Montag, 30. April 2018

Erwachsensein und Angst

Wie wir noch klein waren, hat uns Vieles Angst gemacht. Wir hatten noch so wenige Fähigkeiten, die komplexen Abläufe der Wirklichkeit zu durchschauen und Harmloses und Gefährliches voneinander zu unterscheiden. Deshalb konnte uns schnell etwas ängstigen – die Dunkelheit, fremd wirkende Menschen, abweisende Blicke des Vaters, Spinnen, das Schicksal von Märchenfiguren, der Tod eines Haustiers usw. An wichtigen Punkten unserer Entwicklung konnten uns für unsere Sicherheit entscheidende Ressourcen fehlen (z.B. die Nähe zur Mutter nach der Geburt, die Ermutigung durch die Mutter bei den ersten aufrechten Schritten, das Verständnis der Eltern bei Wutanfällen und Furcht). Wir haben immer wieder Situationen der emotionalen und kognitiven Überforderung erlebt, in denen wir uns verletzt, schutzlos, hilflos und verwirrt fühlten. 

Viele dieser Ängste haben unsere Kindheit überlebt, versteckt in unserem Unterbewussten. Als Erwachsene gibt es wesentlich weniger Notwendigkeiten, uns hilflos und schutzlos zu fühlen. Wir haben eine große Menge an Fähigkeiten und Kompetenzen erworben, um die Herausforderungen, vor die uns die Wirklichkeit stellt, zu meistern und die Prüfungen des Lebens zu bestehen. Wir haben auch die Kraft, nach Misserfolgen und Versagen wieder aufzustehen und weiterzugehen. 


Dürfen Erwachsene ängstlich sein?


Heißt nun Erwachsensein frei von Ängsten zu sein? Oft haben wir als Kinder gehört: Du bist ja schon groß, da brauchst du dich nicht mehr zu fürchten. So hat sich in uns die Annahme verfestigt, dass Erwachsensein mit Angstfreiheit verknüpft ist. Und deshalb neigen wir als Erwachsene dazu, unsere Ängste zu übersehen, zu ignorieren oder uns für sie zu schämen: Wie kann ich nur so dumm sein und mich wegen einer solchen Kleinigkeit ängstigen? 

Müssen wir als Erwachsene immer stark sein und ohne Furcht durchs Leben schreiten? Die meisten Ängste, die wir als Erwachsene erleben, sind mit Erfahrungen aus unserer Kindheit verbunden und werden aus ihnen gespeist. Diese Ängste können so stark sein, dass sie uns hindern, wichtige Ziele in unserem Leben zu erreichen und konstruktive Veränderungen vorzunehmen. Sie dienen oft dazu, dass wir in Gewohnheiten verharren, die nicht mehr sinnvoll sind, sondern uns innerlich einschränken und im Äußeren irritierende Reaktionen hervorrufen. Sie halten uns davon ab, viele der Chancen, die uns das Leben bietet, zu erkennen oder zu ergreifen. 

Erwachsene unterscheiden sich von Kindern nicht darin, dass sie keine Ängste mehr haben, sondern darin, dass sie sich von den Ängsten, die auftreten, wenn sie eben auftreten, nicht lähmen lassen. Es gibt zwar Erwachsene, die von sich behaupten, keine Ängste zu kennen, doch sind das meist solche, die ihre Ängste verdrängt und tief ins eigene Innere verbannt haben. Oft wollen sie sich durch besonders riskante Unternehmungen beweisen, wie angstfrei sie sind, während sie in Wirklichkeit dafür sorgen, dass ihre innere Angstabwehr verstärkt wird.

Vor allem Erwachsene, die sich mit ihren aus der Kindheit stammenden Ängsten auseinandergesetzt haben, lassen sich weit weniger ängstigen und können besser mit angstvollen Erlebnissen umgehen. Sie können ihre Ängste spüren und sie als Kraftquelle nutzen. Wenn sie vor neuen Situationen stehen, lassen sie sich nicht durch Furcht aufhalten, weiterzugehen und sich überraschen zu lassen. Dennoch kann auch eine gründliche Innenarbeit nicht vollständig vor allen Ängsten bewahren. Es kann im Leben immer wieder unvorhersehbare Herausforderungen geben, die unser Sicherheitsgefühl bedrohen und Ängste auslösen. 

Erwachsensein ist also nicht durch die Abwesenheit von Ängsten definiert, sondern durch ein anderes Umgehen mit ihnen. Sie können auftauchen und werden dann ernstgenommen, sie müssen also nicht unterdrückt werden, vielmehr bekommen sie Aufmerksamkeit, ohne aber die Handlungsfähigkeit zu blockieren. Ein Erwachsener ist fähig, mit und trotz einer Angst in eine neue Erfahrung hineinzugehen. Er kann seiner Angst respektvoll einen Platz in sich zuweisen, von dem aus sie dazu dienen kann, dass der neuen Situation mit entsprechender Vorsicht und Achtsamkeit auf mögliche Gefahren, aber auch mit einer besonderen Entschlossenheit begegnet wird.

Jede Erfahrung, die Hand in Hand mit einer inneren Angst bewältigt werden konnte, macht stärker und kräftigt das Selbstvertrauen, das dann für künftige Herausforderungen zur Verfügung steht. Wir können uns im Vollzug der aktiven Handlung selbst davon überzeugen, dass wir Ängste für unsere Ziele nutzen können, wenn wir sie ernstnehmen, ohne ihnen die Macht über uns und unsere Handlungsfähigkeit einzuräumen. Mutig sind wir dann, wenn wir uns von unserer Angst nicht unterkriegen lassen, wenn wir also trotz „innerem Schweinehund“ tun, was zu tun ist. Wer seine Ängste kennt, ist sicherer als wer meint, von Ängsten frei zu sein.


