Mittwoch, 31. August 2022

Die Wohlfühlscham

Auf der internationalen Atemkonferenz vor ein paar Wochen haben auch Ukrainer und Ukrainerinnen teilgenommen. Einige von ihnen haben berichtet, dass sie sich schämen, hier zu sein, umgeben von Freunden in einer fröhlichen und liebevollen Atmosphäre, während die Freunde und Angehörigen zuhause unter dem Krieg zu leiden haben. Sie schämten sich dafür, dass es ihnen hier gutginge, während in der Heimat so viel Leid herrscht.

Wenn es in einer Gemeinschaft vielen schlecht geht, entsteht bei jenen, denen es gut geht, ein Schamgefühl. Es ist die Empfindung, dass es einem nicht gut gehen darf, wenn andere leiden, so, als würde man sich von ihnen und ihrem Schicksal abschneiden, wenn man nicht gleichermaßen leidet. Das Gutgehen steht einem nicht zu, wo es doch den anderen so schlecht geht. Die Scham signalisiert jedes Ungleichgewicht im sozialen Netzwerk. Wie bei der Wohlstandsscham, bei der es um ein Mehr im materiellen Besitz geht, wird bei der Wohlfühlscham die eigene Besserstellung im Gefühlsbereich als ungerechtfertigt erlebt.

Überidentifikation 

Eine Komponente dieser Scham besteht in der Meinung, dass die leidende Person noch zusätzlich belastet wird, wenn sie merkt, dass man selber glücklich ist. Also will man sie vor dem eigenen Glücksgefühl schützen, damit sie das nicht weiter nach unten zieht. Als Folge schwindet das eigene Wohlfühlen und macht der Scham Platz. 

Diese Schamform kann so weit gehen, dass man sich jedes Wohlgefühl verbietet, weil es doch irgendwo gerade jemanden gibt, der leidet. Wie kann es Freude geben, wenn anderswo Leid herrscht? Das Mitgefühl nimmt überhand und kommt nicht zur Ruhe, solange nicht alle glücklich sind. Diese Haltung scheint von grenzenloser Menschlichkeit getragen; angesichts ihrer praktischen Machtlosigkeit in Bezug auf die Milliarden von Leidenden auf dieser Erde leidet sie selber an Überidentifikation und mangelndem Realitätssinn. Das Mitgefühl verliert sich im Allgemeinen, während es in der Wirklichkeit nur auf konkrete Menschen angewendet Sinn macht

Die Wohlfühlschamform tritt z.B. bei Flüchtlingen und Migranten auf, die es in ein Land geschafft haben, in dem es ihnen besser geht als denjenigen, die sie im Heimatland zurückgelassen haben. Sie sind in Sicherheit, während die Angehörigen von Bürgerkrieg oder Verfolgung bedroht sind. Sie können aber ihr besseres Leben nicht genießen, weil sie am Leid und an der Angst ihrer Familienmitglieder und Freunde leiden. 

Doch spielt diese Schamform auch in bevorzugten Lebenszusammenhängen eine wichtige Rolle. Wer in einem westlichen Land in einer mittleren Schicht geboren wurde, befindet sich schon, weltweit betrachtet, in einer privilegierten Situation, was den Zugang zu Ressourcen verschiedenster Art anbetrifft. Diese Besserstellung wird jungen Menschen schamvoll bewusst, sobald sie erkennen, wie weit das Elend auf der Welt verbreitet ist und wieviel Mangel dort in der Deckung der einfachsten Grundbedürfnisse besteht. Oft führt diese Einsicht zum Engagement für Randgruppen, Notleidende oder auch für die missachtete Natur. 

Mitleid vermehrt das Leid, Mitgefühl verringert es. 

Natürlich haben die Leidenden nichts davon, wenn sich andere Menschen für ihr Nicht-Leiden schämen. Das Mit-Leiden verstärkt das Leiden – statt einem leiden zwei; das Mitgefühl stärkt und hilft mit, das Leiden besser zu ertragen. Das Mit-Leiden enthält, spirituell betrachtet, eine Anmaßung: Die Verweigerung, das Gute, das einem geschenkt wurde und wird, in Demut anzunehmen und aus ihm heraus Gutes weiterzugeben. 

