Donnerstag, 29. Mai 2014

Die Verdinglichungstendenz

Unter Verdinglichung verstehe ich einen Vorgang, bei dem unser Verstand Prozesse in Dinge umwandelt. Etwas, das in der äußeren Wirklichkeit eine veränderliche Form hat, wird in unserem Inneren etwas Feststehendes und Unveränderliches.

Bei der Verdinglichung handelt es sich um eine Art der verzerrenden Wirklichkeitskonstruktion. Sie ist mit einer Kontaktverminderung zur Wirklichkeit verbunden, sodass man von einer systematischen Entfremdung von dieser Wirklichkeit sprechen kann. Denn die fließende Wirklichkeit im Außen wird in eine starre Repräsentation im Innen überführt. Die Begriffe „Verdinglichung“ und „Entfremdung“ gehören zum Grundrepertoire von marxistischen und neomarxistischen Argumentationen. Ich möchte auf diese Zusammenhänge hier nicht eingehen, sondern die Wirksamkeit dieser Begriffe im Bereich der Wissenserzeugung erörtern.


Die Verdinglichungstendenz


Warum fällt es uns schwer, abstrakte Begriffe wie „Geist“ oder „Seele“ oder „Information“ undinglich vorzustellen, also nicht als Gegenstand? Das Wort „Gegenstand“ kommt ja daher, dass wir, um etwas „konkret“ „fassen“ zu können, etwas brauchen, das sich uns entgegenstellt. Am Widerstand merken wir, was es mit einem Etwas auf sich hat und nehmen dann an, dass das, was uns da entgegensteht, sicher, objektiv und unbestreitbar da ist. Wir sind ja mit dem Kopf gegen die Wand gestoßen, da ist es klar, dass diese Wand real ist.

Alles Nicht-Gegenständliche erscheint uns dagegen als unsicher, instabil und schwer fasslich. Der Klang verschwindet, das gesprochene Wort ist flüchtig. Erst recht innere Vorstellungen, Fantasien und Gedanken haben keinen Bestand, oft haben wir, am Ende eines Satzes, den wir aussprechen, den Anfang schon vergessen. Das ist wohl der Grund, warum der Seh- und der Tastsinn eine dominante Rolle in unserer Wirklichkeitserfahrung einnehmen und als Garanten für sichere Tatsachen stehen.

Aus diesem Sicherheitsgefühl stammt unsere Tendenz, alle unsere gedanklichen Erzeugnisse mit visuellen und gegenständlichen Merkmalen zu versehen. Eine Idee beginnt zu wirken, wenn wir ein markantes Bild von ihr haben. Damit können wir sie „festhalten“ und auf sie „zurückgreifen“, das Visuelle dabei mit dem Haptischen verbindend.

Relatives Wissen ist jedoch nie absolut, d.h. es ist in seiner Gültigkeit immer beschränkt. Seine Relativität bedeutet, dass es kontextabhängig ist, also immer nur in Bezug auf den jeweiligen Zusammenhang gilt. Sobald sich der Zusammenhang ändert, ändert sich auch das Wissen.


Die Vergänglichkeit

Samsara, der ewige Kreislauf von
Entstehen und Vergehen

Es gibt nichts, was von Dauer ist. Alles, was lebt, verändert sich. Alles, was nicht lebt, ebenso. Dinge altern ähnlich wie Tiere und Menschen, deshalb entwickeln wir zu ihnen Formen der Fürsorge und Zuneigung wie zu Lebewesen. „Mein Auto ist in die Jahre gekommen“, „mein Computer lässt mich im Stich“, „mein Handy spinnt“ – Dinge werden zu Lebensbegleitern mit Ablaufdatum. Fast physisch kann sich der Schmerz anfühlen, wenn wir eines der Dinge loslassen müssen. Dank unserer fleißigen Marktwirtschaft kriegen wir gleich den Trost in Form eines noch schöneren, noch spannenderen und funktionaleren neuen Dinges.

Wer als Herrscher früherer Epochen etwas auf sich gehalten hat, wollte Bauwerke errichten, die für immer vom eigenen Ruhm und Reichtum Zeugnis ablegen sollten. Doch irgendwann beginnt jedes Gebäude zu bröckeln und es braucht einen Denkmalschutz, der sich dann abmüht, all die für die Ewigkeit errichteten Bauten vor dem Verfall zu bewahren.

Mittels Verdinglichungen stemmen wir uns gegen den Strom der Vergänglichkeit. Wir werfen ihm Steine in den Fluss. Doch lohnt es den Aufwand nicht, denn auch die Steine sind der Vergänglichkeit unterworfen. Wir gleichen kleinen Kindern, die meinen, dass sie einen Fluss aufhalten können, wenn sie ein paar Steinchen hineinwerfen. 


Verdinglichte Konzepte


Wie die Dinge enthalten auch die verdinglichten Vorstellungen die Illusion der Beständigkeit und Dauerhaftigkeit. Z.B. besteht ein Grund, warum ich Artikel für diese Blogseite verfasse, darin, dass ich darauf hoffe, dass Gedanken und Wissen auf diese Weise für eine „Ewigkeit“ bewahrt werden. Ich brauche nur nachzublättern, wenn ich Zusammenhänge, die mir schon einmal klar waren, wieder vergessen habe, oder wenn ich ein schon gesammeltes Wissen nicht mehr abrufen kann. Die Illusion ist, dass das virtuelle Ding eine absolute Dauerhaftigkeit haben könnte – es braucht nur der Strom ausfallen, schon ist das Ding weg. Server brechen zusammen, Betreiberfirmen gehen Bankrott, das Rad der Vergänglichkeit dreht sich, was auch immer wir unternehmen, um es aufzuhalten.

Die Vergänglichkeit alles dessen, was es gibt, wir selber mit eingeschlossen, erinnert uns daran, dass die Wirklichkeit Prozess ist und nicht eine Ansammlung von Dingen. Alles, was uns statisch und feststehend in der Zeit und im Raum erscheint, unterliegt nur einer nicht so leicht erkennbaren, feineren oder langsameren Bewegung. Die Physiker erklären uns, dass der Sessel, auf dem wir sitzen, eine Ansammlung von Elektronen und Atomkernen ist, die sich mit unvorstellbaren Geschwindigkeiten umeinander drehen, inmitten von „riesigen“ leeren Räumen.