Bewusstheit und Verantwortung


Erwachsenwerden geht einher mit Bewusstwerden. Es entsteht in uns eine Instanz, die die Vorgänge, die in uns ablaufen, erkennen und reflektieren kann. Wir lernen, uns von unseren Emotionen zu unterscheiden. Wir sind nicht mehr bloß die Angst, sondern sie ist ein Gefühl in uns, das begrenzt ist und vorübergehen wird. Auf diese Weise werden wir immer erfolgreicher darin, uns nicht von Ängsten beherrschen zu lassen, bis wir einen Weg finden, sie zu unseren Kumpanen zu machen, die wir auf unsere Reise durch die Welt mitnehmen.

Erwachsensein bedeutet auch, Verantwortung zu übernehmen. Wir sind es, die in uns Ängste produzieren, wir brauchen nicht gegen äußere Instanzen zu kämpfen, wenn es in Wirklichkeit darum geht, die Ängste in uns zu befrieden. Wir stehen zu Ängsten, wenn sie da sind, weil wir wissen, dass wir sie aushalten und schließlich für uns nutzen können.


Integrativ mit unseren Ängsten umgehen


Reifung bedeutet also, einen integrierenden Umgang mit unseren Ängsten und unseren Angstneigungen zu entwickeln. Wir brauchen Situationen, die uns Angst machen, nicht mehr zu meiden; wir können sie, wenn nötig, mit erhöhter Vorsicht und Achtsamkeit angehen. Wir brauchen aber auch nicht angstmachende Situationen suchen, um uns und anderen zu beweisen, dass wir keine Angsthasen sind. Das Leben hat genug an Situationen für uns im Angebot, die unsere selbstgesetzten Grenzen immer wieder bereitwillig herausfordern, wenn wir nur unsere Sinne offen halten.

Persönliche Reifung ist ein lebenslanger Prozess. Wie es auch im Wort steckt, ist das Erwachsenwerden ein Wachstumsvorgang, der niemals abgeschlossen ist, sondern besonders in solchen Situationen zum Weiterwachsen gefordert ist, in denen sich eine Angst meldet. Erst der Tod ist für uns alle der letzte Wachstumsschritt, in drastischer Weise der Endpunkt und die Vollendung des Wachsens und Erwachsenwerdens.

Gibt es eine Vollendung schon vor dem Tod? Im Diskurs um die Erleuchtung als Ziel des inneren Wachsens ist oft davon die Rede. Deshalb setzen manche Autoren die Erleuchtung mit dem erreichten Erwachsensein gleich: Nicht mehr von Ängsten eingeschränkt und geblendet zu sein und damit Teile der Wirklichkeit von sich abspalten zu müssen, sondern die Wirklichkeit in jedem Moment in ihrer Gänze annehmen zu können. Andere Autoren sehen in der Erleuchtung das Wiederfinden der kindlichen Unschuld. Vielleicht besteht zwischen diesen beiden Konzepten gar kein Gegensatz, ebenso wenig, wie das Erwachsensein dem Kindsein entgegensteht: Ein Erwachsensein, das das ganze Leben in seiner Geschichtlichkeit einschließt, das mit allen Sinnen und Geisteskräften in der Gegenwart steht und das für alles, was die Zukunft bringen mag, offen ist.

Sonntag, 15. April 2018

Der Raub des Selbst

Als Kinder haben wir unser Leben mit einem unbedingten Vertrauen und unbedingter Hingabe begonnen, mit der organisch in uns verankerten Bereitschaft und Erwartung, unser Selbst zu entwickeln, auf der körperlichen, seelischen und geistigen Ebene. Wir brauchen dafür eine liebevolle und unterstützende Haltung von den erwachsenen Menschen um uns herum, die anfangs die Verantwortung für die Erfüllung unserer Bedürfnisse übernehmen müssen.

Schrittweise lösen sich diese Abhängigkeiten, in dem Maß, in dem wir lernen, Verantwortung für uns selbst und für unsere Bedürfnisse zu übernehmen. Wir wachsen an Autonomie. Dabei entfaltet sich unser Selbst mehr und mehr, in Weite, Tiefe und Komplexität.

Doch kann diese Entwicklung durch einschränkende und schädigende Einflüsse von außen, vor allem von den Menschen, die die Verantwortung für uns tragen, behindert werden. Eine sehr verbreitete Spielart dieser Problematik besteht darin, dass die Erwachsenen ihre unerfüllten und ungelebten Bedürfnisse und Potenziale auf das Kind übertragen und sich von diesem dann die Befriedigung dieser Ansprüche erwarten. Damit kehrt sich die Dynamik der Verantwortung um: Kinder sollen von früh an die Verantwortung für die Bedürfnisse der Eltern übernehmen. Die Folge ist, wie auch schon in früheren Blogbeiträgen (s. „Zum Weiterlesen“ unten!) skizziert, emotionale Überforderung verbunden mit Schuld- und Minderwertigkeitsgefühlen, den gestellten Erwartungen nicht zu entsprechen.

Die eigenständige Entwicklung des Selbst des Kindes ist unter solchen Umständen behindert und belastet. Die Erziehungspersonen nehmen in einem unbewussten Akt der Okkupation einen Teil des Selbst des Kindes ein, sodass sich dort nichts Eigenes entfalten kann.  Dieser Teil kann sich wie ein fremdes Implantat anfühlen, obwohl das den Kindern meist nicht bewusst wird, weil sie die Umstände, in denen sie aufwachsen, und die Menschen, die dabei die Schlüsselrolle spielen, als selbstverständlich so nehmen, wie sie sind.