Das Beste aus dem eigenen Leben zu machen

Der Ausweg aus der Wohlfühlscham besteht in der Einsicht, dass die eigene Lebenssituation dazu da ist, um das Beste daraus zu machen. Je besser man sich fühlt, desto mehr kann man beitragen und anderen geben. Es verbessert das Los derer, die es schlechter haben, um keinen Deut, wenn man sich selber schlechter fühlt. Das Annehmen des eigenen Schicksals beinhaltet auch das Annehmen der guten Seiten, die mit Dankbarkeit quittiert werden können. Bessergestellt zu sein ist dazu da, aus diesen Vorteilen den Nutzen zu ziehen, der für die Allgemeinheit die bestmöglichen Folgen hat. Unser Wohlgefühl macht uns kreativ, konstruktiv und produktiv, mit ihm können wir anderen das Leben leichter machen und ihnen den Mut und die Kraft geben, ihr Schicksal zu tragen. 

Zum Weiterlesen:
Die Wohlstandsscham


Sonntag, 28. August 2022

Die Wohlstandsscham

Wir schämen uns nicht nur für Fehler und für Versagen, auch nicht nur dafür, dass wir im Vergleich mit anderen schlechter abschneiden, sondern auch dann, wenn wir es besser haben als andere. Die Scham wacht über die Intaktheit von Beziehungen und auch über die Fairness und Gerechtigkeit unter den Menschen. Wir brauchen das Gefühl, in einer ausgeglichenen Gesellschaft zu leben, in der niemand zu viel und niemand zu wenig hat. Wenn wir uns vergleichen, wollen wir nicht zu sehr aus der Reihe fallen, in der einen wie in der anderen Hinsicht. Die Scham liefert den feinen Sensor für das richtige Maß. 

Ideologien zur Schamverdrängung

In der Verfasstheit unserer Gesellschaft gibt es große Unterschiede im Wohlstand. Die Vermögens- und Einkommensschere zwischen arm und reich, die sich immer weiter öffnet, konnte nur entstehen, weil in Bezug auf das Verdienen von Geld und das Anhäufen von Reichtum nach und nach die Schamgrenzen abgeschwächt oder außer Kraft gesetzt wurden. Dazu diente Doktrin von den “Tüchtigen”, denen mehr vom Kuchen zustehen soll als den Untüchtigen, Faulen, Minderleistungsfähigen. Die Tüchtigkeit ist dabei zirkulär definiert: Tüchtig ist, wer im Rahmen der Marktabläufe Erfolg hat. Und wer tüchtig ist, hat Erfolg. Wer sich anderweitig anstrengt, z.B. in einem reproduktiven Bereich, in dem die Arbeit vom Markt schlechter honoriert wird, ist vielleicht auch fleißig, aber eben nicht tüchtig.  

Zu dieser Ideologie kam die protestantische Auffassung, dass Reichtum und Wohlstand Ausdruck richtiger Lebensführung und damit göttlicher Billigung wären. Wer mehr hat, ist von Gott gesegnet. Also bringe es zu Reichtum, dann bist du unter den Auerwählten und gut abgesichert fürs Jenseits. Wenn es um dich herum Leute gibt, die es nicht geschafft haben, braucht dich das nicht zu bekümmern. Dafür ist eine übergeordnete Weisheit zuständig, die du nicht verstehen kannst und brauchst. 

Mit solchen Ideologien wird die Scham entmachtet, die das Anhäufen von Reichtum angesichts von Armut mit einem schlechten Gefühl quittiert und dazu motiviert, für einen Ausgleich zu sorgen. Diese Umwertung gilt als eine der Faktoren, die zur Entfesselung des kapitalistischen Systems beigetragen haben. Folglich beruht dieses Wirtschaftssystem im emotionalen Kern auf Unverschämtheit. 

