, was zu tun ist, damit wir den Fehler vermeiden. Damit haben wir mehr Zeit für das achtsame Erleben der Gegenwart und weniger Anlass, gemein zu uns selber zu sein. Das Leben darf wieder fließen und wir mit ihm.


Vgl. Die Wurzeln der Selbstsabotage

Sonntag, 24. Januar 2016

Die Schnuller-Politik

Die österreichische Regierung hat sich auf einen „Richtwert“ für die Aufnahme von Asylanten verständigt. Seither wird gestritten, was das in der Praxis bedeuten soll, ob also der jetzt schon berühmte 37.501 Asylbeantragende von 2016 abgewiesen und seinem weiteren Schicksal überlassen wird, das vermutlich darin besteht, mit dem nächstbesten Schlepper illegal über die Grenze zu kommen.

Es steht also Popularmeinung gegen Rechtsmeinung. Da es Gesetz ist,  Asylsuchende ohne zahlenmäßige Begrenzung aufzunehmen, ist es die Popularmeinung, die dagegen spricht: Die Stimme des „Volkes“, das unter der Angst vor der Übervolkung leidet. Es gibt ja den Spruch, dass die Stimme des Volkes die Stimme Gottes ist, aber ob Gott sich in solche Angelegenheiten einmischt und einer der Seiten Recht gibt, bleibt noch abzuwarten. Dass das Volk Gott die Stimme einfach wegnimmt und an seiner Stelle, also ohne Rücksprache spricht, ist auch nicht immer heilbringend.

Außerdem ist nicht eindeutig, was die Stimme des Volkes ist und wie sie richtig gehört wird. Schließlich besteht das Volk in Österreich aus über acht Millionen Einzelstimmen, die in unterschiedlichen Stimmlagen unterschiedliche Popularmeinungen zum Ausdruck bringen. Also schlägt man die Popularzeitungen auf, die von den meisten gelesen werden, und die schreiben wohl das, was die meisten lesen wollen. Angenommen, die meisten wollen lesen, was sie sowieso denken, oder was sie denken, dass sie denken sollten, braucht man also nur zu lesen, was dort geschrieben steht, und man weiß, worin die verbreitete Meinung besteht.

Wenn also diese Volksmeinung der Meinung ist, dass das Land voll ist von Menschen, dass also niemand mehr Platz hat (außer jener, die geboren werden, denn die sind ja noch klein, und ersetzen außerdem jemanden, der gerade stirbt und groß ist, also geht sich das gut aus mit dem Platz), dann kann auch niemand mehr hereingelassen werden. 


Bei knapp 84 000 km2 Landesfläche haben die 8 Millionen Menschen jeweils 10500 Quadratmeter zur Verfügung. Kommen 37500 Asylanten dazu, verringert sich diese Fläche auf 10 454, d.h. jeder Flüchtling nimmt 0,3 Quadratmeter an Fläche weg, also ungefähr so viel, wie er braucht, um stehen zu können. Das sind also die Dimensionen, die Angst in der Bevölkerung auslösen. Eine Regierung, die die „Nöte der Menschen“ ernstnimmt, muss sich um solche Ängste kümmern und tapfer ein Machtwort sprechen: Genug ist genug.

Da die Menschen noch was Konkreteres hören wollen, und da Zahlen den Eindruck von Konkretheit besonders gut vermitteln können, wird eben eine solche verkündet, ab der es genug ist. So verspricht man, bis zu dieser Zahl die Gesetze zu erfüllen und sie dann nicht mehr zu erfüllen. Die Genfer Flüchtlingskonvention gilt also nur bis zu dieser Zahl, dann verschwindet sie durch einen Zauberspruch aus den Gesetzbüchern und Rechtsnormen.

Damit kann sich die Bevölkerung beruhigen. Die Regierung hat sich um ihre Ängste gekümmert, die Bürger können wieder ruhig schlafen. Die Überrennung mit fremdländischen Menschen findet nicht statt, oder zumindest nicht in dem Maß, das Angst um den Platz auslösen muss.