Die aggressive Entwendung


Es wird wohl kaum Eltern auf dieser Welt geben, die niemals ihre Kinder abgewertet und aggressiv kritisiert haben. Wenn aber aus stressbedingten Ausrutschern, die dann entschuldigt und bedauert werden, regelmäßige Rituale des Heruntermachens und Entwürdigens werden, dann kann die innere Selbstachtung des Kindes nur zu bröckeln beginnen, bis sie irgendwann in quälenden Selbstzweifeln untergeht. Mit dem Gefühl, wenig oder nichts wert zu sein in den Augen der Menschen, die am meisten geliebt sind, kann sich kein Selbstwertgefühl entwickeln und stabilisieren. Die Unsicherheiten führen dann fast notwendigerweise dazu, dass die Erfolge und Bewährungen in der Außenwelt ausbleiben oder sogar dann noch, wenn sie doch gelingen, im eigenen Inneren abgewertet und relativiert werden.

Fortgesetzte Erniedrigungen und Entwürdigungen, die viele Kinder erleben müssen, können nicht zur Bildung eines konsistenten und kreativen Selbst führen. Jeder Teil, der nicht mit Wertschätzung gefüttert und genährt wird, verkümmert, sodass manchmal sogar die eigene Begabung zur Perfektionierung der Selbstabwertung verwendet wird, so stark kann die Einverleibung der elterlichen Angriffe wirken. Die von außen erlebte Aggression wird in Selbstgeißelungen im Sinn einer konsequenten Selbstverleugnung umgewandelt, aus unbewusster Loyalität zu den aggressiven Seiten der eigenen Eltern.

Freundschaftsbeziehungen und Partnerschaften werden zu Spielwiesen für die verunsicherten Gefühle und Erwartungen. Notgedrungen wird versucht, die entleerten Selbstanteile bei Partnern einzufordern, die sich dann oft unverstanden und missbraucht fühlen. Ohne gefestigtes Selbstgefühl können Beziehungen nur mit Schwierigkeiten aufrechterhalten werden und zerbrechen leicht an Kleinigkeiten.

Die unbewussten Programme sind meist so mächtig, dass sie weiter wirken, auch wenn die rationale Einsicht schon lange erkannt hat, wie selbstbeschädigend sie wirken. Deshalb braucht es Hilfe von außen, um zunächst die Kraft der verinnerlichten Aggression zur Sicherung der ramponierten Grenzen des Selbst verwenden zu können. Dann gilt es, sich in sorgfältiger Arbeit die entrissenen Teile des Selbst wieder anzueignen und mit konstruktiver wachstumsorientierter Energie auszustatten.


Die subtile Entwendung


Neben der aggressiven Selbst-Entwendung gibt es auch subtil-manipulative Formen des Selbst-Raubs in vielerlei Gestalten. Es kann etwa die Mutter zum Kind sagen (oder auch nur nonverbal kommunizieren): Du hast so schöne Augen, die hätte ich auch gerne. Sie meint vielleicht, dass sie das Kind damit in seiner besonderen Schönheit anerkennt und seinen Selbstwert unterstützt. Tatsächlich aber möchte sie das haben, was das Kind hat, weil sie mit dem, was sie selber hat, nicht zufrieden ist.  Sie neidet also dem Kind ein Stück Leben, das ihr selber fehlt.

Das Kind wird ab diesem Moment eine andere Beziehung zu seinen Augen haben. Sie werden ihm ein Stück entfremdet, denn die Mutter hat sie mit ihrem Neid ein Stück an sich gezogen.  Ein Teil des eigenen Selbst ist verloren gegangen, auf subtile Weise erobert und besetzt von der Person, die die meiste Liebe bekommt und gibt. Um diese Liebe nicht zu verlieren, im Geben wie im Bekommen, opfert das Kind den unbefangenen Bezug zu seinen schönen Augen, und ein Schleier zieht sich über die Seele, denn das Selbst kann in diesem Bereich nicht weiter wachsen.

Die Beziehung zu sich selbst ist im Kind unterbrochen. Es hat keine klare und eindeutige Verbindung mehr zu dem inneren Teil, der von der Elternperson in Beschlag genommen wurde. Wenn sich solche Botschaften wiederholen oder in Variationen immer wieder auftauchen, entstehen weitere Unterbrechungen, die das Selbstgefühl immer mehr verwirren. Es schwindet das Gefühl von spontaner Lebendigkeit und von Verbundenheit mit der Außenwelt. An die Stelle dessen tritt ein ängstliches Funktionieren und zauderndes Herumtasten in der Welt. Schließlich kann der Mensch keine überzeugende Antwort mehr auf die Frage finden: Wer bin ich denn eigentlich?


Die Rückgewinnung des Selbst


Erst wenn bewusst wird, was geschehen ist, wenn also der Schleier des Selbstverständlichen gelüftet und der aus der Liebe entstandene Schutz der Eltern vor Anklagen obsolet geworden ist, beginnt die Wieder-In-Besitznahme des eigenen Selbst, die eine gute therapeutische Begleitung bitter braucht. Sie beginnt beim Körper, in dem all die Entwendungen als leere Stellen oder Löcher spürbar sind. Durch liebevolles Hinspüren füllen sich langsam diese Bereiche im Körper, die immer auch Bereiche in der Seele sind, mit Eigenem. Sie werden wieder in Besitz genommen und spontanes Leben kann hinein fließen, indem die lebendige Aufmerksamkeit die Verbindung, die unterbrochen wurde,  wieder herstellt.