Aus diesen Gründen ist diese spezielle Schamsensibilität nicht bei allen Menschen gleichermaßen ausgebildet oder korrumpiert. Manchmal wird sie lächerlich gemacht, wenn sie jemand äußert, weil sie an die eigenen Überzeugungen appelliert und einen inneren Konflikt erzeugt. Schamformen, die als besonders unangenehm erlebt werden, gehen mit besonders raffinierten Abwehrformen einher. Auf der rationalen Ebene hat sich ein weitgefächerter Propagandaapparat des Neoliberalismus entwickelt, der vor allem der Schamverdrängung dient und von Teilen der Wissenschaft ebenso verbreitet wird, wie von Politikern und natürlich Wirtschaftstreibenden. Er erzeugt eine spezielle Form des Zynismus, der für Kapitalisten und für politische Vertreter des kapitalistischen Wirtschaftssystems typisch ist und zu dem auch die Verspottung der “Gutmenschen” gehört. 

Die Resistenz in der Kunst

Die Kunst hat sich übrigens erstaunlich resistent gegen die Mechanismen dieser Schamverdrängung erwiesen. Das neoliberale Gedankengut ist eher Gegenstand der künstlerischen Analyse, Kritik und Umdeutung. Eine Rolle der Kunst besteht in der in die Sinne übersetzten Ideologiekritik. Das mag damit zusammenhängen, dass es im Rahmen der Kunstproduktion sehr unwahrscheinlich ist und nur selten vorkommt, dass es ein Künstler oder eine Künstlerin zu Reichtum bringt. Doch würde sich die Kunst selbst verkaufen und wertlos werden, wenn sie einer Ideologie nachfolgt. Von Diktaturen erwünschte Kunst hat nur wertlose Belanglosigkeiten hervorgebracht. Wir können sogar starke und schwache Kunst dadurch unterscheiden, dass sich die eine mit Scham konstruktiv auseinandersetzt und die andere sie verdrängt.

Individuelle Großzügigkeit

Es ist andererseits diese Schamform, die einzelne Millionäre dazu motiviert, nach mehr Einkommens- und Vermögenssteuer zu rufen. Andere Reiche und Superreiche engagieren sich für besonders Arme, für die Bekämpfung von Hunger oder Seuchen oder für den Ausbau der Bildung in armen Regionen. Viele, die über durchschnittliche Einkommen verfügen, spenden an Notleidende. Sie bilden die rühmlichen Ausnahmen, die sich selbst und damit auch ihren Kolleginnen und Kollegen den Spiegel vorhalten.  Sie tragen allerdings nichts dazu bei, dass das gesellschaftliche Skandalon der Ungleichheit bestehen bleibt.

Steigender Reichtum und steigende Schamverdrängung

Sozialpsychologische Experimente haben sogar nachgewiesen, dass die Bereitschaft zum Teilen steigt, je weniger jemand hat. Es gibt viele Beobachtungen darüber, dass die Gastfreundschaft bei ärmeren Menschen stärker ausgeprägt ist als bei wohlhabenderen.  

Es scheint also so zu sein, dass mit dem Reicherwerden die Schamverdrängung stärker wird oder stärker werden muss. Wer mehr hat als die anderen, muss sich rechtfertigen. Wer aber seinen Reichtum vor der Öffentlichkeit versteckt und anonymisiert, kann sich effektiv vor diesem unangenehmen Rechtfertigungsdruck schützen. 

Die Anonymisierung, die auch durch die Entwicklung des Kapitalismus in Gang gesetzt wurde, ist ein weiteres Hilfsmittel, um sich vor der Wohlstandsscham zu schützen. Niemand anderer kennt den eigenen Vermögensstand, niemand erfährt, ob man spendet oder nicht, ob man bei keiner Charity mitmacht oder nicht. Außerdem kennt man niemand persönlich, der Not leidet und hält sich auch nicht in Gegenden auf, wo solche Menschen sichtbar sind. In den eigenen abgeschlossenen Clubs und abgeriegelten Villen kann man über alles Mögliche locker plaudern und muss sich nicht um die Verbesserung der Welt bemühen. 

Die Unabdingbarkeit des sozialen Ausgleichs

Die Wohlstandsscham jedoch verschwindet nicht durch einzelne und kollektive Verdrängungsbemühungen. Sie wirkt wie ein Stachel im Gefüge der Gesellschaft und motiviert immer wieder Menschen, die sich für soziale Gerechtigkeit einsetzen. Sie wird erst dann eine Ruhe geben, wenn dieser gesellschaftliche Ausgleich vollzogen ist. Denn ohne politische Entscheidungen und Gesetze gibt es keinen verlässlichen Rahmen für diesen Ausgleich – Wohltätigkeit, die auf individueller Großzügigkeit beruht, ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein und löst die Schamspannung nicht. Diejenigen, die in der Gesellschaft schlechter gestellt sind und weniger vom Kuchen abbekommen, brauchen einen Anspruch auf Ausgleich und nicht ein Füllhorn von individuellen Spenden, die gegeben und genauso gut verweigert werden können.