Da die rechtliche Situation ungeklärt ist und da es auch zur Sicherheitslage eines Landes gehört, ob und wie sich die Regierung an die Gesetze hält, wird jetzt geprüft, ob oder wie sehr es unrechtmäßig ist, Asylsucher abzuweisen, bloß weil sie eine Nummer zu spät kommen. Es wird wohl rauskommen, dass es ziemlich unrechtmäßig ist, aber bis dahin herrscht Ruhe im Land und im Volk, und das ist ja auch schon etwas wert. Die Österreicher und Österreicherinnen regen sich zwar gerne auf, aber es sollen auch wieder andere Themen zum Zug kommen und nicht dauernd die arme Regierung wegen ihrer „Untätigkeit“ durch den Kakao gezogen werden. Schließlich will jeder, der was tut fürs Land oder meint, was zu tun, wiedergewählt werden. Und dafür sollten wir uns schon über die Schnuller freuen, die da verteilt werden. Nuckeln wir fleißig dran, und alles wird gut.


Und nicht vergessen: Es gibt die Schnuller in zwei Farb- und Geschmacksrichtungen: mehr richtlinienmäßig oder mehr obergrenzenmäßig, je nach Vorliebe.

Mittwoch, 20. Januar 2016

Die Intellektuellen und ihre Verwundbarkeit

 Zum Gedenken an die Attentate in Paris vor einem Jahr und heute in Charsadda (Nordpakistan)
 

Salman Rushdie, der verfolgte Schriftsteller aus Indien, sagte in seiner Eröffnungsrede bei der Frankfurter Buchmesse im Herbst 2015, dass die Literatur stärker ist als alle politischen Systeme und Religionen, aber dass die Literaten verwundbar sind. 

Die Aufklärung, das große Modernisierungsprojekt der Intellektuellen des 18. Jahrhunderts, zeigte den Umschwung in die Brutalität, wenn die Ideen der Intellektuellen Breitenwirkung entfalten und von den „Massen“ aufgegriffen werden. Von daher (nebenbei) das Misstrauen der Intellektuellen in diese „Massen“, also in die Mehrheiten oder in die schlag- und durchsetzungsmächtigen Minderheiten der Gesellschaft. Die Intellektuellen werden abserviert, wenn sie ihre Schuldigkeit getan haben, oft genug in die Gefängnisse, in die Isolation oder ins Jenseits. 


"Literatur ist stark, aber Autoren sind schwach. Ihre Leben können zerstört werden, selbst wenn ihre Werke bleiben", sagte Salman Rushdie und fügte hinzu: "Das ist kein großer Trost, wenn man tot ist."


Mit jedem Intellektuellen stirbt ein besonderes Stück Menschheit. Intellektuell sein heißt auch, die eigene Individualität kompromisslos zum Ausdruck zu bringen. Dieses Stück Individualität geht verloren, wenn der Mensch zerstört und zusätzlich seine Werke vernichtet werden.


Die Waffen des Geistes und des Wortes können scharf sein, sie können aber keine körperliche Gewalt ausüben. Sie entfalten ihre Macht nicht mit der Drohung der physischen Vernichtung, sondern mit der Kraft der Überzeugung. Sie brauchen deshalb ein Gegenüber auf dem gleichen Kanal des Austausches oder lernwillige Empfänger.

Viele der Mächtigen haben eine besondere Angst vor den Intellektuellen und verfolgen sie, wie die grausamen Diktatoren des 20. Jahrhunderts. So, als stünde im Handbuch für Diktatoren, dass zuerst die streitbaren Geister zum Schweigen gebracht werden müssen, dann ist die Basis für den weiteren Ausbau der Unterdrückung gesichert.

Denn der Intellektuelle kann nicht schweigen, wenn er Widersprüche erkennt und Manipulation entlarvt. Er hat verstanden, dass im Bildungsinteresse eine unstillbare Suchbewegung steckt, die nicht aufgehalten werden darf, weil sie immer weiter zur Freiheit führt. Die Intellektuellen sind keine Besitzer, sondern Sucher und Erforscher der Wahrheit und reagieren immer mit Misstrauen und Widerspruch, wenn sich jemand der Wahrheit bemächtigt. Sie sind das Gewissen der Eliten.

Auch wenn sich Intellektuelle oft persönlich wichtig nehmen, weil sie als Menschen über Stolz und Eitelkeit verfügen, wissen sie, dass ihre Inspiration und ihre Mission über sie hinausgehen. Sie wissen, dass sie nie fertig sind und wollen nie aufhören zu lernen.