Es ist ein längerer und mühsamer Weg, aber er lohnt sich, weil nichts schlimmer ist, als nicht mehr spüren zu können, wer man selber ist. Selbstzweifel können in einer Weise quälen wie starke körperliche Beschwerden. Im Heilungsprozess ist es, als ob Schritt für Schritt inneres verödetes Land wieder urbar gemacht wird, damit dort neues Leben sprießen kann.


Eins mit sich


Mit sich selber eins zu sein, sich als sich selber spüren zu können, ist für viele betroffene Menschen keine Selbstverständlichkeit, sondern etwas, das sie bitter missen und das ihr Leben in vielerlei Hinsichten erschwert. Vielleicht ist es genau das, was viele andere Menschen, die gar nicht auf die Idee kommen, von sich selber getrennt zu sein, mit ihrem Leben und seinen Umständen hadern lässt. Vielleicht sind es gerade besonders sensible, aber auch wache Personen, die diese Ungereimtheit im eigenen Wesen schmerzhaft erleben; ein Schmerz, der sie nach Abhilfe suchen lässt, während andere, denen die Selbstentfremdung zur zweiten Natur geworden ist, den Rest der Welt für ihre Leiden und Probleme verantwortlich machen.

Mit sich selber körperlich und seelisch in Übereinstimmung zu kommen, also psychisch zur Kongruenz und physisch zur Kohärenz zu gelangen, ist ein lebenslanges Ziel jedes menschlichen Wesens und zugleich die Voraussetzung für kreatives Wachstum und schöpferische Lebensfreude. Je mehr Menschen sich diesem Ziel annähern, gleich über welche Ausgangsbedingungen sie verfügen, desto menschlicher wird diese Welt. Besondere Anerkennung verdienen jene, die sich trotz eines schwierigen Kindheitsschicksals auf den Weg machen.

Nachbemerkung:
Der Titel dieses Beitrags suggeriert, dass es um „Verbrechen“ geht, die absichtlich begangen werden. Der „Raub des Selbst“ kann aus subjektiver Sicht von Betroffenen als ein Verbrechen erlebt werden; das heißt aber nicht, dass Eltern mit bösem Willen ihre Kinder um ihr Selbst bringen. Eltern handeln dann lieblos, wenn sie selber nicht genug Liebe bekommen haben, wie schon in anderen Artikeln auf dieser Seite angemerkt wurde. Dennoch enthebt sie die unbewusste Dynamik, der sie unterliegen, nicht der Verantwortung, die sie allerdings erst tragen können, wenn sie zur Einsicht gelangt sind, was sie ihren Kindern angetan haben.

Zum Weiterlesen:

Das Kind in uns
Die Täter-Opfer-Umkehr als Wurzel für Schuldgefühle

Die innere Geschichte der Täter-Opfer-Umkehr
Am Anfang brauchen wir ein Willkommen
Der Verlust und die Wiedergewinnung der Lebendigkeit

Montag, 9. April 2018

Absichtslosigkeit in der Therapie

Wenn wir mit Menschen an emotionalen Themen arbeiten, wollen wir, dass es ihnen besser geht – natürlich. Auch sie wollen das, sonst würden sie sich nicht an uns wenden. Wir teilen also ein Ziel. Doch gibt es etwas, was der Erreichung dieses Ziels im Weg steht. Bei den Klienten sind es die Widerstände, und bei den Therapeuten die Erwartungen. In beiden Fällen mischt sich die Instanz ein, die wir das Ego nennen. Das Klienten-Ego will, dass der Status Quo erhalten bleibt, auch wenn er Leiden verursacht. Jede Änderung könnte bedrohlich sein und unabsehbare, jedenfalls verschlimmernde Folgen zeitigen. Das Therapeuten-Ego will Erfolge sehen, um den eigenen Status und Selbstwert abzusichern und auszubauen. Erfolgreiche Therapien sprechen sich herum und ziehen neue Klienten an.

Soweit so menschlich. Interessant wird es dort, wo die unbewussten Ego-Anteile von Therapeut und Klient aufeinander stoßen. Das Klienten-Ego sagt, dass es sich nicht ändern will und dass Änderungen überhaupt nicht geschehen können und dass die ganze Arbeit sowieso sinnlos ist. Folglich baut es ein System von Vermeidungen auf, das auch darin bestehen kann, kleine Häppchen von Erfolgen zuzulassen, damit die wirklich dicken Hunde, die im Unbewussten schlummern, geschont werden.

Das Therapeuten-Ego arbeitet sich an den Widerständen des Klienten-Egos ab und denkt, dass es umso mehr leisten muss, je weniger sich bewegt. Das eigene Wollen und die eigenen Absichten treten immer mehr in den Vordergrund, weil sich das Therapeuten-Ego im Bündnis mit den bewussten Absichten des Klienten weiß, aber die Widerstände aus dem Unbewussten nicht berücksichtigt werden.

Auf diese Weise verheddern sich die beiden Egos, und die Therapie tritt auf der Stelle. Fatal wird es, wenn der Therapeut diese Rückkoppelung nicht erkennt und auf seiner Selbstbestätigungsschiene weitermacht, die meistens dann die inneren Widerstände der Klientin verstärken.  Zwar möchte ein bewusster Aspekt der Klientin eine gute Klientin sein und versucht zu kooperieren, aber die unbewussten Vermeidungsstrategien sollen unangetastet bleiben. 