Reichtum ist kein Verdienst

In einem weiteren Sinn macht die Wohlstandsscham darauf aufmerksam, dass Wohlstand und Reichtum nur zum geringen Teil auf Verdienst und Leistung beruht. Die meisten reichen Menschen haben gar nichts zu ihrem Reichtum getan, sondern haben ihn einfach geerbt. Die „Leistung“ besteht also darin, in die richtige Familie geboren zu sein. Aber auch Faktoren wie Leistungsbereitschaft, Motivation, Erfindungsgabe, Fleiß oder Führungsstärke, die zum Erwerb von Reichtum führen können, sind kein Verdienst. Sie wurden entweder in die Wiege gelegt oder durch günstige Umstände im Aufwachsen gefördert. Die Scham macht uns darauf aufmerksam, dass wir uns letztlich überhaupt keine Verdienste gutschreiben können, sondern einzig und allein dankbar sein sollten, für das, was wir erhalten haben. Diese Dankbarkeit bewahrt uns vor jedem Hochmut, der sich allzu einfach mit Reichtum verbindet. Mit dieser Haltung brauchen wir keine Ideologien, um die Schamspannung zu verdrängen.

 


Donnerstag, 11. August 2022

Die frühkindlichen Wurzeln der Ideologien

Ideologien sind Fantasiegebilde, die die Übersichtlichkeit in komplexen Situationen versprechen. Die Fantasie bewirkt, dass die Ideologie nur lose mit der Wirklichkeit in Verbindung steht, sie nimmt ein paar Elemente und filtert die meisten aus. Die von ihren Zusammenhängen isolierten Elemente werden verallgemeinert, deshalb All-Aussagen. Geben Sicherheit auf der Emotionalebene. Sicherheit auf der Emotionalebene brauchten wir als Embryos im Mutterleib. Deshalb ist jede Ideologie mitsamt ihren Symbolen geladen von embryonalen Themen. Ideologien dienen den frühkindlichen Sicherheitsbedürfnissen. Sie sind ungeeignet für das Verstehen der Realität und für das Entwickeln von konstruktiven Handlungen. Sie wirken retraumatisierend, d.h. sie verstärken die Traumalast, die vor allem in der pränatalen Phase entstanden ist und befestigen die Abwehr dagegen.

Ideologien wirken erwachsen und richten sich auch vorwiegend an Erwachsene. Denn sie werden in sprachlicher Form übermittelt und folgen einer Logik, die stringent wirkt, aber nur Sinn macht, wenn die jeweiligen Grundannahmen akzeptiert werden. Diese Grundlagen und Ausgangspunkte bleiben aber im Dunkeln und sollen außer Frage stehen. Jeder Versuch, die Vorannahmen herauszuarbeiten und mit der Realität zu konfrontieren, muss bekämpft werden, weil er das ganze Gebäude der Ideologie bedroht. Ideologien entstehen also nicht aus der Realität, sondern sie nutzen die Realität ausschnittsweise oder verzerrt, um das eigene Konzept und Narrativ plausibel zu machen und zu begründen.

Sie sind also kindlichen Ursprungs, vorrational, traumähnlich und emotional geladen. Sie tragen die Traumaenergie aller nicht geheilten frühen Verletzungen in sich. Sie kommen aus der rechten Gehirnhemisphäre und sprechen ihre Anhänger auf dieser Ebene an. Wie wir wissen, verfügen Embryos und Babys nur über die emotional geprägte rechte Gehirnhälfte. Die linke Hälfte entwickelt sich langsam während der Kindheit, verbunden mit dem Erwerb der Sprache. In diesem Prozess verändert sich die Wirklichkeitserfahrung: Ursprünglich gibt es keine klare Grenzen zwischen Realität und Fantasie; erst die linke Hemisphäre sorgt für die Unterscheidung zwischen Fakt und Fiktion, zwischen innen und außen und zwischen Vergangenheit und Zukunft.

