Mittwoch, 23. Juli 2014

Wachstum und Lernbeziehung



In der Entfaltung des inneren Wachsens verändert sich unsere Beziehungskultur - in uns und mit unseren Mitmenschen. Im gleichen Maß, wie wir lernen mit uns selber besser umzugehen, lernen wir, mit anderen Menschen besser umzugehen. Der Weg zu einer hohen Qualität mitmenschlicher Beziehungen, wie wir sie uns alle wünschen, ist allerdings lang, mit vielen Stolpersteinen gepflastert. Er hat damit zu tun, wie wir unsere Fähigkeit, die Toleranzspannung zwischen Gleichheit und Individualität auszuhalten und auszuweiten. Dieser Prozess der Weitung unserer Liebesfähigkeit führt uns "notwendigerweise" an Engpässe und zu Problemzonen, in denen wir unbewusst die Kraft der wertenden Unterscheidung mobilisieren, um uns vor den Risken der Veränderungen zu schützen. Das wertende Unterscheiden soll also eine innere Not wenden.

Eine der Quellen von solchen Themen liegt in der neuen Erfahrung einer Lernbeziehung, in die wir mit einem Therapeuten oder eine Lehrerin/Meisterin eintreten. Diese Personen bieten eine Qualität des Verstehens, der Präsenz, des Ernstnehmens und der liebevollen Zuwendung, die anfangs als etwas ganz außerordentlich Besonderes und Wertvolles begegnet. Denn es gibt in dieser Ausschließlichkeit dazu kein Vorbild, weder im Erwachsenenleben noch in der eigenen Kindheit. Da begegnet man nun auf einmal der idealen Mutter und dem idealen Vater, vereinigt in einer Person, und im Kontrast dazu verblassen alle anderen realen Beziehungen in der Gegenwart und in der Vergangenheit. 

Alle Mängel der aktuellen Kommunikationspartner werden vor dieser Folie überdeutlich negativ karikiert. Das führt zu unvermeidbaren Konflikten, weil bewusst oder unbewusst auch von den ungeübten und weniger bewussten Mitmenschen eine Güte an Klarheit und Herzenswärme eingefordert wird, zu der diese aufgrund ihrer eigenen frühen Beziehungsgeschichten nicht in der Lage sein können. Schließlich haben ja auch die vorbildhaften Meister der Kommunikation jahrelang an sich gearbeitet, um diese Qualitäten zu erwerben und zu entwickeln. Doch einmal in ihrer Wohltat erfahren, möchte man sie immer haben und versteht nicht, wenn sie einem von den Menschen, von denen man annimmt, dass sie einen liebhaben, "vorenthalten" wird. Diese Frustration schlägt schnell in Aggression um, die sich klarerweise aus den Wurzeln ähnlicher Erfahrungen aus den primären Beziehungen speist - kein gedeihlicher Boden für eine gelingende Kommunikation. 

In der Not geht die Fantasie zur Meisterin, die ganz anders und viel besser mit solchen Situationen umgehen würde. Wie liebevoll würde sie reagieren, wie offen und verständnisvoll. Die Fantasien verdoppeln die Frustration, weil die Meisterin, so wertvoll ihre Präsenz erfahren wird, nicht die ganze Zeit da ist und ihre außergewöhnliche Zuwendung nur in einer zeitlich begrenzten Form geben kann, während die Person, die die ganze Zeit da ist, ihr nicht nur nicht das Wasser reichen kann, sondern vielmehr noch ein negatives Abbild dazustellen scheint.

Vor allem in den Anfangszeiten einer therapeutischen und spirituellen Lernbeziehung entwickelt sich folglich eine imaginäre Dreiecksbeziehung. Der Therapeut oder die Meisterin ist fortwährend vorhanden, und die alltäglichen Beziehungserfahrungen werden andauernd bewusst und noch mehr unbewusst mit den Beziehungsqualitäten, die die bewunderte und verehrte Person aufweist, verglichen. Aufgrund der Herausgehobenheit der therapeutischen Kommunikation aus dem Alltag ist der Vergleich natürlich unfair. Mit einem spirituellen Lehrer muss keine Einigung über die Haushaltsverantwortlichkeiten oder andere Notwendigkeiten des Alltags getroffen werden. Er kann leicht der ideale Beziehungspartner für ein paar Minuten oder Stunden sein, wenn es um nichts anderes geht als darum, mit den eigenen Problemen und Schwierigkeiten verstanden zu werden.

Dennoch übertragen wir die Erfahrung, so besonders gut oder tief verstanden worden zu sein, auf die Menschen um uns herum. Der Wunsch nach Begegnung in einer solchen Atmosphäre ist ein stark in uns verwurzeltes Bedürfnis, das uns vom Anfang unseres Lebens an begleitet, dass klar ist, dass wir uns das wünschen müssen. Wir haben im Lauf unseres Aufwachsens gelernt, darauf zu verzichten, weil sie so spärlich vorhanden war. Irgendwann haben wir vergessen, wie bitter wir sie  notwendig haben, um uns geliebt zu fühlen. Bis zu dem Zeitpunkt, wo uns dieses Gesehenwerden wieder zuteil wurde, haben wir angenommen, dass es eine derartige Qualität der Begegnung für uns ohnehin nie geben wird.

Nun, da sich gezeigt hat, dass sie uns doch geschenkt wird, erwachen unsere Wünsche und Sehnsüchte wieder, und wir erkennen, dass es zu unserem Geburtsrecht gehört, in unserem Sein und Wesen vorbehaltlos und bedingungslos angenommen und wertgeschätzt zu sein. Dieses Recht fordern wir damit logischerweise von unseren Mitmenschen ein. Sonst ist ja niemand da, der diesen Rechtsanspruch einlösen könnte. Je näher uns jemand steht, desto mehr sollte er zur Stillung dieses Bedürfnisses beitragen und desto mehr verletzt der Mangel daran. So wird die Erfahrung des Mangels proportional mit dem Grad an Vertrautheit aktiviert, was häufig dazu führt, dass die Konfliktintensität ebenso mit dem Grad an Nähe ansteigt. 

Der Ausweg aus Idealisierung und Abwertung


Es braucht weitere Schritte in der inneren Entwicklung, um sowohl die Idealisierung, die der Lehrperson gegenüber aufgebaut wird, wie auch die Irrealität der Forderungen an unsere Mitmenschen, insbesondere der uns Nahestehenden, zu durchschauen und loszulassen. Nach dem Modell der Phasen des inneren Wachsens geschieht es bei der Einübung in die dritte, die systemische Phase, dass wir die Relativität unserer Erfahrungen annehmen lernen. Wir erkennen die Beschränktheit der therapeutischen Kommunikation und ihre Nichtvergleichbarkeit mit anderen Situationen des sozialen Austausches. Wir erkennen, dass die Menschen um uns herum die gleichen oder ähnliche Mangelerfahrungen und Sehnsüchte haben wie wir selber. So nehmen wir die Ansprüche zurück, die wir an sie richten und tun uns damit leichter, die Kirchen im Dorf zu lassen: Wir können aus der therapeutischen oder spirituellen Kommunikation lernen und aufnehmen, was sie uns bieten kann, und zugleich wertschätzen, was uns die anderen Kommunikations- und Begegnungserfahrungen unseres Lebens tagtäglich schenken oder auch zu lösen aufgeben. Wir müssen nicht mehr das eine mit dem anderen vergleichen, sondern lernen, mit den unterschiedlichen Herausforderungen unterschiedlich umzugehen. 