Unsere Tendenz zum Verdinglichen hat Auswirkungen auf unseren Umgang mit Konzepten. Auch sie werden festgehalten, als hinge das eigene Leben davon ab, ob das Konzept allgemein akzeptiert wird. Wir streiten uns und zerstreiten uns, weil wir Konzepte wichtiger nehmen als Menschen. Wir tun so, als hinge unser Leben von der Richtigkeit von Konzepten ab. Wir binden unsere Identität an sie, indem wir uns z.B. als „Grüner“, als „Feministin“, als „Buddhist“, als „Pazifistin“ bezeichnen. Sobald ein derartiges Konzept fix mit unserer Identität verknüpft ist, befürchten wir, dass wir unsere Identität verlieren, wenn wir das Konzept aufgeben.

Gleichermaßen hängen wir den Menschen um uns herum Konzepte um, mit deren Hilfe wir sie einordnen, was uns dazu dient, den Umgang mit ihnen zu vereinfachen und gegen unliebsame Überraschungen abzusichern. Sie bekommen eine verdingliche Identität, sodass wir sie als Dinge sehen, die durch ihre Eigenschaften definiert sind. „Ein schwieriger Zeitgenosse“, „eine umgängliche Person“, „ein unfähiger Kollege“, usw. Das Etikett ist angeklebt, die Person hat keine Möglichkeiten, es jemals wieder loszuwerden.


Sicherheit im Wissen


Wir erkennen unsere Tendenz zur Verdinglichung auch daran, dass wir vermeinen, im Wissen und Erkennen eine  Sicherheit zu finden: „Jetzt weiß ich, was es ist, jetzt habe ich den Zusammenhang verstanden, jetzt besitze ich es, jetzt will ich es nie mehr verlieren.“ Die spezielle Sicherheit, die von Dingen geleistet wird, ihre Verlässlichkeit und Beständigkeit, wird auf Gedanken übertragen. Das ist der Kern des Fundamentalismus und seiner Anziehungskraft für ängstliche Seelen.

Verdinglichte Konzepte in unserem Denken und Wahrnehmen, aber auch in unserem Fühlen sind, um ein Bild zu gebrauchen, wie Klumpen im Blut, die, wenn sie irgendwo in der Blutbahn steckenbleiben, zu verheerende Folgen führen können. Ähnlich gefährlich sind die Konzepte, die wir für absolute Wahrheiten halten. Ein Blick in die Schlagzeilen genügt: Menschen sind bereit, auf der Grundlage von solchen Kurzschlüssen zu töten und sich töten zu lassen. 


Verdinglichung und Wissenschaft


Die Verdinglichungstendenz macht auch vor den Wissenschaften nicht Halt. Sie liegt in der Sicherheit, die wir wissenschaftlichen Erkenntnissen zusprechen: „Das hat die Wissenschaft bewiesen.“ Dem kann niemand etwas entgegensetzen, darauf kann man vernünftige Entscheidungen, die sich in aller Zukunft als richtig erweisen, gründen, darauf kann sich eine rationale, nicht von Einzelinteressen geleitete Politik berufen. „Fragen wir einen wissenschaftlichen Experten, dann wissen wir, was richtig und was falsch ist, und können dann die richtigen Entscheidungen treffen.“

Wir wissen zwar nicht, wie sicher sich der wissenschaftliche Experte seines Wissens ist. Wissenschaftliches Wissen hat auch Halbwertszeiten und wird nach einiger Zeit von neuem Wissen überholt. Aber wir haben uns daran gewohnt, den Wissenschaften nahezu vorbehaltlos den Glorienschein der Sicherheit umzuhängen und wollen daran unter allen Umständen festhalten. „Ich gehöre zur Gruppe der Vernünftigen, mit diesem Hintergrund kann mir nichts passieren. Nur Unvernünftige, die sich nicht auf die Wissenschaften verlassen, machen Blödsinn, lassen sich verführen und irren.“

Kein Wissenschaftler ist gefeit vor Verdinglichungen. Da Wissenschaftler nur in Ausnahmefällen ihre eigene Person (Erste-Person-Perspektive) in ihre Überlegungen miteinbeziehen, übersehen sie leicht die eigenen Verdinglichungstendenzen. Zudem erleben sie tagtäglich und auf ihren Fachkongressen, wie flexibel und kreativ sie sich im Rahmen ihres eigenen Forschungsgebietes bewegen und erkennen deshalb nicht, wie sie an den Rändern ihres Gärtchens verdinglichte Zäune aufgebaut haben.


Psychotherapie und Wissenschaften


Ein Beispiel ist der Bereich der Psychotherapie: als psychotherapeutische Methode wird nur anerkannt, was nach den Standards der Wissenschaften geprüft und für gut befunden wurde. Damit sollen die möglichen Konsumenten von Psychotherapie vor schlechter Behandlung geschützt und die Qualität der Behandlung hoch gehalten werden.

Dahinter steckt die Annahme, dass die Wissenschaft wissen könne, was für die Menschen gut ist. Doch beruft sich die Wissenschaft fast ausschließlich auf die Dritte-Person-Perspektive, die nur äußerst indirekt und fehleranfällig erheben kann, was Menschen selbst für sich als gut empfinden. Deshalb sind im Bereich der Psychotherapie Hunderte, wenn nicht Tausende Methoden und Techniken in Anwendung, die nie nach den Standards der Wissenschaften geprüft sind und doch gute Resultate aufweisen. Wenn solche Methoden über Jahre hinaus Bestand haben, kann das auch als Hinweis darauf verstanden werden, dass die Menschen, die sie nachfragen, davon Nutzen ziehen, gleich, ob dieser Erfolg wissenschaftlich abgesichert ist oder nicht.

Was in aufwändigen und teuren wissenschaftlichen Untersuchungen als valide und wissenschaftliche therapeutische Methode abgesichert wurde, bezieht sich auf einen winzigen Ausschnitt aus den tagtäglich ablaufenden Tausenden von therapeutischen Sitzungen, die nur in einem Bruchteil vage Ähnlichkeiten mit dem aufweisen, was in der Wissenschaft als wirksames therapeutisches Vorgehen „bewiesen“ wurde. Die therapeutische Praxis ist schon längst immer woanders als die Wissenschaft mit ihren Labortestungen oder Doppelblindexperimenten. Denn, wie ich glaube, muss der Therapeut mit jedem Klienten eine neue Therapiemethode erfinden und weiterentwickeln.