Sie wollen schreiben und reden, um Wirkung in anderen Menschen zu erzeugen; weniger, um sie vom eigenen Standpunkt zu überzeugen, mehr um sie zu einem eigenen Standpunkt zu bringen, um sie dazu motivieren, Stellung zu beziehen, aufzustehen, statt sitzen zu bleiben, in Bewegung zu kommen statt zu erstarren. Intellektuelle brauchen den Diskurs, um ihre Ideen zu prüfen und zu bewähren oder zu verwerfen. Sie wollen Bewegung statt Stillstand, Flexibilität statt Sturheit.

Statt Meinungen und übernommenen Ansichten verfolgen die Intellektuellen den kritischen Weg: Was Menschen sagen und tun, wird „hinterfragt“, wird auf Widersprüche am Maßstab der Humanität hin untersucht. Intellektuelle sind zur Kritik verpflichtet – das griechische Wort „krinein“ heißt unterscheiden. Kritik bedeutet also Unterschiede zu setzen, dort zu differenzieren, wo dualisiert oder monopolisiert wird. Je mehr Unterschiede gefunden werden, desto uneindeutiger und vieldeutiger wird die Wirklichkeit. Eine einfältige Wirklichkeit ist leicht zu beherrschen, eine aufgefächerte Realität entzieht sich dem Zugriff der Macht.

Deshalb ist die Angst der Mächtigen vor den Intellektuellen berechtigt.

Es ist simpel und billig, dem Diskurs mit einer Kalaschnikow ein plötzliches Ende zu bereiten. Die Person des Intellektuellen ist ausgelöscht. Sein Argument wirkt jedoch weiter. Das ist der Antrieb und die Hoffnung des Denkers: Dass sein geistiges Erbe weiter spricht, über ihre Person hinaus.

Denn Intellektuelle schreiben ihre Argumente nicht (ausschließlich) ihrer Person zu, sondern der Wahrheit und der Redlichkeit. Wie vehement sie auch immer ihre Position vertreten und verbreiten, wie sehr sie ihren Stolz daran heften mögen, haben sie doch immer eine bescheidene Haltung der größeren Kraft des Geistes gegenüber, dem sie sich verpflichtet fühlen. Sie wissen, dass sie nicht willkürlich und unbedacht argumentieren können, sondern dass das Argument verdient und erarbeitet sein muss. Leichtfertigkeit ist nicht ihre Sache, sondern Gründlichkeit und Umsicht.

Leicht hingegen ist ihr Gewicht im Spiel der Mächte und Gewalten. Eine Kultur, die sich ihrer entledigen will, wird zur Unkultur, zur sich selbst zerstörenden Barbarei.

Donnerstag, 14. Januar 2016

Polen bedroht von Vegetariern und Radfahrern?


Beunruhigende Warnungen erreichen uns aus Polen. Wir können von Glück sagen, dass Polen eine neue, offenbar hell erleuchtete Regierung hat, die mit den wesentlichen Wahrheiten nicht mehr hinter dem Berg hält und von der wir lernen können, wo die eigentlichen Gefahren für die Zukunft der Menschheit lauern, sodass wir bei Zeiten gegensteuern können. Zwar spricht die Regierung, wie es ihre Aufgabe ist, nur für ihr Land und ihre Leute, aber da ja die Polen der gleichen Säugetiergattung angehören wie wir, müssen wir das von unserem nördlichen EU-Partner so umsichtig Verkündete auch bei uns ernst nehmen.

Hier also die Sorgen des amtierenden polnischen Außenministers Witold Waszczykowski: Polen und das "Polentum" sind durch folgendes Gemenge bedroht: "ein neuer Mix von Kulturen und Rassen, eine Welt aus Radfahrern und Vegetariern, die auf erneuerbare Energie setzen und gegen jede Form der Religion kämpfen" (Quelle).

Da muss man wirklich das Schlimmste befürchten: Menschen, die kein Fleisch essen, das kann nicht gutgehen, eine Bedrohung für alle Fleischproduzenten und eine Beleidigung für alles Fleischesser; erst recht nicht, wenn sie zusätzlich noch mit dem Rad fahren und die Autofahrer am Fortkommen behindern und mit ihrer Aggressivität gefährden.

Kampf oder Flucht, das ist hier die Frage, wenn sich dieser neue Mix nähert und ausbreitet. Nein, wir sind keine Feiglinge, und wir werden es mit den Radfahrern und Vegetariern aufnehmen, das wäre doch gelacht. Körndl- und Broccoli-Fressern und buckelnde Rundtretern werden wir allemal noch Herr, vor allem, wenn wir sie rechtzeitig in ihrer subtilen und hinterhältigen Gefährlichkeit entlarven.