So können wir unsere Lebenspartner von den Forderungen entlasten, die eigentlich unseren Eltern und frühen Erziehungspersonen gelten. Wir richten den Blick darauf, was sie uns geben können und wie sie für uns dasein können, um dafür die gebührende Dankbarkeit zu entwickeln, statt die Beschränktheit und Bedingtheit dieses Gebens zu bemängeln. Wir erwarten nicht mehr von den Partnern unseres Alltagslebens, dass sie unsere frühkindlichen Defizite ausgleichen, noch dass sie zu Kopien von Meistern, Lehrern oder Therapeuten werden, die wir kennenlernen konnten. Vielmehr erkennen wir, dass wir ihnen für das, was sie sind und wie sie sind, - wie sie für sich sind, und auch, wie sie für uns sind -, Anerkennung und Wertschätzung entgegenbringen können.

Und so können wir anfangen, die Orientierung umzudrehen: Statt auf die Füllung unserer eigenen Mangelerfahrungen zu dringen, die emotionale und kommunikative Unterernährung unserer Mitlebenden als Aufgabe für unsere eigene Liebesfähigkeit zu sehen. Wir schauen mehr darauf, was wir geben können, auch aus dem heraus, was wir im Lauf unseres bewussten inneren Wachsens gelernt und entwickelt haben, und weniger darauf, wo wir am meisten für uns selber profitieren könnten. Schließlich erfahren wir, wie viel Erfüllung darin liegen kann, die Qualität des Ernstnehmens und Akzeptierens, die wir in speziellen Kommunikationssituationen erleben durften, anderen weiterzugeben. Auf diesem Weg wird diese Qualität mehr und mehr zum Standardrepertoire unseres Beziehungslebens.

Damit nähern wir uns der vierten Stufe der inneren Entwicklung an, die im Teilen der bedingungslosen Form der Liebe besteht. Wir sind dann nicht mehr von unserer Bedürftigkeit gelenkt, sondern fühlen uns mit der Fülle des Seins verbunden, das uns immer genau das gibt, was für uns gut ist und uns immer einen Weg zeigt, wie wir besser für die Menschen um uns herum dasein können.

Beziehungsfallen für die Lehrperson


Aus der Not von Missverständnissen und Konfliktsituationen in den Beziehungen des täglichen Lebens wird der idealisierten Lehrperson ein besonderes Beziehungsangebot unterbreitet. Wiederum ist es vermutlich zum größten Teil unbewusst. Es besteht darin, dieser Beziehung eine herausragende Wichtigkeit und Bedeutsamkeit vor allen anderen Beziehungen einzuräumen. 

Je nachdem, wie gründlich sich ein Therapeut oder eine spirituelle Lehrerin mit den entsprechenden Ego-Anteilen auseinandergesetzt hat, die auf solche Beziehungsangebote reagieren, bemisst sich der Grad an Verantwortung, wie damit umgegangen werden kann. Im Fall einer unbewussten Schwäche im Bereich des eigenen Narzissmus wird das Angebot missbräuchlich aufgenommen: Der Lehrer nutzt die Bewunderung, die ihm entgegengebracht wird, zur Füllung des eigenen Bedürfnisses nach Anerkennung aus. Entsprechend wird er die Beziehung zur Schülerin gestalten, sodass in ihr das Gefühl verstärkt wird, nur in dieser Beziehung ihr Heil finden zu können, statt ihre Fähigkeit zu stärken, alle ihre Beziehungen im Leben besser gestalten zu können und sich damit gut aus der Idealisierungsbeziehung zur Lehrperson lösen zu können.

Die Reife der Persönlichkeit zeigt sich daran, dass die Rahmenbedingungen der Lehrbeziehung klar unterschieden werden können von den Rahmenbedingungen der anderen Beziehungen, in denen sich die hilfe- und ratsuchende Person in ihrem Leben befindet. Ein weiterer Gradmesser dieser Reife liegt darin, die Stärkung der Autonomie und universellen Liebesfähigkeit in der Schülerin als oberste Richtschnur ihrer Förderung und Unterstützung zu nehmen. Es liegt an der Lehrperson, sich selber in dieser Rolle strittweise zurückzunehmen und überflüssig zu machen. Nur wenn sie die dafür notwendige Kraft und Bewusstheit hat, ist sie wirklich geeignet, das innere Wachstum von anderen Menschen zu begleiten und zur Entfaltung zu bringen. Wenn sie über diese Qualitäten verfügt, sorgt sie auch dafür, dass sich die zu Beginn des Beitrags geschilderten Projektionsphänomene nur im möglichst geringen Grad ausbilden. Je klarer also ein Therapeut oder spiritueller Lehrer die Besonderheit des individuellen Weges einer Schülerin erkennt auf und alles in seinen Kräften Stehende dafür einsetzt, damit dieser Weg zur Auflösung aller Abhängigkeiten von ihm selbst und damit zur Auflösung der Lehrbeziehung als solcher führt, desto leichter wird es der Schülerin fallen, sich in ihrem eigenen Beziehungsnetz harmonisch entwickeln zu können. 

Donnerstag, 17. Juli 2014

Die Liebe und ihre Bedingungen - Vier Phasen

Liebe ist möglicherweise der komplexeste Begriff, über den wir verfügen, und der einfachste. Deshalb ist es schwierig, darüber zu schreiben, und sollte zugleich einfach sein. Unsere Fragen nach dem, was Liebe ist, beginnen immer in der Ära des Relativen, im Bereich der Gefühle, Konzepte und Ideen, die die Menschen in Bezug auf ihre Erfahrungen entwickeln.

Im Relativen ist die Liebe immer an Bedingungen geknüpft: Ich liebe dich, wenn du so oder so bist; ich liebe dich, wenn ich so oder so bin. Also: Wenn du mir Rosen schenkst, liebe ich dich. Wenn ich mich geliebt fühle, liebe ich dich auch, usw. Äußere oder innere Umstände bestimmen die Fähigkeit zu lieben. Liebe ist das, was im Rahmen der eigenen Konditionierungen möglich ist. Sie bricht ab, wenn die Bedingungen zu schwach werden und die Angst überhand nimmt.

Liebe ist lernfähig. Oder: Unser Umgang mit dieser Kraft hat ein Wachstums- und Entwicklungspotenzial. Wenn wir sagen, wir möchten lernen zu lieben, dann heißt das, dass wir mehr von diesem Potenzial entdecken und freilegen wollen. Es hat vor allem damit zu tun, unsere Ängste vor der Liebe Schritt für Schritt abzulegen. Schritt für Schritt lösen wir uns dabei von den Bedingungen, die sich im Lauf unseres Lebens an das, was wir als Liebe erfahren haben, angeheftet haben. Schritt für Schritt kommen wir uns selbst näher, und damit unserer Liebesfähigkeit.

Liebe will immer aus den Engen des Relativen herausführen. Sie sucht immer den Weg zur absoluten Wahrheit. Aber sie braucht andere Hilfen, um dorthin zu finden. Eine der Hilfen liegt in Wanderkarten, die die Stationen des Weges hervorstreichen. Hier können wir das Modell der Entwicklungsphasen im inneren Wachstum nutzen, um den Konditionen und Konditionierungen unserer Liebe besser auf die Spur zu kommen.

1. Phase:


Herkömmliche Konzepte der Liebe werden in Frage gestellt. Es gilt z.B. nicht mehr fraglos,  die eigenen Eltern zu lieben. Bei all den Verletzungen, die sie zugefügt haben - verdienen sie da überhaupt noch geliebt zu werden? Was war das für eine Liebe, die wir als Kinder den Eltern entgegengebracht haben? War das Naivität, gegründet auf Abhängigkeit, ein Gegengeschäft dafür, dass wir nicht alleine gelassen und dass wir grundversorgt werden? Götzenbilder und Illusionen werden vom Sockel gestürzt.