Systemisches Bewusstsein


Das systemische Bewusstsein versucht, das Fließen der äußeren Wirklichkeit im Inneren abzubilden. Die hartnäckige Tendenz unserer Wirklichkeitskonstruktion, Prozesse zu Dingen zu machen, erschwert uns den Zugang zu diesem Denken. Es ist, als müssten wir dauernd unser Denken ermahnen: „Alles ist doch relativ“. Doch dabei sollten wir nicht in die Beliebigkeit geraten, die sagt: „Wenn alles relativ ist, ist alles gleich-gültig“, oder in die Resignation, die sagt: „Wenn alles relativ ist, hat es keinen Sinn, sich um Wissen zu bemühen“. Beide Reaktionen sind selber wieder durch die Verdinglichungstendenz bedingt: Wissen muss sicher und unveränderlich sein, darunter nehme ich es gleich gar nicht. Wenn Wissen kein Ding ist, kann ich es nicht brauchen.

Systemisches Bewusstsein heißt, dass wir in der Lage sind, unser Denken, also unsere Wirklichkeitskonstruktion, permanent an die äußeren und inneren Umstände anzupassen. Wir nutzen Wissen, über das wir verfügen, solange es zu den Umständen passt und uns hilft. Sobald sich die Umstände ändern, ersetzen wir das bisherige Wissen durch ein besseres. Wir sind also bereit, alles das loszulassen, was uns nicht mehr dienlich ist. Wir erwerben dadurch ein hohes Maß an Flexibilität und Kreativität. Wir verflüssigen unsere verdinglichten Denkinhalte, wenn wir ihrer bewusst werden, erkennen also ihre Prozesshaftigkeit.

Wir stellen uns dabei den oft sehr subtilen Ängsten, die uns aus dem Kontakt zur fließenden Wirklichkeit aussteigen lassen und statt dessen Verdinglichungen aufzubauen. Dabei hilft uns keine objektive Wissenschaft, sondern nur die Innenerforschung, die wir immer wieder anstellen sollten, um unseren beharrlichen Verdinglichungstendenzen entgegen zu wirken.

Ähnlich, um gegen Ende noch einmal auf die marxistische Tradition zurückzukommen, wie Leo Trotzki der Tendenz von Machtapparaten, in ihren Strukturen zu versteinern und dadurch unmenschlich zu werden, mit der Idee der permanenten Revolution entgegentreten wollte.

Was wir dazu brauchen, ist ein gerüttelt Maß an Weltvertrauen und Angstfreiheit. Wir benötigen auch einen starken Glauben an das Gute in den Menschen, denn nur so können wir unsere Tendenzen, die anderen zu kontrollieren und Macht über sie auszuüben, eindämmen. Es sind das ja wieder Tendenzen, mit denen wir uns selber im Inneren verdinglichen.

Der Glaube an das Gute in den anderen fällt uns leichter und wird uns selbstverständlicher, wenn wir uns klarmachen, dass Menschen nur dann ihrer Verdinglichungstendenz verfallen, weil sie Angst vor einer Veränderung haben. Je mehr Ängste wir uns bewusst machen und auflösen können, desto klarer können wir erkennen, dass andere Menschen nicht aus Dummheit oder Bosheit die Starrheiten und Sturheiten in sich selbst zulassen und pflegen, sondern aus den Leiden in ihrer Lebensgeschichte, die ihnen keine andere Wahl ließen als unflexibel und unkreativ zu werden. 


Vgl.:
Das innere Wissen und eine neue Methodologie 

Das innere Wissen und sein Beitrag für die Welt

Dienstag, 27. Mai 2014

Das innere Wissen und eine neue Methodologie

Das innere Wissen, das uns über das Spüren in uns hinein zugänglich ist, entsteht erkenntnistheoretisch aus der Erste-Person-Perspektive. Sie bezeichnet die Erkenntnisrichtung, die der Erkennende auf sich selbst lenkt.

"Es gibt eine einzige Wirklichkeit, eine Art von Tatsachen, aber zwei Arten von Wissen - Erste-Person-Wissen und Dritte-Person-Wissen. Obwohl Bewusstsein in Wirklichkeit ein physikalischer Vorgang ist, können diese zwei verschiedenen Formen des Wissens niemals miteinander in Einklang gebracht werden. Selbst wenn wir bis ins letzte Detail über die Hirnzustände einer Person Bescheid wissen sollten, wird uns das niemals erlauben zu erfassen, wie sie sich für die Person selbst von innen anfühlen. Es gibt kein metaphysisches Mysterium, sondern nur zwei grundverschiedene Weisen des Wissens oder Gegebenseins." (Thomas Metzinger, Der Ego-Tunnel. Berlin: Bloomsbury 2009, S. 99)

Das methodisch korrekte Einnehmen der Erste-Person-Perspektive für einen wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn erfordert ein hohes Maß an Selbstreflexion und ethischer Integrität. Denn hier ist die Möglichkeit einer Beeinflussung durch innere Prozesse sehr stark – unzusammenhängende Gedanken und Fantasien können in das Beobachtungsergebnis einfließen. Der Forscher benötigt die Unterscheidungskraft zwischen Empfindungen, Gefühlen und gedanklichen Interpretationen. Diese Fähigkeit muss geschult sein, und bei einem ähnlichen Grad der Ausbildung dieser Funktion können Ergebnisse der Innenbeobachtung dann vergleichbar sein und einer methodischen Auswertung dienen.


Übersetzungsprozesse


Ein Beispiel: Wollen wir das Zellgedächtnis in der Innenperspektive für eine methodisch abgesicherte Erkenntnis zugänglich machen, brauchen wir die Fähigkeit, Empfindungen von Gefühlen, Bildern und Gedanken unterscheiden zu können. Körperempfindungen sind die direkteste Form der Übersetzung von Informationen, die auf Zellebene abgespeichert sind, in das Bewusstsein.

Dazu brauchen wir die Fähigkeit, bottom-up-Übersetzungsprozesse wahrnehmen und verbalisieren zu können und sie von top-down-Übersetzungsprozessen unterscheiden zu können.