Erneuerbare Energie, Spinnerei aus den verwirrten Köpfen einiger selbsternannter Wissenschaftler, die gut von den Gehältern leben, die ihnen ignorante Staaten finanzieren und die mittels Horrorfantasien den Verbrauch von nichterneuerbaren Rohstoffen schlechtreden wollen, nur um Technologien durchzusetzen, mit denen sie selber verdienen, statt die gute polnische Kohle zu verbrennen, was ja das einzige ist, wofür sie gut ist. Wo kommen wir hin, wenn wir gleich wieder erneuern, was wir verbrauchen, wozu verbrauchen wir denn dann eigentlich?

Und jeder, der erkannt hat, dass es an der Zeit ist, die Aufklärung durch eine Post-Aufklärung zu ersetzen, wird sich freuen, wenn endlich die unselige Trennung von Staat und Kirche rückgängig gemacht wird, wie Jarosław Kaczyński, Führer der Regierungspartei PiS ankündigt: "Jede Hand, die sich gegen die Kirche erhebt, ist eine Hand, die sich gegen Polen erhebt". Also nieder mit den Händen, schön brav an die Hosennaht, nieder mit den Fleisch- und Autoverweigerern, nieder mit den Areligiösen.

So kann man die unleugbaren Vorteile erkennen, die einem Land zukommen, das sich nicht in die scheinheiligen Flüchtlingspolitik einmischt, wie sie von den atheistischen Gutmenschen, die keine Ahnung von wahrer christlicher Menschenliebe haben, gepredigt wird. So bleiben alle nichterneuerbaren Energien frei für den Schutz des unverdorbenen Volkstums. Und damit bleibt der Blick klar für die wahren Gefahren für unsere Gesellschaft. Schließlich bringen viele der Flüchtlinge ihre Religion und Religiosität mit sich, und sie essen brav Fleisch, vielleicht mit Ausnahme von Schweinefleisch, und Räder haben sie auch keine mitgeschleppt und werden sich hoffentlich das Radfahren nicht noch angewöhnen.

Es ist Zeit für ein Neo-Mittelalter, wir kennen ja schon unseren lieben Neo-Liberalismus, (Neo heißt dabei immer, dass das Alte neu aufgekocht wird, aber ohne störende Zutaten aus dem Menschlichen),  also ein Neo-Mittelalter, indem wir alle Rohstoffe konsumieren ohne schlechtes Gewissen, weil niemand da ist, der ausrechnen kann, wann ein bestimmter Rohstoff endgültig verbraucht ist, und in dem niemand an der Religion zweifelt, weil es keine Alternativen gibt, und dort, wo sich eine meldet, mittelalterliche Grausamkeit ihren rechtmäßigen Platz hat.

Warum sollten wir in Mittel-Osteuropa mit unseren Standards gegenüber dem Nahen Osten, und warum sollte das Christentum als Ganzes gegenüber dem Islam ins Hintertreffen geraten? Wo dort doch schon so erfolgreich das Neo-Mittelalter experimentell erprobt wird, attraktives Auswanderungsziel für alle jungen, unternehmungslustigen und rechtgläubigen Menschen?

Wir können nur hoffen, dass das Licht der Einsicht bald unser verschattetes Land erreicht, wo wir so blind sind für die wahren Gefahren, sodass sich bei uns die rechtsschaffenden Menschen endlich aufraffen und dem polnischen Beispiel folgen, das dem ungarischen Beispiel folgt, welches dem russischen Beispiel folgt, welches auch einem Beispiel aus der Vorzeit folgt.

Samstag, 9. Januar 2016

Der Anfang der Welt und das spekulative Denken

Wir möchten wissen, wie alles begonnen hat. Was war vor der Welt? Vielleicht könnten wir mehr über die Welt verstehen, wenn wir wüssten, woraus sie entstanden ist. Jedoch: Alle Ausflüge, die wir über das Raum-Zeitschema hinaus unternehmen, sind riskant. Welt ist für uns, die wir aus und in dieser Welt entstanden sind, identisch mit dem, was in Raum und Zeit existiert. Denn unser (selber raumzeitlicher) Wahrnehmungsapparat beruht auf diesem Schema und wäre ohne es funktionslos. Ohne Raum und Zeit wären wir blind, taub und empfindungslos. Dazu kommt, dass unsere Denkformen auf der Wahrnehmung beruhen und von ihr bestimmt sind. Heben sie davon ab, verlieren sie ihren Referenzpunkt und beginnen zu taumeln: inhaltsleer und beliebig, also nicht verbindlich kommunizierbar. Die Wirklichkeit, die sie darstellen wollen, ist nur im Innen, ohne die eigenen Koordinaten zu kennen.