Absichtsloses Begleiten


Absichtslosigkeit bedeutet, dass der Therapeut sein Wollen und seine Erwartungen beiseite stellt. Sie sollen sich, soweit möglich, nicht in den Prozess einmischen. Statt sich mit den Widerständen aus dem Klienten-Ego zu duellieren, wird der Kontakt zum inneren Wachstumspotenzial der Klientin gesucht. Was sie hergeführt hat, ist eine Form des Leidens und die Hoffnung, dass es einen Ausweg daraus gibt. Es gibt also, trotz aller Widerstände, einen Teil in der Psyche, der sich befreien will und der daran glaubt, dass das auch möglich ist. Diese Instanz wird manchmal als „innerer Heiler“ bezeichnet.

Der Kontakt zu diesem Teil gelingt nicht über die Erwartungen und die Ego-Wünsche des Therapeuten, sondern erfordert Vertrauen. Die Pläne sollten Sicherheit geben, nach dem Motto: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Das Ego mag Kontrolle und meidet Unsicherheiten und Ungewissheiten. Das Vertrauen hingegen baut auf einen guten Ausgang, ohne einen rationalen Grund dafür angeben zu können. „Vertraue nur, es wird schon werden,“ so seine Botschaft, auf die das Ego routinemäßig mit einer Latte von Wenn und Aber reagiert. Übersteht das Vertrauen das Abspulen der Ängste, die sich in all den Einwänden verbergen, kann es seine Wirkung entfalten, und die besteht darin, dass das Vertrauen der Klientin geweckt wird, das plötzlich einen Ansprechpartner gefunden hat. Zunehmend traut es sich dann, am Heilungsprozess mitzuwirken.

Auf den Prozess zu vertrauen heißt, nicht wissen zu können, wie er verlaufen wird und ob er überhaupt zu etwas führt oder auf welchen Wegen er zum Erfolg führt. Jeder therapeutische Vorgang, sei es eine Sitzung oder eine längere Serie, ist individuell und in dieser Form noch nie dagewesen; insofern ist es auch sinnlos zu meinen, es gäbe eine vorher festgelegte erfolgversprechende Strategie, die, wenn richtig angewendet, unweigerlich positive Veränderungen herbeiführt. Ein derartiges Wissen kann es nicht geben, auch wenn der Therapeut über die besten Techniken Bescheid weiß und über jahrzehntelange Erfahrung mit hunderten Klienten verfügt. Selbst wenn die Rahmenbedingungen stimmen, sodass es von dort aus zu keinen Störungen kommt, ist noch lange nicht garantiert, dass am Ende die erwarteten oder erwünschten Resultate eintreten.


Eine Kunst und kein Handwerk


Therapeutisches Arbeiten ist eine Kunstgattung eher als ein Handwerk. Zwar bedarf es einer soliden und umfassenden Ausbildung, um überhaupt mit der Tätigkeit beginnen zu können. Aber die eigentliche Herausforderung beginnt erst in der Praxis – gelingt es, den Kontakt mit der Klientin so umfassend herzustellen, sodass sich auch die Kommunikationskanäle auf den unbewussten Ebenen öffnen? Ähnlich wie ein Künstler darauf vertrauen muss, dass ein innerer schöpferischer Prozess in Gang kommt, der sich nicht im Voraus sicherstellen und planen lässt, braucht das therapeutische Arbeiten ein Sich-Einlassen auf das, was von Moment zu Moment geschieht, und das Vertrauen, dass diese Haltung alle nötigen Impulse für das Gedeihen des Prozesses hervorbringt.

Es ist eine innere Einstellung gefordert, die sich auf die Gesetzmäßigkeiten des kreativen Schaffens verlassen kann. Wie der Künstler vor dem leeren Notenblatt oder der weißen Staffelei steht der Therapeut vor dem gerade aktuellen Zustand der Klientin – möglichst offen für die Eingebungen, die aus der Situation entspringen. Die kumulative Erfahrung, die ein Therapeut durch seine Praxis sammelt, ist nicht nutzlos, denn sie bringt die Vertiefung dieser Einstellung und damit des Vertrauens mit sich.


Interventionen oder Geschehenlassen


Die Frage, ob und wieviele, wann, wo und wie Interventionen gesetzt werden sollen, die in vielen Ausbildungen diskutiert und in zahlreichen Lehrbüchern abgehandelt wird, erweist sich vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wenn nicht als nutzlos und überflüssig so zumindest sekundär. Es ergibt sich das, was geschehen soll, aus dem jeweils aktuellen Moment, und die Intervention oder Nicht-Intervention gelingt genau dann, wenn der Therapeut mit diesem Moment in seiner Präsenz verbunden ist und sich aus dieser Verbundenheit heraus aktiv oder passiv verhält.

Ausbildungen können und sollen ein Repertoire an möglichen Interventionen vermitteln. Über je mehr an solchem Rüstzeug ein Therapeut verfügt, umso flexibler kann er in seiner Arbeit auf die unterschiedlichsten Situationen reagieren. Der Kern jeder Ausbildung sollte aber um eine Haltung zentriert sein, die den Methoden den Nachrang vor der bedingungslosen und absichtslosen Offenheit einräumt.

Aus dieser Einstellung heraus kann der Therapeut als Sprachrohr des inneren Heilers der Klientin agieren, zu dem diese gerade keinen Zugang hat. Über diesen Umweg, vermittelt über die Persönlichkeit des Therapeuten, kann dann die Botschaft angenommen werden, die eigentlich der eigenen inneren Wahrheit auf einer tieferen Ebene entspricht. Das nennt man manchmal das Spiegeln, obwohl es nicht genau passt. Zwar spricht der Therapeut in gewisser Weise mit der Stimme und mit den Worten oder Gefühlen der inneren Heilerin der Klientin, aber in Verbindung mit seiner eigenen Wesensart.