Dadurch wird bewusst, wie stark die eigene Liebesfähigkeit bisher von den Pfaden der Konditionierung geprägt und durchwirkt war. Die Enttäuschung darüber kann in den Zweifel münden, ob es überhaupt so etwas wie „echte" Liebe geben kann. Zum Beispiel kann jemand erkennen, dass die Liebe zu einem Beziehungspartner von der Sehnsucht geprägt war, endlich vom eigenen Vater geliebt zu werden. Oder dass die Anhänglichkeit an einen Partner nur von der Angst gesteuert wird, an den Verlust eines Zwillings erinnert zu werden, der in frühen Zeiten im Mutterleib abgegangen war. Liebe wurde offenbar mit Tauschgeschäften verwechselt.

Was bisher als Liebe verstanden worden war, wirkt jetzt schal und flach, weil es auf Illusionen und zurechtgebogenen Erfahrungen beruht. Deshalb werden die bestehenden Beziehungen in Frage gestellt und einer kritischen Überprüfung unterzogen, einschließlich der Beziehung zu sich selbst.

Häufig stellt uns diese Phase vor absurde Überlegungen wie eine Liebes-Bilanz. Wir stellen anhand einer Liebesbeziehung die Einnahmen den Ausgaben gegenüber, die Aktiva den Passiva. Wieviel habe ich getan und wieviel habe ich erlitten? Wieviel habe ich gegeben, wieviel dafür bekommen? Wir erstellen Berechnungspläne, wenn wir uns klar werden wollen, ob wir weiter in einer Beziehung bleiben wollen oder etwas Neues anfangen sollten. Wir wollen mit rationalen Überlegungen dem Phänomen der Liebe näherkommen, eine Verzweiflungstat. Denn die Liebe hat keine Affinität zu Verstandeskalkülen.

2. Phase:


Viele der Bedingungen, an die Liebe im bisherigen Leben geknüpft war, werden bewusst. Dazu müssen die eigenen Elternbeziehungen durchackert werden, denn sie enthalten die zahlreichen eingeprägten Bedingungen der Liebe. Schließlich waren unsere Eltern keine Heilige, sondern einfache Menschen mit den "normalen" Behinderungen der Liebesfähigkeit. Im Zug der Innenarbeit werden diese Programmierungen schrittweise aufgelöst. Zugleich werden subtilere Formen von Bedürfnissen aktiviert, die sich nach liebevoller Zuwendung sehnen, und deren Fehlen in den aktuellen Beziehungen umso schmerzhafter erlebt wird. So kann es gerade in dieser Phase zu vehementen Forderungen kommen: Endlich wollen wir das kriegen, was uns ein Leben lang vorenthalten wurde. Wir erkennen, was uns eigentlich zusteht, was unser Geburtsrecht ist, nämlich nicht mehr und nicht weniger als bedingungslos geliebt zu werden. Denn so sind wir selber in die Welt getreten: Mit dieser Offenheit, alles, was wir sind und haben, zu geben.

Doch nicht nur der Mangel und die Sehnsucht nach dem so lange Entbehrten plagt uns in dieser Phase. Momentweise wird die bedingungslose Liebe spürbar, als Idee und als Spüren im Erleben. Allerdings fehlt es noch an der Geschicklichkeit und dem Vertrauen, solche Erfahrungen in die festgefügten Kontexte der aktuellen Beziehungen zu übersetzen. Manchmal wird z.B. in Selbsterfahrungsgruppen eine Tiefe in der Begegnung mit fremden Menschen erlebt, die dann nur unbeholfen und unsicher in die mit Projektionen befrachteten Beziehungen zu den nahen und verwandten Menschen übertragen werden kann.

3. Phase:


Projektionen und Liebesbedingungen werden besser verstanden, und es wird leichter, ihre Wirkung auf einen selbst zu spüren. Wir erkennen, dass wir uns von uns selber abschneiden, wenn wir uns vor unseren Beziehungs- und Liebespartnern verschließen. Wir erkennen den Zusammenhang zwischen Selbstliebe und Liebe zzu anderen Menschen. Wir lernen, uns selber mehr und mehr anzunehmen und merken dabei, dass es uns leichter fällt, auch die anderen Menschen in ihren Schwächen und Gestörtheiten anzunehmen.

Der Unterschied zwischen bedingten Liebesformen und der unbedingten Liebe wird immer detaillierter erforscht. Verstanden wird auch der Unterschied zwischen dem, was in Bezug auf die Öffnung zur unbedingten Liebe gemacht werden kann, also der eigenen Anstrengung bedarf, und dem, was im Geschehen zugelassen werden kann.

Wechselseitige Abhängigkeiten werden bewusst. Das Eingeständnis, am Verlauf jedes kommunikativen Prozesses, an jedem bewussten und unbewussten Austausch mitzuwirken, .

Alle Konzepte von Liebe, die wir im Lauf unseres Lebens entwickelt haben, kommen auf den Prüfstein: "Liebe als immer eins sein", "Liebe als einander nähren", "Liebe als einander gehören", "Liebe als sexuelle Bestätigung", wie im Kollusionsmodell nach Jürg Willi. Die unbewusste Dynamik, die sich in jedem Konzept, in das die Liebe gepresst wird, verbirgt, wird freigelegt und, wenn es gelingt, aus zwanghaften Reaktionen in Spiele umgewandelt.

4. Phase:


Die unbedingte Liebe wird zum Normalfall. Störungen werden schnell wahrgenommen und können dann leicht behoben werden. Wir erleben es als Leiden an sich selbst, als selbstzugefügter Mangel, wenn wir erkennen, dass wir die Liebe in den Käfig von Bedingungen eingesperrt haben. Deshalb ist der Wunsch, wieder in den Zustand der Liebe zurückzukommen, so stark, dass wir alles unternehmen, um mit unseren Mitmenschen und mit uns selber wieder ins Reine zu kommen.

Die Liebe zeigt sich in ihrer Einfachheit: Wo die Angst Platz macht, ist Liebe, sie wartet nur darauf, dass sie wirken kann. Die Gewebe der romantischen Liebe mit ihren Verwirrungen und Verirrungen machen einer zauberhaften, in jedem Moment neu gewobenen Klarheit Platz, die Wirbel an Gefühlen ebben ab, weil deutlich wird, dass Liebe ein Seinszustand und kein bestimmtes Gefühlserleben ist. Dieser Seinszustand hat mit der Auflösung von inneren Grenzen zu tun, mit einer Öffnung für die Verbindung mit dem Ganzen und beruht auf dieser überindividuellen spirituellen Ebene, die nicht von Stimmungen und Gefühlslagen abhängig ist, sondern einfach da ist oder nicht.

Es braucht Zeit, sich an diese Einfachheit zu gewöhnen. Denn unsere Kultur ist voll von Verzerrungen des Liebesbegriffes, die uns fortwährend den Blick verstellen. Eine neue Kultur der einfachen Liebe hat wenig Publizität, aber umso mehr innere Resonanz und subversive Wirkung.

