Mittwoch, 29. Oktober 2014

Die Erste-Person-Perspektive als Wissenschaft


Die Erste-Person-Perspektive und die Dritte-Person-Perspektive


Wenn wir über Wissenschaft reden, meinen wir üblicherweise eine Wissenschaft, die auf der Dritten-Person-Perspektive (3PP) begründet ist. Eine solche Wissenschaft beruht auf objektiven Fakten und auf Schlussfolgerungen, die auf Regeln beruhen, die von einer breiten Öffentlichkeit geteilt werden. Wissenschaftliche Erkenntnisse müssen valide und wiederholbar sein, sodass sie auch von anderen Mitgliedern der wissenschaftlichen Gemeinschaft überprüft werden können. Das Prinzip der Falsifizierbarkeit nach Karl Popper sollte anwendbar sein: Es muss bei einer Theorie grundsätzlich möglich sein, dass ihre Falschheit bewiesen werden kann. Wissenschaftliche Erkenntnisse sind solche, die keine absolute Geltung in Anspruch nehmen.


Wissenschaft des inneren Sinns


Auch wenn das die gewohnte Form von Wissenschaft ist, die wir gut kennen, so ist es doch nicht die einzige. Denn neben der 3PP verfügen wir immer auch über eine 1-Person-Perspektive (1PP), ein unmittelbares Wissen über uns selbst, das nur uns selbst zugänglich ist. Wo es Wissen gibt, kann es grundsätzlich auch eine Wissenschaft geben. 

Worin könnte nun eine Wissenschaft der Ersten-Person-Perspektive (1PP) bestehen? Deren Daten sind subjektiv und nur für die inneren Sinne zugänglich. Folglich sind sie singulär und einzigartig. Es gibt keine Möglichkeit zur Wiederholung und Falsifikation im traditionellen Sinn. Dennoch können die Daten und die Theorien, die aus ihnen abgeleitet sind, kommuniziert, evaluiert und verglichen werden.

Als die Wissenschaften begannen, die Welt der Kognitionen zu erobern, war die 1PP-Wissenschaft so wichtig und anerkannt wie die 3PP-Wissenschaft. Es wurde jedoch die 3PP-Wissenschaft im Lauf des 20. Jahrhunderts vorherrschend und diktierte den Goldstandard für Wissenschaftlichkeit, während die 1PP-Wissenschaft an den Rand der Welt der Wissenswelt verbannt wurde. Zusätzlich gewann die 3PP-Wissenschaft eine tonangebende Rolle für Gesellschaft und Politik, indem sie eine zentrale Rolle in der Welterklärung beanspruchte und verlangte, dass vernünftige Entscheidungen für das Leben von einzelnen wie von Staaten auf ihren Prinzipien beruhen sollten.

Die Vorteile der 3PP sind offensichtlich und beziehen sich auf ein Alltagsverständnis von Wahrheit. 3PP-Wissen leitet sich aus Daten ab, die wir über die äußeren Sinne empfangen: Sehen, hören, berühren, riechen, etc. Auf diese Weise nehmen wir Objekte wahr. Die Wahrnehmung der Objekte wird von jedermann geteilt: Wer schon in Paris war, kann bestätigen, dass es dort einen Eiffelturm gibt. Wer noch nicht dort war, kann hinfahren und die Wahrnehmung der anderen bestätigen. Aber sie können auch an das glauben, was ihnen andere berichten: "Ich habe den Eiffelturm mit eigenen Augen gesehen." Das wird zu einer verlässlichen Wahrheit, wenn ihre eine bestimmte Anzahl von Personen zustimmt.