Jede Traumaerfahrung bringt zurück in die vorrationale Sphäre des Erlebens und Wahrnehmens. Damit bieten sich kollektive Traumafelder als ideale Nährboden für Ideologien an. Die Pandemiezeit hat viele Beispiele für diesen Zusammenhang hervorgebracht. Menschen, die sich im Bann eines individuellen oder eines kollektiven Traumas befinden, sind gelähmt und verunsichert; sie klammern sich deshalb oft an die Strohhalme, die Ideologien oder Verschwörungstheorien anbieten. Selbst eine Idee ohne jeden Bezug zur Realität kann ein Stück Sicherheit und Orientierung bieten, das dringend benötigt wird. Auf diese Weise verbindet sich die Überlebenshoffnung mit der Theorie oder Ideologie bis hin zu einer Identifizierung. Wenn diese Fixierung erfolgt ist, muss die Ideologie um den scheinbaren Preis des Überlebens verteidigt werden. Das gedankliche Konstrukt ist voll mit Emotionen aufgeladen und wird mit unterstützenden Informationen abgesichert und vor widersprechenden Informationen abgeschottet. In Extremfällen wird das eigene Selbst über die Ideologie definiert.

Erwachsensein heißt, die eigenen Fantasien beständig an der Realität zu überprüfen, also das Innere mit dem Äußeren abzugleichen. Erwachsensein ist mit der Erfahrung der permanenten Veränderung, der Unbeständigkeit und des fortlaufenden Lernens vertraut. Erwachsenwerden bedeutet, sich von Identifikationen zu lösen und das eigene Selbst in jedem Moment neu zu definieren. Das erwachsene Selbst umfasst auch das kindliche Selbst, aber es ist dafür zuständig, dass es zwischen diesen beiden Instanzen eine klare Unterscheidung gibt, dass sich also das innere Kind nicht unerkannt in die erwachsenen Agenden einmischt.

Ideologien tragen nichts zum gesellschaftlichen Fortschritt bei, im Gegenteil, sie sind Hemmschuhe der sozialen und politischen Evolution. Die Aufklärung umfasst das Unterfangen, Ideologien mit der Realität zu konfrontieren und auf dieser Weise ihrer sinnstiftenden Macht zu entkleiden. Eine Welt ohne Ideologien ist eine Welt, in der die Erwachsenen das letzte Wort haben und die Verantwortung für die Entscheidungen tragen, die die Zukunft der Menschheit betreffen.

Zum Weiterlesen:
Kindsein und Erwachsensein
Das Kind in uns
Verschwörungstheorien und Normalitätsscham
Wirklichkeit und Fantasieprodukte

Montag, 8. August 2022

Verletzlichkeit, Teil des Menschseins

„Ich bin verletzt.“ „Du hast mich verletzt.“ „Sie war ganz verletzt.“ Solche Äußerungen fallen immer wieder in der Kommunikation, und in den meisten Fällen geht es nicht um körperliche Verletzungen, sondern um seelische Wunden. Wie wir wissen, können bei Menschen emotionale Verletzungen die gleichen Reaktionen im Gehirn hervorrufen wie körperliche Verwundungen.

Was sind Verletzungen? Sobald wir uns mit einem Messer schneiden, reagiert der Körper sofort durch das Austreten von Blut und signalisiert die Verletzung nach innen mit einem Schmerzreiz. Analog erleben wir seelische Verletzungen. Sie entstehen dadurch, dass etwas von außen in unsere Sphäre eindringt, das uns Schmerz bereitet, weil wir es als schädlich, feindlich und bedrohlich erleben. In diesem Fall reagiert die Seele. Obwohl der Körper heil bleibt, leiden wir.

Körperliche und emotionale Verletzungen tun weh, körperlich und/oder psychisch. Deshalb meiden wir die Gefahren für Verletzungen, so gut es geht, und wollen es auch tunlichst unterlassen, andere zu verletzen. Denn Verletzungen, die wir anderen zufügen, schmerzen uns auch selber, wenn wir emotional mit der Person verbunden sind, die wir verletzt haben. Zusätzlich dazu lösen sie bei uns ein Schamgefühl aus. Die Scham meldet sich nämlich sofort, sobald eine Verletzung im zwischenmenschlichen Bereich auftritt.