Donnerstag, 10. Juli 2014

Aus Unterschieden lernen

Das Wahrnehmen von Unterschieden zwischen den Menschen, das mit einer Wertung verbunden ist, führt zu inneren Problemen. Denn Menschen haben ein tiefsitzendes Bedürfnis, mit Ihresgleichen auf der Basis von Gleichheit verbunden zu sein. Jeder Unterschied, der mit einer Bewertung einhergeht, stellt eine Bedrohung dar und löst Ängste aus. Wenn einige in der Gemeinschaft anders sind und dieses Anderssein als schlechter gewertet wird, wird eine Grenze gezogen: Die einen bleiben innen, die anderen kommen an den Rand. Wer am Rand ist, läuft Gefahr, irgendwann überhaupt nicht mehr dazu zu gehören, also ausgestoßen zu werden.

Wenn wir das Leiden an den Unterschieden auflösen wollen, müssen wir zuerst verstehen, wie es zu bewerteten Unterschieden kommt. Dazu diente das Modell des inneren Wachstums. Es zeigt uns, dass der innere Impuls zum Wachsen zur Veränderung des Gefüges mit unseren Mitmenschen führt, der zunächst fast notwendigermaßen mit Bewertungen einhergeht.

Erst wenn es gelingt, diese Bewertungen zu beenden, hört auch das Leiden an den Unterschieden auf. Deshalb stellt sich hier die Frage, wie es möglich ist, aus der Falle des Bewertens auszusteigen, ohne die entsprechenden Impulse einfach zu unterdrücken oder sich das Bewerten einfach zu verbieten. Es muss ein Weg sein, auf dem sich zeigt, dass es angenehmer und lohnender ist, auf Bewertungen zu verzichten, sodass diese mit der Zeit von selber aufhören, im eigenen Innenleben eine Rolle zu spielen.

Zunächst: Es macht keinen Sinn, wenn wir uns selber dafür bewerten, dass wir Unterschiede bewerten. Besser ist es, uns bewusst zu machen, was dabei abläuft und wie wir dabei mit uns selber umgehen. Wir können aus allem, was wir tun oder unterlassen, lernen.


Lernen aus Vergleichen


Für das Vergleichen ist ein Bewertungsvorgang notwendig. Jeder Vergleich braucht einen Maßstab, an dem der Unterschied abgelesen werden kann. Ein Maßstab ist eine Bewertungsskala, auf der es Abstufungen gibt zwischen Mehr/Weniger, Besser/Schlechter, Heller/Dunkler, Schneller/Langsamer, Sympathischer/ Unsympathischer usw.

Wenn wir uns auf den Weg der Bewusstheit begeben, erkennen wir erst, wie viele Vergleichsmaßstäbe wir in uns tragen. Solche Einstufungsprogramme arbeiten die ganze Zeit, von früh bis spät. Jedes Mal, wenn wir einem Menschen begegnen, werden sie aktiv, es genügt aber auch nur, dass wir an andere Menschen denken, oder an uns selbst, schon legen wir einen Maßstab der Bewertung an.

Wir wollen ja wissen, ob wir auf dem richtigen Weg sind. Und dazu brauchen wir einen Vergleich mit anderen Wegen oder mit anderen Menschen, die andere Wege gehen. So machen wir uns eine Skala zwischen effektiven und uneffektiven Wegen, zwischen schnellen und langsamen, gründlichen und oberflächlichen usw. Die nächste Skala entsteht zwischen den Anfängern und Fortgeschrittenen auf einem bestimmten Weg oder auf dem allgemeinen Weg der Bewusstwerdung überhaupt. Manche Schulen erleichtern diese Aufgabe, indem sie verschiedene Grade der Einweihung oder der Meisterschaft vergeben, wie die Gürtel bei ostasiatischen Kampfkünsten.

Je tiefer wir in einen bestimmten Bereich der Innenerfahrung eindringen, desto deutlicher werden die Unterschiede zu den "Laien", den Menschen, die ihren Alltag scheinbar oder anscheinend ohne jeden Anspruch auf Selbsterforschung bewältigen. Wir, die wir uns auf dem inneren Weg abmühen, Zeit, Geld und Herzblut investieren, brauchen auch eine Bestätigung für die Sinnhaftigkeit unserer Anstrengungen. Wir holen sie uns, indem wir bestimmte Vorzüge an uns selber im Vergleich zu den Alltagsmenschen herausstreichen oder indem wir uns von solchen Leuten abgrenzen, weil wir unter ihrer "Grobstofflichkeit", "Unbewusstheit", "dunklen Energie" usw. leiden.


Übungen


Die einfachste Übung, die uns hilft, aus dem Vergleichen zu lernen, besteht darin, in jedem Menschen, der uns über den Weg läuft, sei es im Außen oder im Innen, einen inneren Kern zu sehen, der heil und unversehrt ist, hinter den Masken und Verhärtungen, die die Oberfläche bilden. Dann merken wir, dass die Unterschiede unwesentlich sind und das Gemeinsame wichtiger. Diese Übung ist zwar einfach, aber nicht immer fällt sie uns leicht. Wir hängen oft stark in unseren Gewohnheiten, Menschen nach Äußerlichkeiten einzuordnen.

Wenn wir bei jemandem "nicht weiter kommen", d.h. wenn wir an der Oberfläche kleben bleiben und kein Inneres wahrnehmen können, dann gilt es, die Erforschung dessen, was uns an der Person irritiert und abstößt, bei uns selbst zu vertiefen. Dabei kann die Übung helfen, Ähnlichkeiten zu mir selbst zu entdecken. Wenn jemand z.B. uns durch sein ungepflegtes Äußeres anwidert, dann können wir darüber kontemplieren, in welchen Bereichen wir uns selber zu wenig pflegen, oder ob es Bestrebungen und Wünsche in uns gibt, unsere möglicherweise übertriebenen Reinlichkeitsansprüche einmal nicht so ernst zu nehmen. Vielleicht entdecken wir an allem, was uns auf die Nerven geht, etwas Ähnliches, das in uns selber steckt, sei es auch nur dessen radikales Gegenteil.

Jeder Unterschied ist ein Beitrag zur Vielfalt des Lebens. Wenn wir die Bewertung weglassen, können wir die Schönheit an der Vielfalt erkennen. Wollen wir wirklich, dass jeder andere so denkt, ausschaut, empfindet wie wir selber? Das wäre ja äußerst monoton und langweilig. Unterschiede beleben und erzeugen Neues. Uniformität lähmt die Kreativität.

Wenn ich also einem Unterschied begegne, der mir auffällt, zum Denken gibt und negative Gefühle aufsteigen lässt, kann ich mich, statt gleich ein bewertendes Etikett darauf zu kleben, darauf konzentrieren, was ich an diesem Mitmenschen oder seinen Eigenschaften wertschätzen und bewundern könnte. Dann fällt es mir leichter, mit dem Phänomen Frieden zu schließen, ja, ich kann sogar noch an dem, was mir vorher ein Problem war, einen Gewinn an Lebensqualität erfahren. Zudem bin ich ein Stück weiser und menschenfreundlicher geworden.


Im Zusammenleben


Ein Problem kann sich ergeben, wenn eine Person systemisch denkt, und die andere personalistisch. Dann kommen die beiden nicht weiter. Das personalistische Denken bleibt auf sich bezogen und gibt dem anderen die Schuld am Zerwürfnis, systemisch gedacht liegt es an einem Missverständnis, an dem beide Personen einen Anteil haben.

A (personalistisch): Du musst dich ändern, damit es mir besser geht.
B (systemisch): Wie können wir unsere Interaktion besser verstehen und ändern, so, dass jeder etwas davon hat?

Die Kraft des Systemischen wirkt allerdings unterschwellig. Sie braucht Zeit, führt aber dann zu einer Entspannung, die bei der "personalistischen" Person ein implizites Wissen über das Systemische hervorruft.