Unter Bottom-Up-Übersetzungsprozessen verstehe ich die Übertragung von Information aus der unbewusst ablaufenden „Sprache“ auf der Körperebene in die „Sprache“ von Empfindungen, von dort in die „Sprache“ von Gefühlen und Bildern und schließlich in die verbale Sprache. Ich verwende den Begriff der Sprache für Formen der Informationsvermittlung auf allen Stufen des Lebens und verstehe die verbale Sprache als die am weitesten entwickelte und komplexeste Form der Sprache (vgl. den Beitrag über organische Kommunikation).

Die erste bewusst wahrnehmbare innere Erfahrung ist uns auf der Ebene der Empfindungen zugänglich. Die Sprache dort ist einfach, sowohl was die Grammatik als auch was den Wortschatz anbetrifft. Auf der nächsten Ebene, bei den Gefühlen, ist die Sprache schon komplexer und farben- und nuancenreicher, ebenso auf der Ebene der Bilder, und um geradezu unendlich vieles mehr dann auf der Ebene der Wortsprache.

Top-Down-Übersetzungsprozesse verwenden wir, wenn wir von der Ebene des bewussten Denkens aus auf die organischen Abläufe einwirken wollen. Beim methodisch korrekten Vorgehen im Sinn einer Erste-Person-Perspektive müssen wir zwischen Bottom-Up und Top-Down unterscheiden können. Wollen wir Übersetzungsprozesse rekonstruieren und reflektieren, benötigen wir diese Unterscheidungsfähigkeit, weil uns sonst Irrtümer (vergleichbar den Prä-Trans-Verwechslungen) unterlaufen: Bilder oder gedankliche Konzepte werden für Inhalte des Zellgedächtnisses gehalten, ohne dass wir deren Übersetzungsprozesse rekonstruiert hätten.

Aufgrund ihrer enormen Komplexität ist die verbale Sprache und das mit ihr verbundene Denken zu freier Kreativität fähig, die sich z.B. in der in jede Beliebigkeit schweifende Fantasie Ausdruck verleihen kann. Durch die Fähigkeit zum assoziativen Denken können wir Nichtexistentes zur Existenz bringen. Wenn wir aber bei einer Fantasie vermeinen, dass ihre gedankliche Existenz auch „außerhalb unseres Kopfes“ real wäre, dann täuschen wir uns selbst und werden im schlimmsten Fall psychotisch. Wir betreiben eine Art von unbeabsichtigter Geschichtsfälschung, wenn wir uns auf unsere Fantasie bei der Regression in frühere Lebensphasen verlassen. Sie kann sehr leicht aus den Ängsten entspringen, die wir eigentlich mit der Innenreise in die Vergangenheit auflösen wollten. Tatsächlich nützen dann die Abwehrkräfte, die uns vor den Ängsten schützen, die Fantasieproduktionen, um sich besser verstecken zu können. 


Top-Down-Selbsttäuschungen


Das Zellgedächtnis lässt sich nicht einfach durch Top-Down-Recherchen aufschließen. Das hängt vermutlich damit zusammen, dass die Komplexität auf der abstrakt gedanklichen Ebene auf der Zellebene nicht verstanden wird, sodass die Fragen, die das Denken an die Zellspeicher stellen will, dort nicht verstanden werden können und damit der Verstand in sich selbst die Antwort sucht. Damit verfängt er sich in einer Schleife der Selbstbespiegelung. Werden jedoch die Körperempfindungen als Ausgangspunkt für die Recherche genommen, kann die Kommunikation mit den höher entwickelten Informationszentren gelingen.

Die Speicherungen auf der organischen Ebene können auch nicht einfach durch Top-Down-Anweisungen überschrieben werden, wie es z.B. in den Schulen des positiven Denkens versucht wird: Ich denke positive Gedanken und male mir innerlich positive Bilder aus, die dann auf der Ebene der Körperzellen Heilung bewirken sollen. Der Fehler liegt darin, dass ich aus der Sicht „von oben“ die Störung nicht kenne und erkenne, die auf der Zellebene vorliegt, und deshalb nicht spezifisch auf sie einwirken kann.

Das einzige, was ich durch diese Prozesse erreiche, ist eine Form der Entspannung, die dann bei einer möglichen Heilung mitwirkt, die ich dann vermeintlich dem positiven Denken zuschreibe, wie ein Arzt, der dem Kranken Mut zuspricht und das Vertrauen vermittelt, dass er schon gesund werden wird, ohne etwas für die eigentliche Krankheit zu tun. Er kann damit vieles bewirken, vielleicht auch zufällig die Heilung der Krankheit. Aber, wie wir von den Forschungen zu den Placebo-Effekten wissen, bleiben dieses Wirkungen zufällig, d.h. sie können nicht beliebig reproduziert werden und treten bei denen einen auf und bei den anderen nicht, ohne dass wir wissen, was dafür die Gründe sind. Doch der Kranke mag annehmen, dass der Arzt über magische Heilkräfte verfügt.


 

Die Zukunft:
Methodisch abgesicherte Erkenntnisse
aus der Erste-Person-Perspektive


Diese Fähigkeiten zu erwerben erfordert eine eigene Ausbildung, ein Training in Innenschau (Introspektion), Unterscheidungsfähigkeit und Intuition. Solche Trainings können standardisiert werden, d.h. die Fähigkeiten können in strukturierten Bildungsvorgängen erlernt werden und deren Beherrschung kann mittels geeigneter Verfahren überprüft werden.

Diese Fähigkeiten vorausgesetzt, können Forscher zu intersubjektiv vergleichbaren und reproduzierbaren Ergebnissen zu Innenerfahrungen gelangen, die wissenschaftliche Gültigkeit beanspruchen können.


Ich danke Wolfgang Fellner für viele Anregungen zu diesen Gedankengängen.

Vgl.:
Das innere Wissen und sein Beitrag für diese Welt

Die Verdinglichungstendenz

Das innere Wissen und sein Betrag für die Welt

Wir können zwei Arten des Wissens nach ihrer Quelle unterscheiden: Wissen, das von außen kommt und Wissen, das von innen kommt. Die Informationen für das äußere Wissen erhalten wir durch die äußeren Sinne, für das Innere brauchen wir die inneren Sinne. Die äußeren Sinne sind bekannt und brauchen keine nähere Erläuterung: Sehen, Hören, Riechen, Tasten. Die inneren Sinne sind jene, die uns Auskunft geben über unsere Körpererfahrungen und Gefühle. Sie entstehen in unserem Nervensystem, ohne dass es notwendigerweise zu einer Einwirkung durch Reize von außen kommt. Diese Informationen werden uns als Empfindungen und als Gefühle bewusst, und im Zusammenwirken mit den Denkfunktionen wird daraus das innere Wissen.