Aktivität und Passivität


Es sollte aus diesen Ausführungen klar hervorgehen, dass das Vertrauen auf den Prozess, das als wesentlicher Wirkfaktor von jeder Form des therapeutischen Arbeitens beschrieben wurde, nicht bedeutet, dass der Therapeut zur Passivität verurteilt ist. Das Geschehenlassen findet nicht nur auf der Seite des Klienten, sondern auch auf der des Therapeuten statt. Die Aktionen oder Nichtaktionen, die vom Therapeuten ausgehen, geschehen aus ihm heraus, aus seiner inneren Quelle und aus der Kommunikation mit der Klientin, auf allen verfügbaren Ebenen. Der Therapeut sagt und tut also nicht, was aufgrund irgendeines Lehrbuchs oder irgendeiner Ausbildung zu sagen und zu tun wäre, sondern das, was im Moment des Geschehens entsteht und stattfinden soll. Er schweigt nicht dann, wenn es eine Regel vorgibt, sondern wenn gerade nichts zu sagen ist. Er wechselt die Ebenen des Austauschs, z.B. vom Reden zum Fühlen nicht nach irgendeinem Plan, sondern dann, wenn es am besten passt, in Übereinstimmung mit der Klientin, die explizit oder implizit sein kann.

Diese Darstellung übersieht auch nicht die individuellen Eigenschaften, Charakterzüge und Persönlichkeitsmerkmale des Therapeuten, die im therapeutischen Prozess ebenso eine wesentliche Rolle spielen. Es handelt sich ja um einen vieldimensionalen Kommunikationsprozess, an dem zwei Individuen beteiligt sind, und da bringt sich der Therapeut mit allem ein, was ihn auf der Persönlichkeitsebene ausmacht. Ausgeklammert bleiben sollen die Details, die Lebensgeschichte und inneren Themen aus der psychischen Landschaft des Therapeuten. Soweit sie aber ihre Spuren in der lebendigen Gestalt hinterlassen haben, spielen sie ihre Rolle in der Kommunikation und können nicht eliminiert werden, denn sie bereichern den Austausch (was einen uneinholbaren Vorsprung von menschlichen Therapeuten gegenüber artifiziell intelligenten Robotern ausmacht, die über keine lebendige Geschichte verfügen). Die Innenarbeit, die für jede professionelle Arbeit vorausgesetzt werden muss, sollte es allerdings dem Therapeuten ermöglichen, alle Elemente aus dem eigenen Inneren, die den therapeutischen Prozess stören könnten, zu identifizieren und beiseite zu stellen.


Die Verantwortung für die Ergebnisse


Jede therapeutische Arbeit hat nur soweit Sinn, als sie Verbesserungen herbeiführt. Gemeinhin würde man sagen, dass die Verantwortung allein beim Therapeuten liegt, da ja die Klientin nicht in der Lage ist, abzuschätzen, ob und in welcher Weise ein Heilungsprozess in Gang kommen kann. Im Licht der obigen Überlegungen gewinnt die Frage nach der Verantwortung für den Fortschritt in der Therapie eine andere Gewichtung. Die Verantwortung auf der Seite des Therapeuten besteht vor allem in der Sicherstellung heilungsförderlicher Rahmenbedingungen, im Angebot an professioneller Hilfestellung im Sinn von bewährten Methoden und in dem Einbringen der beruflichen und persönlichen Erfahrungen. Dazu kommt noch die Haltung und Einstellung, die auf den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses zur Instanz der inneren Heilung bei der Klientin abzielt. An diesem Punkt wird die Verantwortung an einen Prozess übergeben, der gerade nicht der Kontrolle durch den Therapeuten unterliegt, sondern erfordert, sich den Bedingungen eines prinzipiell unsteuerbaren kommunikativen Austausches anzupassen.

Wenn eine Klientin mit der Frage kommt: „Ich habe dieses oder jenes Problem – können Sie mir da helfen?“, wäre eine mögliche Antwort: „Ich kann alles beitragen, was ich an Können und Erfahrung mitbringe, und eine Verbesserung wird sich in dem Maß einstellen, in dem es uns beiden gelingt, uns aufeinander abzustimmen.“ Mit dieser Abstimmung ist der Aufbau einer Kommunikationsbasis mit den unbewussten Anteilen der Klientin gemeint, die allein die für die Heilung relevanten Informationen liefern können. Beide Seiten dieses Austausches, also Therapeut und Klientin, tragen dafür gleichermaßen die Verantwortung. Alles, was der Therapeut auf dieser Ebene beisteuern kann, ist seine von bedingungsloser Wertschätzung getragene Präsenz und sein Vertrauen auf die Wirkmächtigkeit des Heilungsprozesses.