Wir können also nur in Raum und Zeit wahrnehmen (zumindest im funktionalen Sinn), und unser Denken und die damit verbundene Begriffsbildung sowie die Sprache sind von der Raum-Zeitlichkeit der Wahrnehmung abhängig und immer auf sie bezogen. Alles, was wir reden, hat nur deshalb einen Sinn, weil es Gegenstände und Vorgänge in Raum und Zeit gibt, die das Sprechen meint.

Selber raum-zeitliche Wesen, können wir den Anfang der Zeit oder das Ende des Raumes nicht denken. Alles, was wir über diese Themen aussagen, ist spekulativ, d.h. willkürlich und unverbindlich. Wir können sagen, dass es vor der Entstehung der Welt einen Gott gegeben hat, der all diese Vorgänge eingeleitet hat, wie der Präsident einer Supermacht, der nach mehr oder weniger reiflicher Überlegung den Knopf für einen Atomangriff drückt. Wir können die Meinung vertreten, dass es eine unendliche, unpersönliche Intelligenz war, die für den Anfang verantwortlich ist, ein missgünstiger Dummkopf oder ein Spaghetti-Monster, je nach Geschmack. Wir können auch sagen, dass alles aus einem Nichts entstanden ist. Oder dass es vor dieser Welt eine ganz andere gegeben hat. 

Unserer Fantasie sind keine Grenzen gesetzt, und alle diesbezüglichen Aussagen haben erkenntnistheoretisch den gleichen Wahrheitswert, nämlich Null, weil sie in irgendwelchen Köpfen formuliert wurden, ohne sich um den Bezug zur raum-zeitlichen Wirklichkeit zu kümmern: Was gesagt wird, kann stimmen oder auch nicht, und es gibt keine Instanz außer dem Sprecher, der das entscheiden könnte. Unsere fantastische Vorstellungskraft ermöglicht uns, außersinnliche Wirklichkeiten nach unseren Wünschen oder Geschmäckern erschaffen, zu verändern und wieder verschwinden zu lassen.


Über die ersten und letzten Dinge spekulieren


Das Spekulieren, das häufig in Zusammenhang mit den "letzten Fragen" angewendet wird, können wir folgendermaßen verstehen: Es ist der Versuch, die Denk- und Sprachformen, über die wir aufgrund unseres Funktionierens in der gegenständlichen Welt verfügen, auf die Fragen anzuwenden, die mit dem Jenseits der Raum-Zeit-Welt zu tun haben. Wir wollen erklären und verstehen, was sich jenseits der Ränder des Erfahrbaren tut und wenden unsere gebräuchlichen Konzepte und Begriffe auf diese Bereiche an, so als gäbe es dort Gegenstände, die wir aus den Zusammenhängen des Funktionsmodus kennen. Dort brauchen wir Einordnungen und Kategorisierungen, die das Denken beisteuert.

Wenn wir das Denken auf kontextfreie Erfahrungen, wie wir sie im Flussmodus kennen, anwenden, beginnt es zu spekulieren, d.h. in Nachahmung der Freiheit dieser Erfahrungsform willkürlich und ungebunden assoziativ zu schweifen. Dabei vermeint das Denken, mehr von der Wirklichkeit zu erkennen, und das ist die Illusion in der Spekulation. Sie meint, sich auf Gegenstände zu beziehen, tatsächlich sind es Erfahrungen, die sich nicht gegenständlich fixieren lassen, sondern eben im Fluss, in der dauernden Veränderung sind.

Die Wirklichkeit, die das Denken erfassen will, ist immer noch raum-zeitlich, auch in den Fällen, in denen es sich darüber hinaus erweitern möchte. Die Begriffe, die wir auf den Flussmodus beziehen (Unendlichkeit, Weite, Freiheit, Leere etc.), sind Kreationen des endlichen und relativen Denkens. Doch zum Unterschied von konkreten Begriffen wie Blume, Fisch oder Löffel, die sich auf Gegenstände in Raum und Zeit beziehen, haben die verallgemeinerten Begriffe keinen direkten Gegenstandsbezug mehr, sind also anschauungsferner und abstrakter. 