Da die Scham die Wächterin über die sozialen Beziehungen ist, schaut sie auch darauf, dass es im sozialen Netzwerk möglichst zu keinen Verletzungen kommt. Sie sagt: Hüte dich davor, jemandem weh zu tun, denn dann melde ich mich und bereite dir ein äußerst unangenehmes Gefühl. Sie wirkt also zur Abschreckung vor Respektlosigkeiten und Grenzüberschreitungen und hilft uns bei der Impulskontrolle, sodass wir die Neigungen, andere achtlos zu behandeln, möglichst im Keim unterbinden.

Wir können nicht nicht verletzen

Wir können nicht nicht verletzen, wenn wir uns in sozialen Beziehungen bewegen, und das tun wir die ganze Zeit. Es kommt deshalb immer wieder zu Störungen in der Kommunikation, zu Missverständnissen und zu Verletzungen. So unvollkommen die Menschen sind, so unvollkommen sind auch ihre Beziehungen. Wir können unsere Achtsamkeit verbessern und daran arbeiten, sensibler für die Grenzen und für die heiklen Punkte bei anderen Menschen zu werden. Dennoch sind und bleiben unsere Mitmenschen Mysterien, die wir nie zur Gänze verstehen können, und wir sind Mysterien für sie.

Die Unendlichkeit der Unterschiede unter den Menschen

Daraus folgt, dass die Menschen über ganz unterschiedliche Empfindlichkeiten und Störungsquellen verfügen, die in den verschiedenen Beziehungen aktiviert werden. Diese Unterschiede tragen zur enormen Komplexität und Vielschichtigkeit der zwischenmenschlichen Beziehungen bei. Und deshalb ist es gar nicht möglich, einander nicht zu verletzen. Selbst bei den besten Absichten können wir nicht alle Faktoren berücksichtigen, die eine Verletzung bei anderen auslösen können.

Die Auslöser für Verletzungen sind nämlich so vielfältig wie es Menschen gibt. Was den einen stört und aufregt, ist für den anderen eine willkommene Abwechslung oder eine Hilfe. Es gibt Menschen, die sich verletzt fühlen, wenn sie einen Ratschlag bekommen, andere sind dankbar dafür. Viele reagieren beleidigt, wenn sie auf einen Fehler hingewiesen werden, andere nehmen es als sinnvollen Hinweis für eine Verbesserung.

Unter den Menschen treten auch unterschiedliche Grade der Verletzbarkeit auf. Manche Leute stecken Beleidigungen mit Humor weg oder bleiben so bei sich, dass sie nicht getroffen werden, sondern gelassen bleiben. Andere sind von feinen atmosphärischen Verstimmungen gleich tief verletzt. Was die eine gar nicht bemerkt oder nicht ernst nimmt, löst bei der anderen eine emotionale Krise aus. Jemand vergisst schnell, was ihm Schlimmes passiert ist, jemand anderer muss immer wieder und lange Zeit daran denken und bleibt dauerhaft gekränkt. Für die eine ist ein Vorkommnis eine Bagatelle, für die andere das gleiche Ereignis eine Katastrophe.

Menschen unterscheiden sich durch ihren Hauttypus; auf der emotionalen Ebene spricht man von dünnhäutig und dickhäutig, je nachdem, wie leicht oder schwer die Reaktion auf eine Verletzung ausgelöst wird. Dünnhäutige Menschen spüren sofort, wenn ihnen etwas zuwider läuft. Dickhäutige hingegen merken nicht oder kaum, wenn sie schlecht behandelt werden. Sie gehen scheinbar darüber hinweg, können aber oft dann nachträglich darunter leiden und sich ärgern, nicht rechtzeitig darauf reagiert zu haben. Den Dickhäutern spricht man deshalb ein Langzeitgedächtnis für erlittene Verletzungen und Demütigungen zu, das zu verheerenderen Reaktionen anstiften kann als sie bei Dünnhäutigen vorkommen. Sie verfügen über ein emotionales Fass, das lange nicht voll ist, aber dann kommt der Tropfen, der es zum Überlaufen bringt, und der bewirkt dann eine Explosion, die sich gewaschen hat. Er führt dann unter Umständen zu einer Gewaltaktion oder zum kompletten Beziehungsabbruch, der für die andere Person völlig überraschend kommt und nicht nachvollziehbar ist.