Wenn jemand sagt: "Ich habe gesehen, wie ein Raumschiff in meinem Garten gelandet ist", so würden wir dieser Person nur glauben, wenn es eine genügende Anzahl von anderen Leuten bestätigen könnte. Dann könnten wir einen Konsens über die objektive Existenz des Raumschiffes bilden. Käme jemand und behaupte, dass da kein Objekt wäre, können wir an seinen Sinnen oder seinem Verstand zweifeln. Wenn jedoch eine genügend große Anzahl von Leuten die Existenz des fraglichen Objekts leugnen, müssen wir die Objektivität seiner Existenz aufgeben. (Nebenbei gesagt: 20% der US-Einwohner glauben an außerirdische Entführung - stellen wir uns nur vor, dass nur jene an der Umfrage teilnehmen konnten, die heil von der Entführung zurückgekommen sind - und was machen wir, wenn eines Tages die Zahl der Alien-Überzeugten die magischen 50 Prozent überschreitet?)

Soll also eine Theorie angenommen werden, müssen die Daten und die Schluss folgerungen von der Wissenschaftsgemeinschaft (scientific community) akzeptiert werden. Ohne deren Segen bleibt jedes Forschungsergebnis eine private Spekulation.

Mitglieder dieser Gemeinschaft der Wissenschaftler sind Menschen, die sich gemäß den wissenschaftlichen Standards verhalten. Sie brauchen eine Form der ethischen Integrität, aus der heraus sie sich an die Regeln der Wissenschaft halten und ihnen entsprechend handeln. Es ist also ein 1PP-Standard erforderlich, damit die 3PP-Wissenschaft funktionieren kann. Sich wissenschaftlich zu verhalten, ist keine "normale" Form des Verhaltens, sondern eine sehr exklusive und extravagante Form, sich mit der Welt auszutauschen. Sie erfordert eine gründliche Ausbildung und die Disziplin, Objekte mit Geduld und ohne Vorurteile zu studieren. Z.B. kann das bedeuten, Stunden, Tage und Wochen durch ein Mikroskop oder auf einen Computerbildschirm zu starren. 

Jemand, der nicht bereit ist, diese Disziplin auf sich zu nehmen, wird nicht in der Lage sein, die Theorien irgendeiner Wissenschaft zu wiederholen oder zu falsifizieren. Deshalb verlässt sich die 3PP-Wissenschaft auf 1PP-Qualitäten, die sie braucht, damit sie so arbeiten kann, wie sie arbeitet.


An den Schnittstellen


Gegen Ende des letzten Jahrhunderts und fortgesetzt ins neue Millennium sind neue Tendenzen aus den 3PP-Wissenschaften hervorgegangen, die sich zunehmend den Grenzen der 1PP annähren. Das prominenteste Beispiel dafür sind die Neurowissenschaften, die beträchtliche Fortschritte verzeichnen  konnten und konsequent an der Schnittstelle von Gehirnprozessen und Erfahrungen, von Objektivität und Subjektivität, von 3PP und 1PP arbeiten.

Untersuchungen zum Placebo-Effekt haben paradoxe und widersprüchliche Ergebnisse gebracht. Diese rätselhaften Phänomene können wahrscheinlich nur erklärt werden, wenn eine 1PP dazugenommen wird. Ein anderer Wissenschaftszweig beruft sich auf die Embodiment-Theorie: Körper und Verstand dürfen nicht getrennt betrachtet werden. Jedes Studium des menschlichen Verstandes muss die komplementären Prozesse auf der Körperebene miteinschließen und benötigt dazu folglich eine 1PP.

Die Epigenetik, ein weiterer Zweig der modernen wissenschaftlichen Froschung, konnte belegen, dass die Gene permanent mit ihrer zellulären Umgebung interagieren und ihre Funktionen den aktuellen Bedürfnissen der Zelle und des ganzen Organismus anpassen. Wenn es gelingt, Methoden zu finden, die diese interaktiven Prozesse für Heilungszwecke regulieren und modulieren, dann kann sich hier ein fruchtbares Feld für gemeinsame 1PP- und 3PP-Forschungen eröffnen.

Weitere Gebiete für eine Kombination von objektiver und subjektiver Wissenschaft können in den Psychotherapie-Wissenschaften und in neuen Zugängen in der Medizin wie z.B. in der personzentrierten Medizin gefunden werden. 