Systemisch betrachtet, kann eine Person, die sich nicht verändern will, nicht verändert werden. Sie kann so akzeptiert werden, wie sie ist, inklusive ihrem Wunsch, sich nicht zu verändern und bei Gewohnheiten zu bleiben, die vom anderen als störend erfahren werden. Wenn jedoch die Erfahrung kommt, dass die andere Person auf die problematisierte Handlungsgewohnheit nicht mehr ablehnend, sondern neutral reagiert, kann sich „wie von selber“ eine Änderung einstellen. Das Unbewusste hat keinen Nutzen mehr daran, dem anderen eines auszuwischen, weil es merkt, dass die Provokation nicht mehr ankommt – wie schon Shakespeare erkannt hat: „Zum Raube lächeln, heißt den Dieb bestehlen“.

So kann durch Nachsicht und Einsicht ein Stück Frieden durch systemische Weisheit entstehen.


Die elementare Toleranzspannung


Im Grund geht es darum, eine elementare Spannung auszuhalten: Das radikale Anderssein, das aus der Einzigartigkeit jedes Menschen stammt, mit der radikalen Gleichheit, die aus dem Menschsein kommt, zusammenzuhalten. Beides müsste in jeder Begegnung, ja schon in jedem Gedanken an andere Menschen als Grundgefühl vorhanden sein. Mussten wir in tribalen Gesellschaften mit dieser Spannung für eine überschaubare Anzahl von bekannten Stammesmitgliedern zurechtkommen, sind wir heute, in der globalisierten Welt, gefordert, sie mit jedem Mitglied der Menschheit zu verbinden. Jeder Mensch darf genau so sein, wie er/sie ist, und ist gerade deshalb wesensgleich mit uns selber.

Und das ist erst der Anfang der Toleranzspannung. Da wir selber gewissermaßen unterhalb unseres Menschseins auch Naturwesen sind, braucht es diese Spannung auch im Verhältnis zu allen anderen Naturwesen. Dafür ist es erst ein kleiner Beginn, wenn wir damit aufhören, unsere nächsten Naturgenossen, die Tiere, zu verzehren.

Dienstag, 8. Juli 2014

Unterschiede im inneren Wachstum

Wenn Menschen den Weg der inneren Heilung verfolgen, gehen sie durch bestimmte Phasen durch, die sich in sehr unterschiedlichen und individuellen Formen ausbilden. Wann immer sich in unserem Inneren etwas gelöst und befreit hat, begegnen wir der Welt und den anderen Menschen auf neue Weise. Vieles davon erleben wir als Verbesserungen, als Errungenschaften, nach denen wir schon lange gesucht haben. Andere Aspekte daran stellen uns vor neue Herausforderungen. 

Dazu zählt die Frage des Umgehens mit den Unterschieden im Wachstum. Wenn wir schon die Analogie des Wachsens verwenden, heißt das, dass wir mit jedem Schritt der inneren Entwicklung ein wenig größer werden als andere, die sich nicht entwickeln. Und wenn wir größer werden, schauen wir auf sie hinunter. Damit sind wir schon in der Metapher für Überheblichkeit. Wir fühlen uns "besser" (im Sinn von überlegen) als unsere Mitmenschen die gar nicht oder weniger an sich gearbeitet haben, die einen anderen Weg verfolgen oder nicht weiterkommen. Vielleicht verstehen wir nur ihre Art des Weiterkommens nicht, aber das bekümmert uns nicht, wenn wir in dieser Einstellung befangen sind. 

Jedenfalls entsteht eine Kluft, die uns von Menschen, die uns bisher vertraut waren, unterscheidet. Selbstverständlichkeiten, die vorher gegolten haben, funktionieren nicht mehr. Wir sehen uns selbst und die anderen in einem neuen Licht, und dieses Licht erzeugt neue Schatten, so, als würden die Fehler und Schwächen der anderen Personen überdeutlich werden im Vergleich zu ihren Stärken und Schönheiten.


Weshalb wollen wir uns unterscheiden?


Wir brauchen Unterschiede, weil sie uns motivieren, Anstrengungen für das Wachstum zu unternehmen. In der relativen Welt braucht es Motivatoren, die das Ausbrechen aus Mustern schmackhaft machen. Schließlich haben wir uns gut in unseren Gewohnheiten eingelebt, und sie geben uns eine gewisse Bequemlichkeit und Sicherheit. Wollen wir der Enge, die sie uns gleichwohl bereiten, entkommen, brauchen wir eine Idee von Fortschritt, von Verbesserung, von einem Zustand, zu dem hin wir uns entwickeln wollen. Sonst wären die Kräfte der Beharrlichkeit übermächtig. 

(Es mag wohl irgendwann auf der Reise den Punkt gehen, an dem wir verstehen, dass es keinen wirklichen Fortschritt gibt, sondern nur Bewegung. Aber solange wir diese Sichtweise nicht voll inkorporiert haben, brauchen wir dieses wertende Unterscheiden, das hinter dem Fortschrittsbegriff steckt.)


Wachstum und Vergleichen


Wie schon im Beitrag über die Phasen der Entwicklung beschrieben, beginnen Menschen ihren Erforschungsweg mit unterschiedlichen Ausgangsbedingungen und Voraussetzungen. Sie wählen auch unterschiedliche Herangehensweisen, Methoden und Techniken. Damit ist klar, dass prinzipiell jeder Weg individuell und einzigartig ist.

Dennoch neigen wir dazu, uns zu vergleichen, weil wir immer eine Abstimmung unserer inneren Erkenntnisse mit den anderen Menschen suchen. Wir wollen ja nicht aus der Gemeinschaft der Menschen herausfallen, wenn wir uns in neue Richtungen bewegen. Über lange Perioden unseres Lebens galt eine Hauptbestrebung der Anpassung an die Umstände, denen wir ausgesetzt waren, und an die Erwartungen, die auf uns gesetzt wurden. 

Doch so können wir uns irgendwann nicht mehr verhalten, weil es uns wie ein Verrat uns selbst gegenüber erscheinen würde. Wir sind anders geworden und müssen deshalb auch das Verhältnis zu den anderen neu bestimmen. Das geht meist nicht ohne Schwierigkeiten, für uns und für sie. Wir suchen Gleich-Gesinnte, die uns bestätigen, dass wir am richtigen Weg sind - und dass die anderen es nicht sind.

Zum Verständnis des unterschiedlichen Erlebens von Unterschieden in der Entwicklung greife ich auf das Phasenmodell des individuellen Wachstums zurück.


Phase 1: Selbstabwertung und Selbstannahme


Wer auf den inneren Weg geht, hat bemerkt, dass er nicht mehr so funktionieren kann, wie es ihm bisher gelungen ist. Eine innere Unruhe, eine Unzufriedenheit mit dem Leben, Schwierigkeiten in Beziehungen, seltsame körperliche Beschwerden; irgendwo hat sich etwas im eigenen Leben quergelegt, was nicht mit den herkömmlichen Strategien auf gleich gebracht werden kann. Es wird deutlich, dass etwas an einem selber unrund oder mangelhaft ist. 

Also muss Hilfe gesucht werden, und das ist mit dem Eingeständnis verbunden, es alleine nicht zu schaffen, was für viele einer Peinlichkeit und Demütigung gleichkommt. Bisher haben sie so bravourös ihr Leben gemeistert, so viel geschafft, und nun stehen sie an und wissen nicht weiter.