Jeder abstrakte Begriff, den das Denken formuliert, ist aus der sinnlichen Raum-Zeit-Wahrnehmung abgeleitet. Z.B. ist der Begriff der Unendlichkeit die Negation des Begriffs der Endlichkeit, der jeden Raum-Zeit-Gegenstand auszeichnet, ist also die negierte Abstraktion aus jeder Gegenstandswahrnehmung. Rene Descartes hat von ausgedehnten Gegenständen gesprochen, die alle durch ihre Grenzen definiert sind. Unser Denken ist in der Lage, logische Operatoren auf die Gegenstandsbegriffe anzuwenden, z.B. die Verallgemeinerung und die Negation. Damit wird es möglich, den Begriff der Unendlichkeit zu erzeugen und in eine Sprachform zu bringen. 

Allerdings bleibt der Begriff auf die endliche Wahrnehmungsform bezogen und ist von ihr abhängig und hat damit im Grund nichts zu tun mit der Flusserfahrung, die er bezeichnen will. Er dient nur der Übersetzung der Erfahrung ins kommunikative Medium, für unsere Versuche, Flusserfahrungen, die wir haben, mit anderen Menschen zu teilen. Da wir keine Denkform haben, die Begriffe aus dem Flussmodus der Erfahrung ableitet, haben wir auch keine adäquate Sprachform für diesen Modus. 


Die Kunst zeigt das Unbenennbare


Im übrigen können wir die Kunst als Versuch verstehen, die Fließerfahrung in eine sinnlich wahrnehmbare Form zu übertragen und damit gegenständlich zu machen, aber eben als Gegenstände, die dem Funktionsmodus entzogen sind, also keinen Gebrauchswert haben. Was uns an der Kunst fasziniert, ist ihre Fähigkeit, in unendlichen Variationen das, was hinter den Dingen ist, zum Vorschein zu bringen, ohne es auf Begriffe zu reduzieren. Kunstwerke zeichnen sich dadurch aus, dass wir sie verstehen können, ohne sie jemals voll verstehen zu können.


"Vor der Zeit" 


Aussagen darüber, was "vor" der raum-zeitlichen Wirklichkeit war, sind immer spekulativ. "Vor" ist ein zeitlicher Begriff, der, wenn wir ihn auf etwas außerhalb der Zeit anwenden, widersprüchlich wird. Diese Widersprüchlichkeit betrifft alles weitere, was im Bereich jenseits der Raum-Zeit-Wirklichkeit thematisiert wird, einschließlich eines Schöpfergottes.

Wenn wir also von einer Gottheit reden, die diese Wirklichkeit geschaffen hat, befinden wir uns im begrifflichen Denken. Dort können wir willkürlich Annahmen treffen, d.h. im Grund behaupten, was wir wollen, weil es ja per definitionem keinen Bezug zu einer im Außen existierenden Wirklichkeit gibt. Die Spekulation hat ihre Wirklichkeit nur im Kopf der spekulierenden Person und im von ihr getätigten Sprechakt. Wird diese subjektive Wirklichkeit anderen Personen mitgeteilt und von diesen geteilt, entstehen kollektive imaginierte Wirklichkeiten. Dieser Mechanismus ist die Grundlage für individuelle Wahngebilde und kollektive Ideologien.

(Ideologien können wir in diesem Zusammenhang als missverstandene Kunstwerke verstehen, ähnlich den inneren Vorstellungen, an denen ein Geisteskranker leidet, mit dem Unterschied, dass sie von vielen Menschen ähnlich erlebt werden: kollektive Wahnvorstellungen) 

Deshalb ist der "Schöpfergott" eigentlich eine ästhetische Produktion, die im Versuch entstanden ist, Erfahrungen des Fließens auf kosmologische Fragen zu übertragen, also mittels einer Sammlung von Metaphern, mit denen auf etwas, das sich begrifflich nicht fassen lässt, hingewiesen wird. Vergleiche dazu die entsprechenden Stellen in der Genesis (Gen 1,1 - 11,9), die mit starken poetischen Bildern arbeiten. Solche mythologische Kosmologien, die es in vielen Kulturen gibt, versuchen, ähnlich der Kunst, mit bildhafter Sprache darzustellen, was jenseits der Funktionswirklichkeit sein könnte.