Zum Weiterlesen:
Von den Absichten zur Absichtslosigkeit

Montag, 2. April 2018

Faszinierende Faszien

„Wir  sind tatsächlich ein Netz von Fasern, und das zieht sich von der Oberfläche der Haut bis in die Tiefen des losen Bindegewebes und der Zellen. Alles ist durch eine Struktur von extrem flexiblen Fasern miteinander verbunden. Es gibt keine freien Räume, alles hängt zusammen.“ (Jean-Claude Guimberteau, französischer Handchirurg)

Wenn es um Bewegung und Muskeln geht, kommt schnell die Rede auf die Faszien. Was früher als Bindegewebe bezeichnet wurde, nennt man jetzt immer mehr Faszie. Wie wichtig die Faszien sind, zeigt schon die Tatsache, dass sie 20% unserer Körpermasse ausmachen. Sie befinden sich in der Zwischenzellflüssigkeit, die alle Zellen umgibt. Von dieser Flüssigkeit haben wir übrigens fast doppelt so viel wie an Blut. Zusammenlaufende Faszien bilden die Sehnen, mit denen Muskeln an den Knochen befestigt sind. Faszienzüge, die Zusammenballungen von einzelnen Faszienfäden, stehen untereinander in Verbindung. So könnte man sagen, dass es nur eine einzige Faszie gibt, die mit ihren Verzweigungen den gesamten Körper durchzieht. Die Bedeutung der Faszie(n) für die Stabilität des Körpers zeigt sich daran, dass der menschliche Körper aufrecht stehen bleiben würde, wenn man die Muskeln entfernte und die Faszien behielte, nicht jedoch, wenn die Faszien selbst fehlen.

Damit entstehen neue Vorstellungen vom menschlichen Körper: Abgesehen von den Muskeln, die zumeist nur in ihrer Funktion betrachtet werden, gibt es fasziale Linien, die z.B. vom Kopf zum Fuß und von der linken zur rechten Hand führen. Es ist also nicht so, dass die Muskeln die Knochen bewegen. Ohne Faszien, die die neuronalen Bewegungsimpulse koordinieren, gäbe es keine Bewegungen.

Drei Faszienschichten


Es werden drei Schichten der Faszien unterschieden: Die oberflächlichen (sie befinden sich v.a. im Unterhautgewebe), die tiefen (sie durchdringen und umschließen Muskeln, Organe, Nervenbahnen und Blutgefäße) und die viszeralen (sie dienen der Aufhängung der Organe, z.B. die Pleura bei der Lunge). Auch das Gehirn ist von den Faszien geschützt; die Gehirnhäute weisen die gleichen Charakteristika auf wie andere Teile des Bindegewebes. Da ein beträchtlicher Teil der Bindegewebszellen der oberflächlichen Schicht miteinander Kontakt hat, vermutet man auch, dass diese Schicht als ein körperweites nicht-nervliches Kommunikationsnetzwerk dienen könnte.

Bewegungen als Architekten der Faszien


„Wenn wir Muskeln anspannen, um eine Bewegung einzuleiten, dann bewegen wir immer sowohl die direkt mit der Kraftübertragung beschäftigte Faszie als auch die nur indirekt beteiligten Faszienteile automatisch mit.“ (Bracht&Liebscher-Bracht, 31) Dies gilt auch für Bewegungen, die passiv durch äußere Kräfte ausgelöst werden. Bewegungen werden über das Informationsnetz der Faszien weiträumig im Körper  übertragen.

Faszien bilden die Gewohnheiten der Muskeln ab: „So wie die Muskeln die Faszien in Bewegung versetzen, so bilden sie sich aus“ (Bracht&Liebscher-Bracht, 49). Die Baumeister der Faszie sind die Fibroblasten: Das sind Zellen, die Fäden spinnen, dreidimensionale Netze bilden und verdichten und die Struktur des Netzes verändern. Der Architekt, der vorgibt, wie sich die Fibroblasten verhalten, ist die Bewegung selbst. Bereiche im Körper, in denen wenig oder gar keine Bewegungen stattfinden, verfügen über schlecht ausgebildete und eingeschränkte Faszien. Sie sind verkürzt und „verfilzt“, können also ihre optimale Struktur nicht ausbilden, weil die entsprechenden Bewegungsanreize fehlen. Damit wird das Fasziennetz in diesem Bereich unflexibel und reißanfällig.

Die Faszien setzen sich zusammen aus den Fibroblasten, den Faszienzellen und der sie umgebenden Matrix. Die Fibroblasten stellen die Kollagenfasern her, aus denen die  Matrix besteht. Dieses Kollagen bewirkt z.B., dass sich die Wunde nach einer Schnittverletzung schließt. Bei Bewegungsmangel wuchern diese Strukturen und verlieren ihre Funktion. Bewegung ist also notwendig, um die Faszien funktionsfähig zu halten. Sie brauchen regelmäßige Stimulation. Versteifen und verkleben sie, so können sie Muskeln und Nerven einklemmen, was dann zu Schmerzen führt.

Rückenschmerzen und die Lendenfaszie


Die Lendenfaszie ist eine große Struktur, die das Becken und die Schultern verbindet. Sie besteht aus zwei Schichten, die im Normalfall in der Gegenrichtung gleiten können. Diese Flexibilität ist bei Menschen mit chronischen Rückenschmerzen reduziert. Sie wird durch eine Überproduktion von Kollagen verursacht. Wieder sind es Bewegungen, die gegensteuern können. Bei Dehnungen  strecken sich auch die Fibroblasten und können dabei ihre Größe verdoppeln. Währenddessen senden sie Signale in die Umgebung, die dann eine Schmerzlösung bewirken können. Die Versteifungen des Bindegewebes werden also permanent durch die Fibroblasten reguliert.

Interessant ist auch, dass die Fibroblasten auf Akupunktur reagieren. Eine ähnliche Wirkung erreichen wir mit Dehnungsübungen: Das Gewebe und die Muskeln entspannen sich.

Faszien reagieren unabhängig von Muskeln und Nerven auf Botenstoffe. Dabei spielen diejenigen Botenstoffe eine besondere Rolle, die bei Entzündungen und auch bei Stress ausgeschüttet werden. Auf die Stressbotenstoffe reagieren die Faszien sehr langsam, aber auch sehr nachhaltig. Wir wissen, dass emotionaler Stress Verspannungen und Schmerzen erzeugt, und dafür ist der Botenstoff TGF verantwortlich.