Andere, die sich leichter tun, Hilfe zu suchen, weil sie das gewohnt sind, bestätigen sich zwar weiter in ihrer Hilflosigkeit, wenn sie an eine Engstelle kommen. Für sie zeigt sich der Punkt der Scham dort, wo sie erkennen, wie sie andere Menschen ausgenutzt und manipuliert haben, damit sie die eigenen Schwächen ausbügeln.

Neidvoll geht der Blick auf die vielen Menschen, die so selbstverständlich und erfolgreich den Geschäften ihres Lebens nachgehen, scheinbar ohne innere Probleme, Skrupel und Ängste. Aalglatt und stromlinienförmig gleiten sie durch die Fährnisse des Alltags. Zum Unterschied von einem selber sind sie nicht auf Hilfe angewiesen, um mit dem eigenen Leben klarzukommen. 

Die bittere Klage über das eigene Schicksal führt bald auf die Suche nach den Verantwortlichkeiten, nach den Tätern, die einen in diese hilfsbedürftige und abhängige Position gebracht haben. Wer hat mir die Schäden zugefügt, an denen ich jetzt leide?

Die Klage wird zur Anklage, auch deshalb, weil das Ausmaß der eigenen Misere im Vergleich zu den so tüchtigen Anderen spürbar wird. Denn der innere Erforschungsprozess führt zu den dunklen Flecken der eigenen Biographie, auf die zugefügten Schmerzen und Einschränkungen in den frühen Phasen des Lebens. Er führt zur Erkenntnis, dass zu wenig Liebe und zu viel Druck da war, als dass eine gedeihliche Entwicklung der eigenen Persönlichkeit möglich gewesen wäre. 

Andere haben da offenbar besser abgeschnitten vom Kuchen der Vorzüge des Lebens. Ihnen gilt der Neid und eine gebrochene Bewunderung. Denn der Verdacht wächst, dass hinter den Fassaden der Glücklichen und Erfolgreichen unerkannte und unbewusste seelische Gebrechen schlummern können - wie der Konsument der Regenbogenpresse beiderlei braucht: Die Traumhochzeiten, Reichtümer und Glücksanhäufungen der Berühmtheiten, die neidvoll bewundert werden, und die Skandale, Zusammenbrüche, Albtraum-Scheidungen, die mittels klammheimlicher Schadenfreude die Selbstwertbalance wieder herstellen.


Phase 2: Stärkung der Selbstperspektive


Die Erfolge in der Selbsterforschung und -erkenntnis werden spürbar. Vielleicht sind die Probleme noch die gleichen, aber die Einstellung dazu hat sich verändert. Vor allem die Haltung zu sich selbst gestaltet sich um: Statt die Abwertungen, die im Lauf der frühen Lebensgeschichte in die eigene Seele übernommen wurden, destruktiv auf sich selbst anzuwenden, wird die Selbstachtung Schritt für Schritt aufgebaut. Es fällt zunehmend leichter, sich selbst so anzunehmen, wie man/frau ist. 

Doch ruht die Selbstakzeptanz noch auf wackeligen Beinen, deshalb bewirkt sie noch nicht automatisch, auch die anderen so anzunehmen, wie sie sind. Vielmehr entsteht häufig zunächst eine Reaktionsbildung derart, dass die Abwertung, die man selbst erlitten hat, unbewusst gegen andere gerichtet wird. Ihre Fehler werden umso deutlicher erkannt, je mehr einem die eigenen Schwächen bewusst wurden. Als Ausgleich für den lange ertragenen Mangel an Wert werden die Schwachstellen der Mitmenschen unerbittlich aufgedeckt und bloßgestellt. Die neu gewonnene Selbsteinsicht, verbunden mit einer neuen Selbstsicherheit, wird abwertend gegen die anderen gerichtet, die noch nicht so weit sind. Der Lohn für die eigene Arbeit an der Überwindung der Ängste besteht darin, die Überlegenheit über andere zu kultivieren und sich damit eine vorläufige Form der sozialen Sicherheit aufzubauen. Vor jemandem, der selber Schwächen hat und sie vielleicht gar nicht kennt, braucht man keine Angst – und auch keinen Respekt zu haben.

Es wird dann gerne verglichen - wie viel weiter sind andere, vor allem Identifikationsfiguren für das eigene Wachstum wie Lehrer oder Therapeuten? Gerne werden aber auch andere gesucht, bei denen man sich beruhigt vergewissern kann, um wie viel weiter man selbst fortgeschritten ist als sie. Das Vergleichen führt also entweder in die Position der Überheblichkeit oder der Minderwertigkeit, je nach der Richtung, in der der Vergleich angelegt wird. Es spiegelt die Unsicherheit in der Selbstannahme wider und soll das Ich stärken und stabilisieren. 

Der Mechanismus dieser Phase kann auch als eine Umkehrung ins Gegenteil verstanden werden. Aus dem abgewerteten Opfer entsteht der abwertende Täter. Stolz und Verachtung bekommen eine neue Verwendung. Sie richten sich gegen diejenigen, die "noch nicht so weit sind", "so unbewusst und unreflektiert" durchs Leben laufen, "so wenig begriffen haben, worum es eigentlich geht". Eigene Erfahrungen werden in Belehrungen umgemünzt. Die eigene Methode muss die beste sein, die eigene Lehrerin die vollkommenste. Es wird ein missionarischer Predigerton angeschlagen, und es gibt dann nur mehr diejenigen, die die Wahrheit teilen, und die anderen, die an ihrer Unwahrheit verderben.

Unterschiede im Wachstum werden zum eigenen Vorteil ausgeschlachtet, was, vom "Täter" meist unbemerkt, das eigene Ego stärkt und damit dem nächsten Wachstumsschritt im Weg steht. Denn dieses Ego hat sich gerade in seiner Stärke und Selbstbewusstheit gefunden und will sich nie mehr unterkriegen lassen.


Phase 3: Zurücknahme des wertenden Unterscheidens 


In dieser Phase werden die Beziehungen in ihrer überindividuellen Dynamik erkennbar: Es gibt Kräfte, die sich der Kontrolle des Einzelnen entziehen, und die nicht einer einzelnen individuellen Macht unterworfen werden können, sondern von mehreren Seiten her verstanden werden wollen. Dann erst können sie gemeinsam verändert und gestaltet werden.

Es wird erkannt, wie das Vergleichen die eigene Entwicklung torpediert, statt sie weiterzubringen. Die neue Einstellung kann die Unterschiede unter den Menschen zulassen und wertschätzen. Wie können die Unterschiede zum gegenseitigen Bereichern beitragen? 

Kommt es zu "Fehlern", so beginnt jetzt die Suche bei sich selbst, statt sie den anderen anzulasten. Was kann ich an mir ändern, damit es mir besser geht? Wie kann ich anders auf die Mitmenschen zugehen, damit sie mir freundlicher begegnen?

Je eingehender das systemische Denken verstanden und angewendet wird, desto fragwürdiger wird der Begriff des "Fehlers" überhaupt. Denn zu jedem Zeitpunkt geschieht das Optimale, zu dem wir jeweils in der Lage sind. Nachträglich erkennen wir zwar häufig, dass wir etwas anders hätten machen können, was für uns vorteilhafter gewesen wäre. Aber statt den vergangenen übersehenen Chancen nachzuträumen, geht der Blick auf das, was für die Zukunft besser und anders gemacht werden kann. 

Zusätzlich geht, wenn ein emotionales Problem auftaucht, der Blick dorthin, wo die Wurzel in einem selber liegen könnte, die bewirkt, dass eine bestimmte Situation als belastend oder störend erlebt wird. 