Ist Gott männlich oder weiblich?


Der feministische Witz: "Als Gott den Mann erschuf, übte sie bloß," zeigt die Willkür auf, mit der wir bei diesen Fragen begrifflich operieren. Dazu zählt der Versuch, Gott ein Geschlecht zuzuteilen. Über lange Zeiträume und in vielen Kulturen waren der Hauptgott oder die vorgesetzten Gottheiten männlich. Daher ist der Wunsch verständlich, Gott endlich zur Abwechslung mit dem weiblichen Geschlecht zu benennen oder zu gendern: Der Gott/die Göttin wie: der Mitarbeiter/die Mitarbeiterin.

Der Witz zieht seine Wirkung aus der Verwirrung, die entsteht, wenn einem ästhetischen Gebilde raum-zeitliche Eigenschaften zugeordnet werden wie die Geschlechtlichkeit. Denn die Dichotomie zwischen den Geschlechtern gibt es in der "Schöpfung" erst seit der Entwicklung von komplexeren Lebewesen. Warum sollte also ein Gott vor der Schöpfung oder während der ersten Milliarden Jahre nach der Entstehung des Universums ein Geschlecht haben, lange vor allen Geschlechterdifferenzierungen? Das Geschlecht hat den Sinn, über die zugehörige Form der Vermehrung Nachkommen hervorzubringen. Das brauchen und können nur Gottheiten, die in die raum-zeitliche Wirklichkeit eintreten, wie die der Griechen, die ja einen räumlich lokalisierbaren Wohnort hatten, dort Kinder bekamen und auch immer wieder mit Sterblichen Liebesaffären mit Folgen hatten. 

Der monotheistische Gott (die monotheistische Göttin) dagegen bleibt prinzipiell außerhalb der Bereiche der Sterblichen, so weit, dass der Islam ein Verbot erlassen hat, ihn/sie bildlich darzustellen. Er/sie ist damit der Sphäre des Menschlichen-Allzu-Menschlichen mit all ihren Projektionen entzogen, tauscht diese Position aber gegen einen begrifflich ähnlich unsicheren und widersprüchlichen Stellenwert aus. 

Nur aufgrund unseres Denkens und der davon abhängigen Sprache kommen wir auf die Frage nach Eigenschaften Gottes. Wir müssen nach unserer Sprachstruktur auch Gott zumindest grammatikalisch ein Geschlecht zuteilen, wie allen Gegenständen. Vielleicht merken wir dabei, dass wir uns in Widersprüche verwickeln, wenn wir nicht den erkenntniskritischen Unterschied einführen: Wir können alles, was es gibt, einschließlich Gott, nur im Rahmen unserer Denk- und Sprachwelt beschreiben. Damit haben wir nur einen Gott für uns, und nicht einen Gott an sich, der sich ja außerhalb unserer Innenwelt befinden sollte, beschrieben. Mehr geht aber nicht, außer wir begeben uns in den Bereich der Spekulation. Der Gott/die Göttin jenseits der Innenwelt ist eine Innenwelt, der spekulativ eine Existenz außerhalb der Innenwelt zugesprochen wird.

Das Denken ist in der Lage zu verwirren, weil es seine Begriffe auf verschiedene Erfahrungsmodi beziehen kann, ohne zu merken, wo es sich gerade befindet. Verwirrung ist Ausdruck einer Beziehungsstörung zwischen Innen und Außen, zwischen subjektiver Innen- und objektiver Außenwelt. Nur wenn wir unser Denken zur Erkenntniskritik nutzen, können wir zuordnen, was wohin gehört, können Kunst und Wirklichkeitserfahrung unterscheiden und die Verwirrung aufklären.


Aufgeklärtes Denken


Laut Immanuel Kant ist die Aufklärung der Ausgang des Menschen aus der Unmündigkeit. Thomas Metzinger hat in diesem Zusammenhang von intellektueller Redlichkeit gesprochen. Verwirrung zu stiften hat demnach mit unredlicher Machtausübung zu tun, die Erkenntniskritik verhilft zu Selbstermächtigung, Autonomie und ethischer Lebenshaltung.

Vgl. Funktional und fließend Wahrnehmen
Funktions- und Flussmodus
Spiritualität und intellektuelle Redlichkeit
Wissen, Fantasie und Glaube: Was kommt nach dem Leben?