Deshalb sollte die Wissenschaftstheorie die neuen Möglichkeiten in der Kooperation und Integration von 1PP und 3PP berücksichtigen: Der Vorzug der 3PP, der in einem allgemein akzeptierten zuverlässlichen Weg zur Gewinnung von objektiven Erkenntnissen und relativen und nützlichen Wahrheiten besteht,  könnte mit einer wissenschaftlichen 1PP kombiniert werden. Denn diese stellt einen unverzichtbaren Zugang zu Daten zur Verfügung, die durch die 3PP niemals gefunden werden können und die wesentlich sind, damit wir uns einer vollständigen Erklärung der Wirklichkeit und ihrer Funktionsweise annähern können

Das ist der Grund, warum wir eine inklusive Form des wissenschaftlichen Wissens am Horizont sehen. Es wird notwendig sein, um einerseits bestmöglich für das menschliche Wohl zu sorgen und andererseits die wissenschaftliche Verlässlichkeit zu gewährleisten. Dazu wird auch die Mitberücksichtigung einer Zweiten-Person-Perspektive erforderlich sein, die das Wissen, das aus zwischenmenschlichen Beziehungen erwächst, zum Gegenstand hat, und einer Ersten-Person-Plural-Perspektive, welche sich um das Wissen kümmert, das sich in kollektiven Erkenntnissen, in der Weisheit von Gruppen, Gemeinschaften und größeren Gesellschaftsformationen findet.

Wir müssen diese Perspektiven in die wissenschaftliche Forschung integrieren, wenn wir ein holistisches wissenschaftliches Modell der Welt erstellen wollen. Daten aus den verschiedenen Quellen der Wahrnehmung sollten gleichermaßen zum wissenschaftlichen Fortschritt beitragen, als Äquivalent zu einer demokratischen Gesellschaft. Dann können wir auch neue Zugänge zu den Fragen um die Gesundheit finden, die auch von Menschen akzeptiert werden können, die sich skeptisch und enttäuscht vom wissenschaftlichen Denken abgewandt haben, weil diesem die 1PP-Erfahrungen fehlen.

Wenn es gelingt, dieses inklusive wissenschaftliche Wissen über die Welt im allgemeinen und über die Menschen im besonderen in eine akzeptable und nutzbringende Form zu bringen, können wir neue Perspektiven zu wichtigen Fragen öffnen: Was ist Gesundheit? Was ist der Mensch? Was ist das Selbst als Horizont für inneres Wachstum?

Aus einem Vortrag zum Thema "What Science can Learn From Breathwork?", gemeinsam erarbeitet von Wolfgang Fellner und Wilfried Ehrmann für die Konferenz der International Breathwork Foundation im Juli 2014 in Irland

Vgl.
Die Verdinglichungstendenz
Das innere Wissen und eine neue Methodologie
Das innere Wissen und sein Beitrag für die Welt

Dienstag, 28. Oktober 2014

Über die Brauchbarkeit des Zufalls

Die interchromosomale Rekombination


Wenn wir Abläufe in der Natur beobachten, wie z.B. die sogenannte „interchromosomale Rekombination“, erkennen wir ein wichtiges und interessantes Funktionsprinzip der Natur. Bei der Rekombination geht es um die Verbindung der Chromosomen nach der Empfängnis, sprich um die Wurzel unserer Individualität.  Die Biologen haben ausgerechnet, dass die zwei Keimzellen, also die Eizelle und die Samenzelle, jeweils aus 8,9 Millionen Möglichkeiten ihres genetischen Setup „auswählen“ konnten. Wenn nun die zwei Chromosomensätze zusammenkommen, um ein neues Menschenwesen zu bilden, gibt es ca. 35 Billionen Kombinationsmöglichkeiten. Außer bei eineiigen Zwillingen ist es damit praktisch ausgeschlossen, dass ein Menschenpaar zwei genetisch gleich ausgestattete Kinder bekommt. Die Natur sorgt also dafür, dass bei der Neubildung des Lebens eine riesige Auswahl und eine praktisch unbegrenzte Variabilität zur Verfügung steht.