Zugspannung


Tensegrität ist der Fachbegriff für Zugspannung. Wir alle haben von den Skelettmodellen im Biologieunterricht gelernt, dass das Skelett unsere Stützstruktur ausmacht, mit der Wirbelsäule als zentralem Stab. Doch das stimmt so überhaupt nicht. Das neue Modell, das aus der Faszienforschung kommt, besagt, dass die Knochen gar nicht direkt aufeinander Druck ausüben, sondern über die Elastizität des Bindegewebes erst in die richtige Struktur kommen, bzw. in dieser gehalten werden. Das richtige Maß an Zugspannung in den Faszien ist ausschlaggebend für eine ausgeglichene Körperhaltung. Deshalb muss die Abnützung eines Knochenteils noch nicht zum Verlust von Bewegungsmöglichkeiten führen, denn dieser Mangel kann durch das Bindegewebe ausgeglichen werden.

Faszien und Wasser


Das Bindegewebe ist ein großer Wasserspeicher. Je nach Alter besteht das Bindegewebe bis zu 70% aus Wasser. Fibroblasten haben unterschiedliche Aufgaben. Die einen produzieren Kollagen, andere stellen Hyaloron her, das Schmiermittel des Bindegewebes. Dieses Molekül bildet schwammartige Gebilde, die große Mengen von Wasser binden können. Je mehr Wasser gebunden werden kann, desto besser die Beweglichkeit. Bei Hyaloronmangel ist zu wenig Wasser im Gewebe, das dann rau und spröde wird. Die Gleitfähigkeit schwindet.

Die manuelle Behandlung durch entsprechende Massagegriffe kann dazu führen, dass der betreffende Bereich zunächst von altem, „abgestandenem“ Wasser gereinigt wird, indem das schwammartige Gebilde ausgequetscht wird, und sich anschließend noch mehr mit frischem Wasser füllt, wodurch die Beweglichkeit steigt. Das Gleiche geschieht bei gezielten Bewegungsübungen. Bei der Eigenbewegung kommen noch weitere Komponenten hinzu, z.B. die Wärme, die dabei entsteht, regt den Stoffwechsel zusätzlich an (pro Grad an Temperaturanstieg steigt die Enzymtätigkeit um 10%).

Schmerzempfindungen


Sind Faszien selbst schmerzempfindlich? Befinden sich die Schmerzrezeptoren in der Faszie oder im Muskel? Faszien sind empfindliche Wahrnehmungsorgane. Der Sympathikus hat Kontakt zu fast allen Organen, wir können ihn nicht kontrollieren, und bei Stress beeinflusst er auch das fasziale Gewebe. Wenn der Sympathikus Stress-Botenstoffe freisetzt, werden die Blutgefäße angespannt, was den Blutdruck erhöht.

Das Schmerzempfinden ist unterschiedlich bei Menschen mit hoher Stressbelastung oder Traumatisierung im Vergleich zu anderen, die nicht unter diesen Bedingungen leiden. Es gibt Unterschiede im Tiefenschmerzempfinden, im Empfinden von myofazsialen Reizen. Repetetiver, immer wieder auftretender Schmerz wird von stressbelasteten Menschen besonders schnell eingeprägt und führt leicht zur Chronifizierung. Vorbelastete Menschen verfügen über ein besonders ausgeprägtes Schmerzgedächtnis.

Die Bewegungsgewohnheiten des modernen Menschen sind durch Spezialisierung gekennzeichnet. Bestimmte Bewegungen werden dauernd ausgeführt, z.B. die Muskelaktivitäten, die zur Bedienung einer Computertastatur gebraucht werden. Andere dagegen werden dauerhaft vernachlässigt. Ähnliches gilt für den einseitigen Leistungssport. In den vernachlässigten Körperarealen kommt es zur Zunahme der muskulär-faszialen Widerstände und Beschwerden. Die Muskeln bleiben in Dauerspannung, bis es zu schmerzhaften Dauerkontraktionen kommt, die sich dann auf die Leitungssysteme auswirken: Blutgefäße, Nerven und Lymphgefäße werden eingeengt oder sogar abgedrückt.

Faszientraining


Um unserer faszienfeindlichen Lebensweise entgegenzuwirken, müssen wir unsere Gewebe in guter Verfassung halten und immer wieder gezielt trainieren. Im Lauf des Lebens verliert das Fasernetz an Elastizität, und es bilden sich Verklebungen und Verfilzungen. Im Vergleich zu jüngeren Menschen weisen Ältere einen niedrigeren Anteil an Flüssigkeit im Körper auf, worunter auch das gesamte Fasziengewebe leidet und sich das vormals noch ausgeglichene Verhältnis zwischen wässrigen und faserigen Anteilen verschiebt.

Durch passende Übungen und variierende körperliche Aktivitäten kann unser Fasziensystem jung erhalten werden, wodurch sich die Zugfestigkeit verbessert und mehr Wasser gespeichert werden kann. Die Fibroblasten werden angeregt, den Körper elastisch zu halten. Wir fühlen uns beweglich und können leichter ins Fließen kommen, wenn sich Sturheit und Starre einschleichen.



Quellen: 
Bracht, Petra und Liebscher-Bracht, Roland: FaYo. Das Faszien-Yoga. Die enorme Heilkraft des Bindegewebes nutzen. München: Arkana 2016 (3. Aufl.)
Doku auf Arte