Das Bewerten der Verletzlichkeit

Es hilft nicht weiter, wenn wir Bewertungskriterien einführen und z.B. Menschen, die ganz leicht verletzbar sind, als übersensibel und hysterisch abwerten, oder die, die viel weniger verletzbar sind, als unsensibel und verhärtet diagnostizieren. Denn die Auslöser für Verletzungen und die Tiefe von Verletzungserfahrungen sind von Faktoren bestimmt, über die kein Mensch die Kontrolle hat, sondern die vom Unbewussten aus gesteuert werden. Sie reichen von genetischen und epigenetischen Komponenten über die persönliche Traumageschichte zu den im Leben erlernten Konditionierungen und Mustern, die in den verschiedenen zwischenmenschlichen Beziehungen aktiviert werden.

Wer andere wegen ihrer leichten Verletzbarkeit abwertet, sollte lieber bei sich selber nachschauen, ob nicht hinter der Abwertung ein Schutz für die eigene Verletzlichkeit steckt. Die eigenen Wunden zu spüren ist riskant. Es könnte ja sein, dass jeder dann genau diese heiklen Stellen treffen könnte. Also ist es für manche leichter, sich unverletzlich zu geben und als projektiven Schutz die Verletzlichkeit anderer zu kritisieren. Der Halbgott Achill und der germanische Held Siegfried mussten qualvoll sterben, obwohl sie fast unverwundbar waren. Sie dienen als Mahnmal für die Brüchigkeit der Illusion der Nichtverletzbarkeit. Wilhelm Reich hat diese Abwehr als Panzerung bezeichnet und damit ebenfalls eine Analogie zur Gewalttätigkeit gezogen, die die Kehrseite der Verletzlichkeit darstellt: Wer nicht verletzbar ist, kann umso leichter andere verletzen. Wer nicht umgebracht werden kann, kann umso leichter andere Umbringen. Er ist der bessere Krieger, messbar an der Zahl der erschlagenen Feinde.

Selbstabwertung

Weiters ist es auch nicht hilfreich, sich selbst wegen der eigenen Verletzbarkeit abzuwerten und uns z.B. mit anderen zu vergleichen, die weniger empfindlich sind. Die eigene Verletzungsgeschichte können wir nicht ungeschehen machen, sie ist passiert, wie sie passiert ist, und sie hat uns zu dem gemacht, was wir sind. Wir können aber aus den alten Belastungen herauswachsen und die alten Wunden heilen, sodass sie in der Gegenwart nicht mehr oder nicht mehr in dem früheren Ausmaß aktiviert werden.

Im selben Maß können wir unsere Kompetenz im Verständnis für die Täter erweitern und vergrößern. Statt ihnen böse Absichten zu unterstellen, können wir die „Unschuldsvermutung“ anstellen, d.h. annehmen, dass sie aus Unwissenheit und Unbewusstheit so gehandelt haben, wie sie gehandelt haben. Sie sind keine vollkommenen Menschen, wie wir selber.

Vermeidungsformen

So unterschiedlich die Quellen für Verletzungen sind, so unterschiedlich sind auch die Vermeidungsformen des Verletzens. Es gibt die Rationalisierung, z.B. durch die Erklärung, dass es wohl nicht so gemeint war. Oder die Umwandlung der Verletzung in Wut, nach dem Motto: Angriff ist die beste Verteidigung. Eine andere Möglichkeit bietet der Rückzug ins Beleidigtsein, indem durch einen Kontaktabbruch signalisiert wird, was einem angetan wurde. Oder die Retourkutsche, bei der z.B. eine Beleidigung mit einer Gegenbeleidigung beantwortet wird.