Das innere Wissen hat zwei Vorteile: Es ist uns unmittelbar zugänglich und evident. Es liefert Erkenntnisse, die wir auf anderem Weg nicht gewinnen können. Es hat einen Nachteil: Es ist subjektiv, d.h. andere Menschen können dieses Wissen nur indirekt nachvollziehen, indem wir darüber berichten, gewissermaßen in indirekter Rede. Sowohl intern wie erst im Bericht ist schwer zu unterscheiden, welcher Realitätsebene das innere Wissen entspricht: Der Fantasie, dem Gedächtnis, dem gegenwärtigen Erleben usw. Wir vermischen oft selber „Dichtung und Wahrheit“, wenn es um Erinnerungen geht, verwechseln Gedanken und Gefühle („ich fühle, dass du mich nicht magst“), manipulieren uns selber („das war ja gar nicht so schlimm“) usw. Wenn wir über Erlebtes in uns selbst berichten, kommen noch mehr Verzerrungsfaktoren dazu. Die subjektive Welt ist eben letztlich privat und kann nur mittels Übersetzung veröffentlicht werden.

Inneres Wissen hat also einen wesentlich geringeren Grad an Verbindlichkeit und Überzeugungskraft als äußeres Wissen. Es erfordert einen guten Grad an Vertrauen in die erlebende Person, um über sie hinaus relevant werden zu können. Dennoch repräsentiert es eine ganz wesentliche Komponente unserer Welt, die ja vor allem in unseren Köpfen entsteht.

Das Wissen, das wir in der Innenschau gewinnen, ist nicht nur, wie Wissen grundsätzlich, eine Bereicherung der Welt, sondern dient auch ihrer qualitativen Verbesserung. Wir kommen mit Hilfe dieser Wissensform nicht nur dem Ideal einer ganzheitlichen Beschreibung der Welt näher, ein Ideal, das für die Wissenschaften grundsätzlich erkenntnisleitend ist. Wir leisten auch einen Beitrag zum normativ wirksamen qualitativen Fortschritt, und damit zu einem besseren, friedvolleren Zusammenleben der Menschen.

Aus diesem Grund ist es wichtig, dass wir das Image des inneren Wissens verbessern, gewissermaßen unseren Glauben daran stärken. Was es dazu braucht, sind verlässliche Experten auf dem Feld der Erkenntnisgewinnung. Die Reputation der Wissenschaften der äußeren Sinne, also vor allem der Naturwissenschaften, stammt daher, dass, wer in diesem Bereich forscht, hohen Standards folgt, z.B. der Unparteilichkeit, der Genauigkeit, der Dokumentierbarkeit usw.

Experten auf dem Gebiet des inneren Wissens müssen über vergleichbare Standards verfügen. Sie orientieren sich an ethischer Integrität, d.h. sie wollen z.B. nicht mittels frei erfundener Erkenntnisse Geld machen, sie haben einen hohen Grad an innerer Sensibilisierung erworben, d.h. sie können zwischen Empfindungen, Gefühlen, Gedanken, Fantasien usw. klar unterscheiden, und sie können reproduzierbares Wissen dokumentieren.

Dazu braucht es eine übergeordnete Instanz, die den einzelnen Wissensformen einen gebührenden Platz zuordnen kann. Es kann für den Erkenntnisfortschritt auf Dauer nicht fruchtbar sein, wenn ein Zweig des Wissens einen Alleinvertretungsanspruch postuliert und durchsetzen will. Es ist ein Widerspruch in sich, wenn eine Wissensform andere verbieten will. Als Schiedsinstanz, als Zuteilungsinstanz, als Moderator für öffentliche Relevanz kommt der Wissenschaftstheorie eine tragende Vermittler- und Vermittlungsrolle zu.

Die Ganzheit der Welt braucht Bewusstheit in jedem Detail. Dafür müssen alle Wissensformen zusammenwirken, jede hat etwas Wichtiges beizutragen. Jede braucht einen guten Platz im Konzert der Erkenntnisse, ein Platz, von dem aus die anderen Stimmen gut wahrgenommen werden können und der gleichrangige Austausch vonstatten gehen kann. 


Vgl.:
Die Verdinglichungstendenz 
Das innere Wissen und eine neue Methodologie

Freitag, 9. Mai 2014

Die Weitergabe des Egos

Im letzten Blogbeitrag zum Thema “Ego” ging es um die Entstehungsbedingungen dieser geheimnisvollen und mächtigen Instanz in unserer Seelenlandschaft. Hier möchte ich genauer darauf eingehen, wie das Ego von unseren Vorfahren und unserer Umgebung geprägt werden kann. Wie schon erwähnt, gehe ich davon aus, dass das Ego als Folge von Traumatisierungen ausgebildet wird. Außerdem greift es darauf zurück, was es schon von Vorerfahrungen, die über die eigene Existenz hinausgehen können, mitträgt.

Wie wir gesehen haben, macht es schon in Bezug auf die pränatale Welt Sinn, von einem Ego zu sprechen und dieses von einem prozessualen Zustand zu unterscheiden, bei dem das Erleben unmittelbar mit dem Geschehen verbunden ist. Denn frühe Traumatisierungen können zu Abspaltungen von der Erfahrung des Fließens führen und damit die Schutzinstanz bilden, die wir Ego nennen.

Pränatale Ego-Entwicklung


Das menschliche Leben bildet sich aus einer Eizelle und einer Samenzelle. Diese beiden Keimzellen, die sich in einem wundersamen Moment vereinigen, kommen schon als voll beschriebene Textbücher zueinander, mit all den Geschichten von Vater und Mutter. In diesen Geschichten ist auch die jeweilige Entwicklung des Egos beschrieben, des väterlichen und des mütterlichen. Im Geschehen der Vereinigung bei der Befruchtung tragen diese Geschichten wesentlich zur Dramaturgie bei. Es gibt damit keinen "unschuldigen" Lebensanfang, denn jede Ego-Bildung ist mit einer Schuld verbunden, die in der Abtrennung von dem größeren Ganzen besteht. Es sind auch die Schuldgeschichten von Vater und Mutter, die von Anfang an das neue Leben prägen und die Muster bereit legen, innerhalb derer das neue Menschenwesen sein eigenes Ego aufbauen wird.