Sobald sich jemand als erstes auf sich selbst ausrichtet, wenn es darum geht, die inneren Umstände des eigenen Lebens zu verändern, wird das Vergleichen mit anderen weniger interessant. Niemand ist in der gleichen Lage, in der wir uns selber befinden. Zwar gibt es Ähnlichkeiten, von denen wir uns Anregungen nehmen können, aber wichtiger sind jetzt die Unterschiede, die die eigene Situation einzigartig machen. Nur so können wir herausfinden, was für uns am förderlichsten ist und wie wir uns dorthin verändern können.


Phase 4: Verbindung im Fließen


Das eigentliche Ziel der Entwicklung ist die Freiheit von Ängsten und Abhängigkeiten und die Öffnung für die Kraft der Liebe. Je näher die erforschende Person diesem Ziel kommt, desto leichter kann sie selber mit den eigenen Problemen und Engstellen umgehen. Sie wird nicht mehr in Versuchung kommen, andere Menschen für das eigene Leiden verantwortlich zu machen, sondern die Wurzeln des Leidens in sich selber suchen und dort aufzulösen trachten. Sie praktiziert Methoden dafür oder weiß, wo sie sich kompetente Unterstützung holen kann. Bei Störungen in der Kommunikation mit anderen wird ein Weg der achtungsvollen Wiederherstellung der Verbindung gesucht.

An die Stelle des Vergleichens tritt ein Mitgefühl ohne Unterschied und Ansehen der Person. Statt andere Menschen ändern zu wollen, wirkt das Prinzip des Nicht-Wollens. Es braucht keine Absicht mehr, es genügt das liebevolle Dasein für das, was gerade ist, und die freundliche Zuwendung für die Person, mit der wir gerade zu tun haben.

In dem Maß, in dem die Erfahrung des Fließens in der einen oder anderen Form auftritt, wird die Verbundenheit mit dem Erleben im Moment so stark, dass Konzepte, die Unterschiede zu anderen Menschen und deren Erfahrungen aufbauen, nicht mehr gebraucht werden. Alles gilt gleichermaßen, was Menschen erleben und wie sie ihr Leben führen. Alles davon ist verwandt mit eigenen Erfahrungen, nichts ist wirklich fremd. In diesem Bewusstseinszustand zählen keine Wertungen mehr, jedes Wesen darf so sein, wie es ist und kann so wertgeschätzt werden. Die Liebe, die sich darin zeigt, ist nicht mehr an Bedingungen gebunden, sondern fließt frei.

Sonntag, 6. Juli 2014

Phasen des inneren Wachsens

Unter innerem Wachstum verstehe ich die Arbeit an der eigenen Bewusstseinsevolution. Sie besteht vor allem darin, die Ängste, die aus der eigenen Geschichte stammen, aufzulösen, sich den Verletzungen und schmerzhaften Erfahrungen zu stellen und mit der Vergangenheit Frieden zu schließen. Diese Innenarbeit erfordert Konsequenz und Mut, und das Vertrauen auf die Gnade. Sie kann auch als die bewusste und aktive Mitwirkung am eigenen Wachstumsprozess verstanden werden.

Das innere Wachstum trägt immer auch zur kollektiven Bewusstseinsevolution bei. Individuelle und kollektive Entwicklung sind untrennbar miteinander verbunden. Wenn sich ein Mensch innerlich weiterbildet, Ängste und neurotische Verstrickungen löst, kommt das immer auch seiner Umgebung zugute und regt dort im günstigen Fall Wachstumsimpulse aus. 


Wenn eine Person den Raum der inneren Freiheit erweitern kann, trägt sie dazu bei, dass in der Welt ein Stück mehr Freiheit gelebt wird. Umgekehrt müssen die äußeren Umstände so beschaffen sein, dass sie die Gelegenheit für die innere Öffnung bieten.

Menschen beginnen diesen Weg von unterschiedlichen Voraussetzungen aus und gehen ihn auf unterschiedliche Weise. Zu den Voraussetzungen zählt das Ausmaß an Schwierigkeiten und Problematiken, das zwischen den Menschen äußerst verschieden ausgeprägt ist. Doch scheint es so, dass alle Menschen in irgendeiner Weise von Krisenerfahrungen und Traumatisierungen betroffen sind. Selbst wenn ein Leben auf einer vergoldeten Rutschbahn abzulaufen scheint, wenn offenbar alles da ist: Liebevolle Eltern, Wohlstand, Talente und Erfolge, kann etwa die Embryonalentwicklung problematisch und die Geburt schwierig gewesen sein, es können Belastungen aus früheren Generationen übertragen worden sein, es können Krankheiten im eigenen Leben und tragische Schicksale in der Umgebung aus dem Nichts auftauchen. Auch hier und gerade hier besteht die Notwendigkeit, innerlich zu wachsen.

Mit den unterschiedlichen Weisen, in denen Wachstum stattfindet, ist grundsätzlich gemeint: Wachstum, das durch bewusst gesetzte und erlebte Schritte erfolgt, und Wachstum, das durch äußere Einwirkungen bewirkt wird. Ein Beispiel für die erstere Variante ist die Innenarbeit durch Therapie oder Meditation, ein Beispiel für die zweite Möglichkeit ein Reifungssprung, der durch eine schwere Krankheit oder einen Schicksalsschlag erfolgen kann.


Vier Phasen des Wachsens


Ich schlage zum Verständnis dieser Entwicklung ein Phasenmodell der individuellen Bewusstseinsevolution vor. Das Modell bezieht sich auf die mit individueller Bewusstheit verbundene Spielart der Bewusstseinsevolution, also dort, wo Menschen absichtsvoll und mit persönlichem Einsatz an der Behebung von inneren Mängelzuständen arbeiten. Diese Phasen unterscheiden sich im individuellen Erleben, sind jedoch nicht Stufen auf einer Treppe vergleichbar, weil es oft nicht eindeutig bestimmt werden kann, in welcher Phase sich jemand befindet, weil sich das Verhalten situativ ändern kann. In einer Situation kann jemand einer Phase entsprechen, in einer anderen einer anderen. Allerdings wird häufig ein Zunehmen der Inhalte einer neuen Phase und ein Abnehmen der Inhalte einer früheren Phase erlebt.

Zu diesem Modell bemerke ich noch, dass es sich auf nur wenige Aspekte des komplexen Phänomens des inneren Wachsens bezieht. Es dient auch als Raster für das Thema des Umgehens mit Unterschieden im Wachstum, das dann noch in eigenen Beiträgen behandelt wird.


Phase 1: Aufbruch und Widerstand


Zu Beginn dieses Weges zeigt sich meist ein Gefühl des Aufbruchs, freilich gepaart mit viel Unsicherheit und Skepsis, denn es ist nicht klar, wohin die Reise geht und was sie kosten wird. Veränderungen werden bemerkbar, sind aber nicht stabil. Häufig wird ein Auf und Ab erlebt: Hochzustände signalisieren, dass sich etwas geändert hat. Aber dann kommt es wieder zu Zeiten des Misstrauens in die Entwicklung, wenn scheinbar nichts weitergeht oder alte Muster umso stärker wieder zuschlagen.

Die Widerstände gegen die innere Veränderung, gegen das Aufgeben von dysfunktionalen Gewohnheiten, die Ängste, die sich unterhalb der sozial geprägten Oberfläche zeigen, entfalten ihre Wirksamkeit. Sie werden als mühsam erlebt, weil sie drohen, erreichte Fortschritte wieder zunichte zu machen. Sie geben aber zugleich die Richtung an, in die es gehen soll.