Zwei Erklärungsmodelle


Wir können uns für dieses Vorgehen der Natur zwei Erklärungen vorstellen:
In der ersten Erklärung wird der Zufall in die zentrale Position gesetzt. "Von Natur aus" gibt es an dem Entscheidungspunkt, zu dem die Entwicklung führt, eine riesige Anzahl von Möglichkeiten, die es höchst unwahrscheinlich macht, dass zweimal das Gleiche gewählt wird. Zufall heißt dabei, dass es von außen keine Möglichkeit gibt, vorauszusehen, wie die Entscheidung in der Rekombination ausfallen wird. Wir akzeptieren damit, dass es in den biologischen Entwicklungsreihen des Lebens Prozesse gibt, deren Ergebnis nicht logisch aus den Ausgangsbedingungen abgeleitet werden kann, wie z.B. der Vorgang einer Zellteilung an sich. Vielmehr zeigt sich, dass das Neue durch das Alte, das Aktuelle durch das Vorige nicht vorbestimmt ist, sondern dass etwas Überraschendes geschieht und geschehen muss, dass also etwas zufällig geschieht. Diese Erklärung setzt also notwendig den Zufall voraus.

Die zweite Erklärungsmöglichkeit besagt, dass es "hinter" dem Ablauf, der von außen betrachtet als zufällig erscheint, eine planende und kontrollierende Intelligenz gibt, die den Entscheidungsprozess so lenkt, dass sich nichts Gleiches wiederholen kann. Gewissermaßen, bildlich vorgestellt, sitzt jemand vor einer Liste mit 25 Billionen Posten und teilt jedem einzelnen biologischen Prozess, der an den Entscheidungspunkt gelangt, eine Möglichkeit zu, die dann abgehakt wird. Um allerdings sicherzustellen, dass diese Instanz nicht einfach irgendwie blind entscheidet, also zufällig, wird noch behauptet, dass sie sich in jedem Fall überlegt, was sie da entscheidet. Hinter jeder Entscheidung soll also eine Idee oder ein Zweck stecken.

Was ist der Erkenntnisgewinn dieses Modells? Es wird eine nicht-natürliche, also metaphysische Instanz eingeführt, die in der Wirklichkeit nicht vorkommt, die also fiktiv ist, und die garantieren soll, dass die Vorgänge der Natur so ablaufen, wie sie sowieso ablaufen. Die Abläufe in der Natur werden gewissermaßen verdoppelt durch eine Intelligenz, die das alles, was abläuft, absegnet.

Ähnliches haben die Forscher in unserem Gehirn beobachten können: Unbewusste Areale treffen aus einer Auswahl von Möglichkeiten eine Entscheidung, und anschließend stellt die bewusste Instanz fest, dass die unbewusste Wahl eine bewusste, willentliche war. Die unbewusst schon gefällte Entscheidung wird nachträglich mit dem Siegel der Bewusstheit versehen.


Diese Instanz befriedigt also nicht mehr und nicht weniger als ein Sicherheitsbedürfnis, das wir brauchen, und das irritiert wird, wenn etwas Wichtiges, in dem Fall unsere eigene Individualität,"einem blinden Zufall überlassen" bleibt.

Dafür ist es auch gut und nützlich. Wann immer wir mit der Wirklichkeit auseinander fallen, in der wir uns befinden, öffnen wir uns für eine duale Sichtweise, die uns Sicherheit verspricht. Wann immer uns etwas in der Wirklichkeit überfordert, suchen wir etwas außerhalb dieser Wirklichkeit, das uns unterstützt. Wir brauchen eine äußere Instanz, die uns sagt, dass es gut ist, dass wir uns sicher fühlen dürfen. Es geht uns wie Kindern, die vor etwas Angst empfinden, das sie nicht kontrollieren können, und die dann jemanden brauchen, der ihnen sagt, dass sie sich nicht fürchten müssen.