Entsprechend der Rollen, die wir in der Kindheit übernommen haben, bilden wir Programme aus, die später unser Leben bestimmen. Eines dieser Programme lautet: „Ich darf niemanden verletzen.“ Die Begründung dieses Verbots kann darin liegen, dass es fast unerträglich ist, andere in ihrem Verletztsein sehen zu müssen. Es handelt sich um eine Identifikation …ist so mächtig, dass der eigene Schmerz so stark ist wie bei der anderen Person. Es handelt sich gewissermaßen um eine Überreaktion der Spiegelneurone. Es fällt schwer, das Eigene vom Fremden zu unterscheiden. Sobald eine andere Person verletzt ist, brechen die Ich-Grenzen zusammen und der eigene Schmerzkörper schlüpft, bildlich gesprochen, in die verletzte Person hinein.

Hinter diesem Muster steckt das Verbot, die eigenen Verletzlichkeiten spüren zu dürfen, und das Gebot, die Leidenszustände und Schmerzen der anderen, vor allem der Eltern wichtiger zu nehmen als die eigenen. Das eigene Ich darf keine klaren Grenzen haben, damit es seine Sensoren bei den anderen hat, um deren Grenzen nicht zu verletzen.

Manche Menschen halten es für riskant, andere zu verletzen, weil sie sich vor der Reaktion fürchten, die verheerend ausfallen könnte. Diesem Muster liegen entsprechende Erfahrungen aus der Kindheit zugrunde: Das Kind verärgert einen Elternteil, der darauf mit viel Zorn oder physischer Gewalt reagiert. Es wird die Schlussfolgerung gezogen, dass es überlebenswichtig ist, penibel auf die Grenzen der anderen Menschen zu achten, um ja keinen Fehler zu begehen. Falls doch ein Schritt zu weit geschehen ist, der bei den anderen Unmut auslösen könnte, muss schnell die Notbremse gezogen werden. Die rechtzeitige oder besser noch vorzeitige Zurücknahme der eigenen Impulse wird zum Programm. Zu diesem Zweck entwickelt sich eine verfeinerte Wahrnehmung für die subtilen Signale, die andere aussenden, bevor sie noch ihre Grenzen als überschritten erachten. Die Wahrnehmung ist also vorwiegend auf solche Signale ausgerichtet, mit dem Zweck, schon im Vorfeld jegliche Gefahr von aggressiven Reaktionen zu unterbinden. Diese eingeprägte Haltung bewirkt, dass der Kontakt nach innen geschwächt wird und die eigenen Bedürfnisse hintan gereiht werden. Damit wird der Selbstwert geschwächt und statt dessen die Anpassungshaltung gestärkt: „Andere sind wichtiger als ich. Was ich will, ist weniger wichtig als das, was die anderen wollen.“ Es verbergen sich hinter dieser Haltung viele Ängste und Schamgefühle.

Freilich gibt es zu diesem Muster auch das Gegenprogramm, das in die Aggression statt in die Anpassung geht und die Opfer- in eine Täterposition umwandelt: „Ich muss andere verletzen, sonst bin ich nicht sicher.“ Es entsteht aus einer Vielfalt und langen Dauer von Verletzungserfahrungen und soll als präventiver Schutz vor weiteren schmerzhaften Erfahrungen dienen. Lieber sollen andere leiden als ich, der ich schon so viel erdulden und durchleben musste, so die Devise. Es handelt sich dabei um eine eingeprägte Rachereaktion, mit der die Seele versucht, ihr Gleichgewicht auf Kosten anderer wieder herzustellen. Solche Programme führen allerdings vor allem dazu, dass die Hemmschwelle zum Verletzen anderer sinkt und damit das Ausmaß an Leid und Unsicherheit wächst. Langfristig wird die Basis des wechselseitigen Vertrauens zerstört, und ihr Wiederaufbau ist dann sehr mühsam und langwierig.

Verständnis für die Schwächen stärkt

Jede menschliche Gesellschaft braucht für ihren Zusammenhalt den Respekt und die Achtung für die individuelle Verletzlichkeit ihrer Mitglieder. Das Menschsein umfasst starke und schwache Seiten, sichere und unsichere Element, und das gesamte Spektrum gehört gesehen und wertgeschätzt. Eine Gesellschaft ist umso stärker, je mehr Raum sie für die Schwächen ihrer Mitglieder hat.

Zum Weiterlesen:
Die toxische Männlichkeit und die Verletzlichkeit
Scham und Verletzlichkeit
Verletzlichkeit und Würde
Die Zerbrechlichkeit und Unzerstörbarkeit der Menschenwürde