Dazu kommt noch, dass sich das neu entstehende Leben in einer imprägnierten Umgebung findet, die keine tabula rasa darstellt, keine unbeschriebene Landkarte. Vielmehr begegnet das Kind auch im Außen der gesamten Geschichte von Mutter und Vater, der geschriebenen und der ungeschriebenen. Überlegt z.B. die werdende Mutter auf Druck des Vaters, ob das Kind abgetrieben werden soll, so überträgt sich die Existenzbedrohung aus den Egos der beiden Elternteile voll auf das Kind. Es muss damit zurechtkommen, wenn es am Leben bleiben will und kann das nur, wenn es die eigenen Ego-Strukturen stärkt. Es muss vermeiden, auf das Leben als Ganzes zu vertrauen, das es in solche Bedrohungen bringt. Stattdessen baut es eine Abwehr auf, die von einem grundlegenden Misstrauen diesem Leben gegenüber geprägt ist.

Das kleinkindliche Ego


Wenn Kinder auf die Welt kommen, bringen sie schon einen großen Sack an Prägungen mit. Darunter finden sich auch die nährenden und stärkenden Erfahrungen aus dem unmittelbaren Fließen und Wachsen. Andere Erfahrungen stammen aus Bedrohungen und Irritationen, die eingebettet in die von den Eltern übernommenen Ego-Strukturen verarbeitet wurden.

Als Babys befinden sich die jungen Erdenbürger im günstigen Fall die meiste Zeit in einem organischen Fließen. Bedürfnisse treten auf, führen zu Unruhe, werden gestillt, und Ruhe kehrt wieder ein. Auf Anspannung folgt Entspannung, auf Phasen der Aktivität Perioden der Passivität. Dabei wächst das Kind und mit ihm die innerlich repräsentierte Wirklichkeit an Detailreichtum und Komplexität. Es lernt seine eigenen Bedürfnisse kennen und auf die der anderen Menschen Rücksicht zu nehmen. Es lernt die Objekte im Inneren und im Äußeren kennen und übt sich in den verschiedenen Ebenen der Kommunikation. Die Eltern oder Pflegepersonen spüren und erkennen die Bedürfnisse des Kindes und sorgen dafür, dass sie in angemessener Weise erwidert werden. Damit vertieft sich die Kommunikation, und auf beiden Seiten finden befriedigende Wachstumsprozesse statt.

Dieses organische Wachsen von Erfahrung wird dort unterbrochen, wo Bedürfnisse, deren Erfüllung das Kind zu seinem Überleben und Wachsen braucht, nicht oder nicht adäquat gestillt werden. Dazu kommt es, wenn die Erwachsenen den Kontakt zu ihrem eigenen organischen Erfahrungsprozess verlieren, wenn sie also von ihrem Ego gesteuert werden, weil sie gerade mit einem Aspekt ihrer Wirklichkeit nicht zurecht kommen.

Z.B. kann ein Kind aufgrund eines heftigen Bedürfnisses lautstark schreien. Die erwachsene Elternperson versucht das Kind zu beruhigen, jedoch ohne sofortigen Erfolg. Sie kommt damit unter Stress, der wahrscheinlich aus einer eigenen Erfahrung mit unerfüllten Bedürfnissen stammt. Der Stress der Mutter oder des Vaters steigert den Stress des Kindes, ein Teufelskreis entsteht.

Dabei engen sich sowohl beim Erwachsenen wie beim Kind Wahrnehmung und Kommunikation ein, weil ein Überlebensmechanismus in Gang gesetzt ist. Das Ego wird aktiviert und versucht nur mehr, sich selbst zu retten. Die Elternperson kann das Bedürfnis des Kindes nicht mehr spüren und findet damit auch keine angemessene Antwort darauf. So kommt weder die Frustration des Kindes noch die Frustration der Pflegeperson zur Lösung.

Letztendlich bleibt beiden, den Großen und den Kleinen, keine andere Wahl, als ihr eigenes Ego zu aktivieren und dieses um einen Funktionsmechanismus zu erweitern. Dem Baby ermöglicht dieses Notprogramm das Überleben in dieser frustrierenden und bedrohlichen Situation. In Zukunft wird es immer dann aktiviert, wenn ähnliche Situationen auftreten, z.B. bei einem eigenen schreienden Säugling.

Ego-Botschaften


Sobald Eltern und später Lehrer und andere wichtige Bezugspersonen aus ihrem Ego heraus reden und handeln, füttern sie das Ego ihrer Kinder. Typisch sind die folgenden Erziehungssätze, die aus dem Eltern-Ego stammen: “Ich weiß besser, was für dich gut ist." “Ich meine es nur gut mit dir." Das Ego des Kindes wird versuchen, diese Sätze zu integrieren, indem es z.B. einen komplementären Glaubenssatz bildet: “Ich weiß selber nicht, was für mich gut ist." “Andere müssen mir sagen, was mir hilft." “Ich darf meinem inneren Spüren nicht vertrauen." Es spaltet sich ab vom organischen Fließen des Lebens, stattdessen wird das Innenleben von Konzepten und Annahmen über die Welt gesteuert. Der Kontakt zu den eigenen Bedürfnissen, Interessen und Wünschen versiegt und wird ersetzt durch die Orientierung an den Erwartungen der anderen, zunächst der Eltern und dann anderer Instanzen der Gesellschaft.

Das „falsche Selbst“


Das innere Spüren, das Verstehen der eigenen organismischen Weisheit, das Vertrauen auf die eigene Intuition wird ersetzt durch ein „falsches Selbst“, durch ein Ersatzimage, durch eine sekundäre Charakterschicht, durch ein uneigentliches Leben. Die Folge ist ein latent wirksames Leiden an der eigenen Unwirklichkeit, das sich als perfektes Funktionieren in der Leistungsgesellschaft, als blendendes Auftreten vor Bewunderern oder als endlose Leidens- und Opfergeschichte tarnen kann.

Vergleichbar schleppt sich ein ego-dirigiertes Leben auf Krücken dahin, obwohl es frei gehen könnte. Es zieht seine Kraft nicht aus den eigenen inneren Quellen, sondern aus dem verzweifelten Bemühen, es irgendwem Recht zu machen, letztlich nämlich den selbst auferlegten, aber großteils unbewussten Idealen – wie man zu sein hätte, um ein gelungenes Leben zu führen. Die Anstrengung, ein solches Leben zu führen, endet früher oder später in der Erschöpfung, Depression, Burnout oder manifestiert sich in einer Erkrankung. Wir können uns nicht auf Dauer und endlos gegen uns selber, d.h. gegen das Leben, das in uns und durch uns fließen will, abstrampeln.