Zweifel an der Richtigkeit des eigenen Weges führen oft dazu, dass begonnene Prozesse, Übungen, Therapien oder Gruppen abgebrochen werden und immer wieder neue Möglichkeiten ausprobiert werden.

Nach dem Modell der Bewusstseinsevolution geschieht in dieser Phase das Heraustreten aus den Prägungen durch die ersten vier Bewusstseinsstufen. Es steht die innere Ablösung aus der Herkunftsfamilie an (tribale Stufe), die Auseinandersetzung mit der eigenen Autonomie (emanzipatorische Stufe), die Überwindung von Unter- und Überordnungen (hierarchische Stufe) und die Distanzierung der giergelenkten Ego-Bedürfnisse (materialistische Stufe) an.


Phase 2: Ich-Autonomie


Der eigene Fortschritt hat sich ein Stück stabilisiert und wird auch an spürbaren Veränderungen im eigenen Leben erkannt. Bestimmte Verhaltensmuster haben sich nachhaltig verändert. Die Richtung, in die es gehen soll, ist deutlich sichtbar.

Es wächst die Sicherheit und das Selbstverständnis. Es entsteht das Gefühl, für die eigenen Probleme selber die Verantwortung übernehmen zu können. Die Einstellung, das Opfer der Bosheit anderer Menschen oder der Umstände zu sein, verliert an Kraft.

In dieser Phase wird das Ego gestärkt. Es hat sich da und dort aus Abhängigkeiten befreit und will sich in seiner neu gewonnenen Autonomie auch in der Welt behaupten.

Die Ich-Autonomie, das Selbstgefühl und die Selbstsicherheit werden gestärkt. Damit nimmt die Person ein neues Verhältnis zur Welt ein. Die Form der Begegnung wandelt sich, indem die Opferposition verlassen wird. Deshalb wird unbewusst häufig statt der Opferposition die Täterposition eingenommen. Statt sich Grenzüberschreitungen durch andere gefallen zu lassen, wird begonnen, selber die Grenzen anderer zu verletzen. Wo bisher Aggressionen geschluckt wurden, werden sie jetzt ausgedrückt.

Wir können diese Phase mit der fünften, personalistischen Stufe der Bewusstseinsevolution vergleichen. Hier geht es um die Erkenntnis und Aneignung der eigenen persönlichen und individuellen Qualitäten, die den Unterschied zu den anderen Menschen und die Absetzung von ihren Erwartungen deutlich werden lassen.


Phase 3: Mehr Perspektiven


In dieser Phase treten die Beziehungen zu anderen Menschen, aber auch zu anderen Sichtweisen und Ideen in den Vordergrund. Das Nicht-Eigene wird nicht mehr nur aus der eigenen Perspektive heraus gesehen und interpretiert. Die Relativität der eigenen Einsichten wird deutlich. Es wird auch erkannt, dass die inneren Erfahrungen nur schwer kommuniziert werden können, und nicht deshalb, weil die anderen so schwer von Begriff sind oder so ignorant, sondern weil Erfahrungen individuell und subjektiv sind. Die Herstellung einer Verständigung ist daher eine beständige neue Aufgabe, und ihr Gelingen hängt nicht nur von der Öffnung des Gegenübers ab, sondern auch von der eigenen Bereitschaft, sich verständlich zu machen.

Wir verstehen uns selber besser, wenn wir das Spiel von unterschiedlichen Persönlichkeitsanteilen näher kennenlernen und reflektieren können. Wir wissen dann, dass wir nicht nur eine Person sind, die immer gleich ist, sondern dass wir einmal so, einmal anders reagieren können. Wir lösen damit schrittweise die Identifikation mit solchen Anteilen in uns und gründen unsere Identität dann nicht mehr auf eine der Teilpersönlichkeiten, sondern auf eine Instanz, die zu all diesen Anteilen als Beobachter und Zeuge in Distanz bleibt.

Mit dem Erkennen der Kontextabhängigkeit unserer Wahrheiten und der Unvorhersehbarkeit der kommunikativen Vermittlung schwindet die Basis für das Abwerten anderer Personen. Das Einlassen auf die Relativität hilft, die eigene Individualität, das eigene So-Sein, in Relation zur Individualität, dem So-Sein anderer Menschen zu sehen. Damit rücken die fundamentale Unterschiedlichkeit der Menschen und ihre ebenso fundamentale Gleichheit auf eine Ebene und brauchen nicht mehr gegeneinander ausgespielt zu werden.

Menschen versuchen häufig, aus dieser Position heraus bei Angelegenheiten anderer Menschen zu vermitteln, zu mediieren. Wer sich einer Therapie unterzogen hat, spürt den Wunsch, selber Therapeut zu werden. Leicht und gern wird die Rolle des Retters eingenommen, des allparteilichen Besserwissers. Diese Rolle kann sehr hilfreich sein, um Missverständnisse zwischen Menschen und daraus erwachsende Streitigkeiten zu schlichten und, statt Zwistigkeit auszuleben, der Verständigung den Weg zu ebnen. Dennoch kann der Konfliktvermittler, der Retter, in eine Position der Überheblichkeit geraten, die ihn dann ein Stück in die 2. Phase des inneren Wachstums zurückholt.

Diese Phase entspricht der Stufe des systemischen Bewusstseins im Modell der Bewusstseinsevolution. Das Einüben in das systemische Denken und Erleben stellt einen wichtigen Schritt in der inneren Entwicklung dar, weil dadurch eine vielgestaltige Sicht auf die Probleme des Lebens möglich wird, und unterschiedliche Lösungsmöglichkeiten erkannt werden.


Phase 4: Der Weg ist das Ziel


Das eigentliche Ziel der Entwicklung ist die Freiheit von Ängsten und Abhängigkeiten und die Öffnung für die Kraft der Liebe. Je näher die erforschende Person diesem Ziel kommt, desto leichter kann sie selber mit den eigenen Problemen und Engstellen umgehen. Sie wird nicht mehr in Versuchung kommen, andere  Menschen für das eigene Leiden verantwortlich zu machen, sondern die Wurzeln des Leidens in sich selber auflösen. Sie praktiziert Methoden dafür oder weiß, wo sie sich kompetente Unterstützung holen kann. Bei Störungen in der Kommunikation mit anderen wird ein Weg der achtungsvollen Wiederherstellung der Verbindung gesucht.

Das Bedürfnis, sich besser als andere fühlen zu müssen, ist verschwunden. Ebenso hat sich das Bedürfnis verabschiedet, anderen helfen zu wollen, damit es einem selber besser geht. Das eigene Wohlgefühl, die Gelassenheit, die aus der Aufarbeitung von Ängsten führt, fließen in Mitgefühl mit anderen ebenso wie in die Entfaltung der Kreativität in unterschiedlichen Lebensbereichen hinein. Aus der Liebe und der schöpferischen Kraft zu leben, ist dann die wichtigste Richtschnur im eigenen Leben, und andere aus diesen Quellen zu unterstützen, zu bereichern und ohne Druck und Manipulation zu inspirieren, wird zur beständigen Aufgabe - eine Aufgabe, die aus der inneren Freiheit kommt statt aus einer auferlegten Anstrengung.

Diese Phase entspricht einer Annäherung an die siebte Stufe der Bewusstseinsentwicklung. Sie stellt das Ziel der inneren Entwicklung dar und wird in ihrer Fülle umso mehr spürbar, je weiter die Reise zum Zentrum des Wissens und der Weisheit führt.