Bescheidenheit


Im Fall der ersten Erklärung bescheiden wir uns damit, dass es inhaltlich nicht erklärbare Übergänge in der Natur gibt, die den Spielraum für Überraschungen lassen. Wir geben uns damit zufrieden, dass die Natur selber dafür sorgt, dass sie sich in einer unbeschränkten Vielfalt weiter entwickelt, ohne dass wir wissen können, in welche Richtung diese Entwicklung geht, weil eben an zentralen Schaltstellen Zufallssituationen vorkommen.

Im Grund ermutigt uns die erste Erklärung also, uns mit dem Zufall zu begnügen und der natürlichen Entwicklung die Spielräume zu belassen, während die zweite Erklärung meint, dass es keinen Zufall, sondern nur Notwendigkeiten geben soll und muss. Dazu wird eine Position eingeführt, die für diese Notwendigkeit sorgt, aber sonst weiter nichts zur Wirklichkeit beisteuert. Beide Positionen befriedigen also ganz einfach unterschiedliche Bedürfnisse - menschliche Bedürfnisse, und sagen nichts darüber aus, was in Wirklichkeit geschieht. Denn dort laufen die Prozesse einfach ab, und an vielen Punkten so, dass es praktisch zu keinen Wiederholungen kommt. Mit einer bescheidenen Erklärung bleiben wir nahe an der Natur dran, ohne ihr etwas Nichtnatürliches hinzufügen zu müssen.

Wir sind frei, es beim Zufall zu belassen oder eine weitere Ebene einzuführen, die den Zufall in eine Notwendigkeit umwandelt. Doch sind wir gut beraten, uns klarzumachen, dass wir selber es sind, die ein solches Erklärungsprinzip erfinden.

Wir gewinnen die Sicherheit, dass Zufälle einem Prinzip unterworfen sind, und müssen uns dafür auf die Unsicherheit einlassen, die darin liegt, dass das Prinzip selber nicht unserer Kontrolle unterliegt. Die Konsequenz liegt darin, dass jede Form der Kreativität, also auch die menschliche, nicht einem Zufall entspringt, also einem nichtkontrollierbaren Anfang, sondern einem Plan folgt, einem Plan, der an einem übergeordneten Ort ausgegeben wird.

Einfache und komplexe Konzepte


Die Zufallserklärung ebenso wie die Kreationserklärung sind beide Konzepte oder Modelle über die Wirklichkeit. Wir bilden sie im Grund für pragmatische Zwecke, auch wenn wir manchmal wegen Konzepten streiten als ginge es um das eigene Überleben. Es geht also nicht um richtig oder falsch, sondern um brauchbar oder unbrauchbar, nützlich oder nutzlos. In diesem Sinn sind wir frei, uns jenes Konzept auszusuchen, das uns hilfreicher erscheint, um mit den Widrigkeiten des Lebens zurechtzukommen.

Es kann jedoch sein, dass sich kulturelle Gepflogenheiten, soziale Prägungen, Gruppenumgebungen usw. über diese Pragmatik legen und uns deshalb gar keine Wahlmöglichkeit gegeben scheint, sondern klar ist, wie es nur sein kann, weil die anderen meiner Gruppe oder Herkunftskultur so denken.

Wenn wir uns solche Abhängigkeiten klar machen und uns von ihnen distanzieren, kann als weiterer Gesichtspunkt die Frage von Einfachheit und Komplexität dienen. Üblicherweise sind die einfachen Konzepte praktischer als die komplexen. Außerdem, je größer der Aufwand für ein Konzept ist, der mit der Komplexität steigt, desto höher scheint das emotionale Engagement auszufallen. Wir hängen mehr an solchen komplexen Ideen und Erklärungsmodellen als an einfachen. Deshalb neigen wir mehr dazu, sie zu verteidigen und zu propagieren.