Wenn wir im Zustand der Erschöpfung innehalten, auf uns selber horchen, stoßen wir vielleicht auf den Schmerz, den es kostet, in innerer Zerrissenheit zu leben, und auf die Angst, die uns vom wirklichen Leben abhält. Wenn wir lange genug innehalten, meldet sich die Stimme in uns, die uns daran erinnert, wer wir wirklich sind und was unser Leben eigentlich mit uns im Sinn hat. In diesem Moment durchschauen wir das Spiel unseres Egos, auf das wir uns notgedrungen irgendwann eingelassen haben. Dann wächst die Bereitschaft, damit aufzuhören und auf die Suche nach der eigenen Authentizität zu gehen.

Mittwoch, 7. Mai 2014

Unsere Gesellschaft und das Pränatale

Neulich war in einer Tageszeitung zu lesen: „Schwangere umgefahren – ihr Baby ist kerngesund.“ Wir alle freuen uns, wenn das Baby bei dem Unfall keinen physischen Schaden erlitten hat und die Schwangerschaft gut weitergehen kann.

Bedenklich finde ich allerdings an dieser Meldung, wie wenig Bewusstheit über das Seelenleben des Ungeborenen in unserer Gesellschaft verbreitet ist. Jeder Mensch, der einmal in die Zellerinnerungen aus den neun Monaten im Mutterleib hineingespürt hat, weiß, wie sensibel diese Phasen unserer Entwicklung sind. Jede Stressbelastung der Mutter, jeder Schock wird nicht nur physisch, sondern auch psychisch erfahren und muss verarbeitet werden. So wundert es, dass dieser Zusammenhang in keinem Satz des Medienberichts erwähnt wird. Wir tun noch immer so, als wären vorgeburtliche Babys empfindungslose und seelenlose Wesen.

Die untersuchenden Ärzte können gar nicht wissen, ob das Baby den Unfall wirklich auf allen Ebenen kerngesund überstanden hat. Möglicherweise hat es eine Traumatisierung erlitten, und diese lässt sich nicht mit den üblichen Untersuchungsmethoden nachweisen.

Hoffen können wir nur, dass die Mutter ihren Schock gut überwunden hat und dass sie sich dabei besonders liebevoll um das kleine Geschöpf in ihr gekümmert hat. Vielleicht konnte das Baby auf dem Weg den eigenen Schock verarbeiten, sodass er keine Spuren in seinem Leben hinterlassen muss.

Dienstag, 6. Mai 2014

Das Ego und seine Wurzeln

Wir kennen alle unser Ego, seitdem wir gelernt haben, Nein zu sagen und unseren Willen kundzutun. „Ich will nicht", wird zur Manifestation unseres Eigensinns. Wir lernen, unsere Grenzen nach außen, gegenüber den Erwartungen der anderen Menschen, zu definieren und unsere Interessen durchzusetzen. Auch sind wir mit den Egos unserer Mitmenschen vertraut, nämlich dann, wenn sie uns stören, irritieren, verletzen und einschränken.

Wo liegt der Beginn des Egos, wie wir es aus den verschiedenen spirituellen Traditionen kennen? Wo liegen seine Wurzeln? Sind wir als Egoisten geboren, geschaffen, gemeint? Oder werden wir durch die Erziehung dazu gemacht, beginnend mit dem Trotzalter und verstärkt und zementiert während  unseres Marsches durch die Erziehungsinstitutionen?


Der Fluss des Lebens und das Ego


Im Normalfall befindet sich der Organismus in einem kontinuierlichen Lebensfluss. In diesem Zustand vollzieht er seine Stoffwechselaktivitäten, wächst, interagiert mit anderen Organismen, pflanzt sich fort und sammelt Ressourcen für Notfälle. Dazu braucht er kein Ego. Das Leben geschieht einfach und natürlich, entfaltet sich und zieht sich wieder zusammen, entsteht, reift und vergeht.

Nach meiner Auffassung bildet sich das menschliche Ego, sobald eine Überforderungssituation, eine Traumatisierung im fließenden organischen Prozess auftaucht. Unter Trauma verstehe ich eine Erfahrung, die der Organismus erlebt, aber aufgrund ihrer bedrohlichen Übermacht und wegen fehlender Ressourcen nicht verarbeiten kann. In diesem Fall wird die Erfahrung in einem Angstgedächtnis abgespeichert, damit bei ähnlichen Erfahrungen in der Zukunft sofort eine rasche und intensive Schutzreaktion des Organismus stattfinden kann.

Die Traumaerfahrung bewirkt also eine Unterbrechung des Normalzustandes, und das Notprogramm, das dabei in Gang gesetzt wird, schaltet auf eine andersartige Form der Wirklichkeitserfahrung um. Es geht dann ausschließlich um die Selbsterhaltung, und die Kommunikation nach außen wird auf das dafür notwendige Minimum reduziert. Intern werden die Ressourcen für die Sicherung des status quo aktiviert und sukzessive aufgebraucht.

Wir haben es also mit einem Prozess der Verengung zu tun: Die Verengung der Wahrnehmung durch die Einschränkung der Sinnesorgane und die erhöhte Filterfunktion des Nervensystems bewirken die Einengung der erfahrenen Wirklichkeit insgesamt. Die inneren Prozesse werden mittels vorgegebener, eingeprägter oder instinktiver Mustern strukturiert. Neue Erfahrungen werden nicht oder kaum zugelassen. Es findet folglich kein Lernen statt, sondern die Selbstbestätigung der schon bestehenden Programme. An die Stelle eigener Körpergefühle treten Ersatzgefühle (sekundären Gefühlen), die vor allem das Gehirn durch die Ausschüttung von entsprechenden Botenstoffen produziert.

(Es ist unschwer zu erkennen, wie verlockend der Mechanismus der Produktion von Ersatzgefühlen ist - das erklärt die Attraktivität von Drogen und allen anderen Formen der Suchtaktivität.)

Wird der Bedrohungszustand als extrem erfahren, kommt es zu dissoziativen Prozessen, d.h. die Wirklichkeitskonstruktion wird noch weiter eingeschränkt. Zwischen äußerer und innerer Wirklichkeit entsteht dabei ein Spalt, weshalb wir von Abspaltung sprechen: Das Bewusstsein will sich in einen geschützten Bereich zurückziehen, indem es vor den widrigen und lebensbedrohlichen äußeren Umständen und seinen Folgen im eigenen Inneren sicher ist. Dann kann es zu Wahrnehmungsformen kommen, in denen z.B. der eigene Körper als Objekt von außen gesehen wird. Statt der schwer zu ertragenden Empfindungen und Gefühle, die in diesem Körper ablaufen (Angst und Schmerz), werden mit Hilfe von Endorphinen angenehme Ersatzgefühle (Leichtigkeit, Glück) produziert. 


Trauma und Ego


Die verengte Wirklichkeitssicht, wie sie in der Traumaerfahrung entseteht, ist die Basis für die Entwicklung dessen, was wir das Ego nennen. Es ist jene Instanz in uns, die durch unverarbeitete Ängste aktiviert und am Leben erhalten wird. Das Ego arbeitet auf der Grundlage von fixierten Programmen und unbewussten Regeln. Es ermöglicht uns, in der Welt zu funktionieren, also unseren Tätigkeiten nachzugehen, aber auf eine eingeschränkte Weise. Es ist immer mit einer Form von Anspannung und Stress verbunden.

Da das Ego aus Überlebensprogrammen besteht, ist es notwendigerweise selbstbezogen. Die anderen haben nur einen Wert als Mittel zum eigenen Überlebenszweck, ansonsten sind sie Störquellen, Konkurrenten oder Feinde. Das Prinzip des Egos liegt in der Trennung vom Fluss des Lebens, der als gefährlich angesehen wird. Es besteht aus einer Menge von verdinglichten, also unveränderlichen Erinnerungen, die nicht von der momentan prozessual erlebten Wirklichkeit beeinflusst und abgeschwächt werden können.


Das pränatale Ego


Überfordernde, traumatisierende Situationen tauchen nicht erst im Kindheitsalter auf. Ab der Empfängnis ist das neu entstandene Leben verletzbar und in seinem Überleben bedroht. Die starke Abhängigkeit von einer nährenden und unterstützenden Umgebung und die schwach ausgeprägten eigenen Fähigkeiten zur Problembewältigung, wie sie bei Embryos und Föten gegeben sind, unterstützen die Annahme, dass Traumatisierungen umso massiver wirken, je früher sie auftreten.

Wir können also davon ausgehen, dass schon von Anfang an, z.B. von der Empfängnis an, Egostrukturen entwickelt werden. Da es Traumatisierungen schon in den frühesten Phasen der Entwicklung geben kann, liegt hier die Basis für die Ausbildung der defensiven und dissoziativen Reaktionsmuster,  die dann im weiteren Leben ausgebaut werden. Spätere Erfahrungen beleben und verstärken diese ersten Eindrücke und geben ihr umso mehr Macht.

Das bedeutet auch, dass wir an diese frühen Wurzeln der Ego-Formung zurückgehen müssen, wenn wir dieses Ego entmachten und überwinden wollen. Mit jedem Stück Heilung an den ganz anfänglichen Wunden öffnet sich ein Stück Freiheit und ein Wiederanknüpfen an das Fließen des Lebens, das unterhalb der Geschichte der Traumatisierungen wirkt und wirkt. Erst mit dieser Anbindung kann das Vertrauen wiedergewonnen werden, das uns zur inneren Sicherheit und inneren Freiheit führt.


Das Ego verstehen lernen


Mit dem Verstehen von pränatalen Krisen und Schockerfahrungen kommt auch die Einsicht in die Natur dieser Abläufe. Wir erkennen, dass niemand schuld daran ist, dass es zu Traumasituationen gekommen ist, dass also niemand schuld ist, dass sich ein Ego entwickeln musste. Vielmehr hat es mit innerer Weisheit zu tun, dass es dieses Ego gibt. Das Leben selbst zu den bedrohlichen Ereignissen geführt, weil es nicht immer auf einer ruhigen und breiten Bahn dahinfließt, sondern da und dort in ein reißendes Gefälle oder einen rasenden Wirbel führt. Es ist also das Leben selbst, das das Ego als Nothilfe erschaffen hat, damit es weitergeht, auch wenn Ereignisse geschehen, die an den Rand der Zerstörung führen.

So wird uns gleichzeitig klar, dass die Egos der anderen Menschen nicht Folge von bösen Absichten, hinterhältigen Neigungen oder genetischen Missbildungen sind, sondern aus Verletzungen rühren, die weit unter der Bewusstseinsschwelle liegen. Es braucht viel Bewusstheitsarbeit, damit diese Wurzeln überhaupt wahrgenommen werden können, als erster Schritt zu ihrer Heilung. Auch wenn uns diese Unzukömmlichkeiten anderer Menschen, solange wir selber von unserem Ego gelenkt sind, die Probleme und Schwierigkeiten bereiten, an denen wir leiden, können wir einsehen, dass sie selber Opfer ihrer eigenen Verstrickungen und Verletzungen sind. Das hilft uns dann zu entspannen und damit an das Strömen des Lebens anzudocken, von dem alles und jedes verstanden wird, was sich an Phänomenen an seiner Oberfläche ausbildet.

Und wir verstehen, dass das Leben auch bereit ist, uns immer wieder aufzunehmen, so weit auch immer wir uns in die Machenschaften unseres Egos verirrt haben. Es hält nichts fest und wartet nur darauf, dass wir das Festhalten, das uns das Ego gelehrt hat, aufgeben. Es ist wie die Heimat, aus der wir stammen, die wir unter tragischen Umständen verlassen mussten, und zu der wir verzweifelt den Weg zurück suchen. Denn wir wissen, dass wir die Quelle nicht im abgetrennten und selbstsüchtigen Agieren unseres eingesperrten Denkens finden können. Wann immer der Zugang zur tieferen Quelle unseres Seins aufblitzt und wir eine Ahnung der Quelle erspüren, bekommen wir den Mut, den wir brauchen, um Schicht für Schicht den Weg zurück, der immer auch ein Weg nach vorne ist, freizulegen.


Vgl.: Ego-Bestätigung und Berufung
Das Ego als Pforte zur Wahrheit
Die Manifestation und das Ego
Mit dem Leben fließen