Wenn es jedoch darum geht, Konzepte beiseite zu stellen, um den Blick auf das Wesentliche des Erlebens im Moment richten zu können, haben wir es mit einfachen Konzepten leichter als mit komplexen. Der Abbau der unnötigen Denkbelastungen wird dadurch leichter, dass wir überprüfen, worin der wirkliche Gewinn liegt, wenn wir die komplexere Lösung wählen, in unserem Fall die kreationistische. Was verlieren wir, wenn wir darauf verzichten, dass es eine höhere Intelligenz gibt, die bestimmt hat, wer und wie und was wir sind?




Vgl. Wurzeln unserer Individualität
Evolution und Zufall 
 

Sonntag, 26. Oktober 2014

Dissoziative Weltbilder und die Trennung von Leib und Seele

Wie kommen wir überhaupt auf die Idee, dass Körper und Seele nicht ein und dasselbe sind, sondern zwei verschiedene Entitäten, die zwar immer wieder zusammen sind, dann aber wieder auseinandergehen können? Viele Menschen glauben daran, dass es nach dem Tod endgültig auseinandergeht und das kurzfristige Zusammensein von Körper und Seele ein für allemal vorbei ist. Viele Menschen glauben auch daran, dass es vor dem Beginn der eigenen Existenz schon die selbständige Seele gegeben hat, die dann in den neu entstehenden Körper „hineinschlüpft“.

Deshalb sind auch häufig Sätze zu hören wie: „Ich passe nicht in dieses Leben“, oder „Dieser Körper ist mir fremd oder zu eng“, „Ich gehöre nicht auf diesen Planeten“ usw. Der Glaube an das Getrenntsein von Körper und Seele bietet eine Erklärung für solche Aussagen, hinter denen häufig eine innere Verzweiflung steckt. Er kann beruhigend und versöhnlich wirken: Jetzt muss ich das noch aushalten, und irgendwann finde ich meinen Frieden wieder, wenn ich diesen Körper verlassen kann.

Außerdem bietet der Glaube Trost bei der Vorstellung des eigenen Todes. Wenn nur ein Teil des eigenen Selbst vergeht, ist die Aussicht auf das Sterben nicht so furchterregend als wenn wir uns darauf einstellen müssen, dass mit dem Tod „alles vorbei“ ist. Wir können also die Angst vor dem Nichts ein Stück bannen.

Wenn jemand seinen Glauben mit der Erlaubnis verbindet, diesen unter Anwendung von Gewalt zu verbreiten, dient dieser Aspekt des Glaubens dazu, den eigenen Tod in Kauf zu nehmen in der Erwartung, auf der Seelenebene dafür entlohnt zu werden, das umso mehr, je mehr „Ungläubige“ oder „Andersgläubige“ durch die eigene Tat in den Tod gerissen werden. Die Idee, auf die man in diesem Zusammenhang ja auch kommen könnte, dass sich etwa die Seelen der unschuldig in die Luft gesprengten Opfer der eigenen Gewalttätigkeit auf der Seelenebene dann rächen möchten, wird tunlich vermieden und kommt in der entsprechenden Propaganda nicht vor. Vielmehr werden ungetrübte paradiesische Freuden versprochen, die dann auf ewig anhalten.

Es sind also nicht nur harmlose Selbstberuhigungen von verzweifelten Seelen, die mit Hilfe dieser Glaubensform dem inneren Frieden dienen sollen. Denn ein Gutteil der Brutalität, mit denen um Glaubensfragen gekämpft wurde und gekämpft wird, kann dem dualen Körper-Seelen-Modell zugerechnet werden. Die Todesverachtung der „Gotteskrieger“ lebt von dem Glauben, dass es die beste Investition in das eigene Seelenheil ist, für ebendiesen Glauben zu sterben – ein geschlossenes System, das unendlich viel Unheil auf dieser Welt verursacht oder zumindest mitbewirkt hat.


Das analytische Denken


Fragen nach dem Anfang und dem Ende stehen nicht am Anfang unseres Lebens. Dazu brauchen wir eine weitentwickelte Denkfähigkeit, die sich langsam im Lauf der Kindheit entwickelt. Vorher vollzieht sich unser Leben, ohne dass wir es in einem größeren Zusammenhang einordnen können. Sobald aber unser Denken die Zeitfunktion so weit ausdehnen kann, dass der eigene Anfang und das eigene Ende in den Blick kommen, beginnen wir die Deutungsangebote zu verstehen, die unsere Kultur für diese Themen entwickelt hat, z.B. die Deutung, dass die Seele nach dem Tod des Körpers weiterleben wird, oder dass sie vor der Geburt schon bestanden hat und dann, nach dem eigenen Lebensende, wieder in einem neuen Körper eine neue Chance erhält.

Mit der Entwicklung unserer Denkfähigkeit erhalten wir also die Möglichkeit, Zusammengehöriges als Unterschiedenes zu erleben. Das nennt man das analytische Denken, das etwas Ganzes virtuell in seine Teile zerteilen kann. Z.B. können wir die Platte eines Tisches als unterschieden von seinen Beinen wahrnehmen. Der Tisch bleibt zwar ein Ganzes, aber unser Denken bringt einen Unterschied in ihn hinein.

Diese Funktion ist in vielen Bereichen sehr nützlich, weil sie uns z.B. die Konstruktion von neuen Wirklichkeiten ermöglicht. Ich kann einen Tisch nur fertigen, wenn ich bei einem Tisch die Platte von den Beinen unterscheiden kann. Das analytische Denken zerlegt die Wirklichkeit, sodass wir sie wieder neu zusammensetzen können.

Diese Form des Denkens hat allerdings ihre Grenzen dort, wo es um unser Leben als Ganzes geht. Wir können zwar unsere eigene Lebendigkeit analysieren, also in ihre Teile zerlegen und reflektieren, und das kann manchmal hilfreich sein, z.B. wenn wir einen körperlichen Schmerz spüren, aber uns nicht ganz von ihm ergreifen lassen, damit wir handlungsfähig bleiben. Dem Geheimnis des Lebens – unseres Lebens – kommen wir damit nicht auf die Spur.

Bei der Frage nach dem Verhältnis von Körper und Seele leistet uns eben das analytische Denken keine Hilfe. Es kann uns wohl klar machen, was wir wissen können: z.B. dass wir keine Kenntnis und keine Erfahrung über ein seelisches Bewusstsein haben, ohne dass ein Körper daran beteiligt wäre. Alles, was wir erleben, erfahren, denken setzt diesen Körper voraus. Dieser Bedingungszusammenhang ergibt sich aus den analytischen Untersuchungen, wie sie in wissenschaftlichen Forschungen angewendet werden.

Wie also kommen wir auf die Idee, unseren Körper und unsere Seele auseinander zu denken? Wir können das deshalb, weil wir über Erfahrungen mit dieser Trennung schon gemacht haben. Wenn wir in eine traumatische Situation geraten, spaltet sich unser Bewusstsein vom Körper, der z.B. gerade unerträglichen Belastungen ausgesetzt ist. Das Bewusstsein fühlt sich in dieser Situation frei und gelöst an, und damit ist es möglich, die Situation zu bewältigen, ohne dass alle inneren Systeme zusammenbrechen. Dieser Vorgang der Dissoziation ist uns allen vertraut, weil wir alle derartige traumatische Situationen zu bewältigen hatten. 

Aus diesen Erfahrungen nehmen wir das Gefühl mit, dass es befreiend ist, sich vom Körper zu lösen und vergessen leicht die belastenden Umstände ringsherum. Vielmehr speichern wir ab: Wenn es gefährlich, unangenehm, schmerzhaft oder lebensbedrohlich wird, haben wir die Möglichkeit, uns von uns selber zu trennen und an einen Ort der Sicherheit und Geborgenheit flüchten zu können, wo uns nichts passieren kann.

Deshalb erscheint es uns natürlich und vertraut, wenn uns jemand auf die kindliche Frage, was denn nach dem Tod sei, erzählt, dass die Seele aus dem Körper entweicht und an einem wunderschönen Platz weiterleben wird, oder dass sie sich dann einen neuen Körper suchen wird, den sie dann wieder eine Zeitlang beleben wird. 


Trauma und Dissoziation


Deshalb können wir davon ausgehen, dass die dualistischen Weltbilder dissoziative Weltbilder sind. Sie stellen Versuche dar, die Welt mit Hilfe einer Traumaerfahrung zu erklären und auf diesem Weg „Heilung“ in die Welt zu bringen. Sie ziehen ihre Plausibilität aus der Tatsache, dass vermutlich alle Menschen über solche Traumaerfahrungen verfügen. Sie beruhen allerdings auf einer Illusion und sitzen einer Täuschung auf: Die dissoziative Trennung ist ja keine reale, sondern eine eingebildete. Ein spezieller Schutzmechanismus, den uns die Natur zur Verfügung stellt, bewirkt, dass wir die Illusion bekommen, als wäre die Seele vom Körper getrennt. In Wirklichkeit findet dieses Erleben nach wie vor im Körper, im eigenen Gehirn statt.

Doch ist die Plausibilität so groß und die Bedeutsamkeit der dahinterliegenden Erfahrungssituation so gravierend, dass wir bereit sind, den Glauben über die unmittelbare Erfahrung der Wirklichkeit zu stellen, sodass wir schließlich Körper und Seele als getrennt „erleben“ (wohlweislich durch das traute Zusammenwirken dieses Körpers und dieser Seele).

Dazu wirkt die pragmatische Wirkung verstärkend, weil wir einen Trost für vieles im Leben haben, was uns schwerfällt zu akzeptieren. Was hilft, muss auch wahr sein, und jeder rationale Zweifel daran muss unterdrückt werden, damit diese Hilfsfunktion nicht verloren geht.


Das Ende der Illusionen


Freilich können Illusionen keine Heilung bewirken, sondern nur eine teilweise Erleichterung. Die Ängste, die auf die Traumatisierungen zurückreichen, bleiben erhalten und reduzieren die kreativen Kräfte und binden die Quellen der Lebensfreude. Erst wenn es gelingt, diese Ängste in einer schützenden Umgebung zu durchleben, wird es möglich, die Seele wieder in ihrer Gänze als mit dem Körper verbunden zu erleben. Dann findet die wirkliche „Inkarnation“, die Vergeistigung des Körpers und die Verkörperlichung des Geistes ins unmittelbare Erleben Eingang. Dann wird jeder Glaube an eine Trennung von Körper und Seele überflüssig und nutzlos. Was immer schon eine Einheit war, wird solange eine Einheit bleiben, solange es die Kräfte des Körpers erlauben. Mit ihnen nehmen auch die Kräfte des Geistes ab, wie wir immer wieder beobachten können. Was passiert, wenn sich das Leben aushaucht, wissen wir nicht und brauchen es auch nicht zu wissen, solange wir dem Leben im Augenblick vertrauen.

Wenn wir uns der tröstenden Wirkung des Glaubens an eine Trennung von Körper und Seele hingeben wollen, sollten wir uns bewusst sein, dass wir uns einer Illusion bedienen. Sollten wir denn den Mut finden, nach den Wurzeln unserer Verzweiflung und unserer Ängste zu forschen, so ist uns der Lohn schon in diesem Leben gewiss, und damit schwindet die Gier auf weitere Leben oder auf paradiesische Freuden in einem postmortalen „Leben“. Wir gehen in diesem Lebensmoment auf, der uns schon alles schenkt, was wir zur Erfüllung brauchen.


Vgl. Außerkörperliche Erfahrungen und die Leib-Seele-Dualität
Allerfahrung und Nicht-Dualität
Sind wir zwei oder eins?