Donnerstag, 31. Januar 2013

Vom Anfang und vom Ende des Erklärens

Aus diesem innersten Grund sollst du alle deine Werke wirken ohne Warum. Ich sage fürwahr: Solange du deine Werke wirkst um des Himmelreiches oder um Gottes oder um deiner ewigen Seligkeit willen, also von außen her, so ist es wahrlich nicht recht um dich bestellt. Man mag dich zwar wohl hinnehmen, aber das Beste ist es doch nicht. Denn wahrlich, wenn einer wähnt, in Innerlichkeit, Andacht, süßer Verzücktheit und in besonderer Begnadung Gottes mehr zu bekommen als beim Herdfeuer oder im Stalle, so tust du nicht anders, als ob du Gott nähmest, wändest ihm einen Mantel um das Haupt und schöbest ihn unter eine Bank. Denn wer Gott in einer (bestimmten) Weise sucht, der nimmt die Weise und verfehlt Gott, der in der Weise verborgen ist. Wer aber Gott ohne Weise sucht, der erfasst ihn, wie er in sich selbst ist; und ein solcher Mensch lebt mit dem Sohne, und er ist das Leben selbst. Wer das Leben fragte tausend Jahre lang: ‚Warum lebst du?‘ – könnte es antworten, es spräche nichts anderes als: ‚Ich lebe darum, dass ich lebe.‘ Das kommt daher, weil das Leben aus seinem eigenen Grunde lebt und aus seinem Eigenen quillt; darum lebt es ohne Warum eben darin, dass es (für) sich selbst lebt. Wer nun einen wahrhaftigen Menschen, der aus seinem eigenen Grunde wirkt, fragte: ‚Warum wirkst du deine Werke?‘ – sollte er recht antworten, er spräche nichts anderes als: ‚Ich wirke darum, dass ich wirke.‘ (Meister Eckhart)


Warum hast du mich nicht angerufen? Warum werde ich gerade dann kontrolliert, wenn ich den Fahrschein vergessen habe? Warum habe ich den Zug versäumt? Warum ist X so unfreundlich, wo ich doch immer so entgegenkommend bin? Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?


Kaum stört etwas unser Gleichgewicht, fragen wir nach der Erklärung. Wir rechnen damit, wenn wir den Grund der Störung erfahren, dass sich das Gleichgewicht wieder herstellt. „Ich konnte gestern nicht anrufen, weil das Telefon kaputt war.“ Die quälende Frage kann abgelegt und vergessen werden. Der Zyklus schließt sich, die Unklarheit legt sich, das Leben geht weiter bis zur nächsten Störung.


Wenn wir das Licht dieser Welt erblicken, wundern wir uns und staunen. Wir werden nicht als erklärungssüchtige Wesen geboren. Wir suchen keine Erklärung für das, was sich da ereignet und was sich uns zeigt. Wir fließen mit dem, was sich ereignet, im Inneren wie im Äußeren. Mal ist es angenehm, dann wieder unangenehm. 


Erst nach und nach legt sich über dieses Fließen eine Schicht des Bewusstseins drüber, die mit dem Erwachen des Zeitbegriffs entsteht. Es werden jetzt Zusammenhänge gesucht: Was war vor dem, was jetzt passiert ist? Hierfür ist die linke Gehirnhälfte zuständig. Sie liebt das Denken in Ursache-Wirkungsrelationen, während die rechte Gehirnhälfte, die in den ersten Lebensjahren noch aktiver war, gewohnt ist, in Ganzheiten zu denken. 


Mehr und mehr übernimmt diese sequentielle Form, die Wirklichkeit wahrzunehmen. Der Zeitbegriff wird vollständig linear, und so fällt es leicht, die Welt als ein Gefüge von Ursache- Wirkungszusammenhängen zu verstehen. Damit muss es für alles, was es gibt, eine Erklärung geben. Hinter jedem Geschehen verbirgt sich eine Ursache. 


Der Erfolg der Technik, die so viel zur Bequemlichkeit unseres modernen Lebens beigetragen hat, liegt in der Erforschung dieser Zusammenhänge. So bekommen wir zunehmend das Gefühl, mittels erklärbarer Prozesse die Welt zu kontrollieren und zu beherrschen. Für alles, was sich dieser Beherrschung zu entziehen vermag, fordern wir eine Erklärung ein.


Ein Beispiel vom Spielplatz: Zwei Kindergartenkinder geraten in Streit. Das eine schreit das andere an: „Wenn du mir das nicht zurückgibst, dann hau ich dich, dann reiß ich dir die Haare aus, dann …. dann erkläre ich es dir!!!“ Die schlimmste Strafe ist eine Erklärung, gegen die es keinen Einwand mehr gibt. (Aus einem Buch über Kindheitspsychologie)



Frei vom Erklären


Wenn es um Menschen, ihre Motive und Handlungen geht, stößt diese Denkweise an Grenzen. Oft handeln wir „spontan“, ohne für uns selber einsehbare Ursache machen wir etwas anders als wir es sonst tun. Natürlich versuchen wir, für uns selbst und für unsere Mitmenschen „berechenbar“ zu sein, indem wir Vereinbarungen einhalten und unsere Werthaltungen nicht jeden Tag ändern. Aber wir schätzen Bereiche, in denen wir kreativ sein und Neues erproben können. Beim Tanzen z.B. macht es keinen Sinn, eine Bewegung aus der vorigen zu erklären, sondern wir genießen das Fließen von einem Moment zum nächsten und lassen uns mehr von den Bewegungen leiten, wie sie kommen, als dass wir diese leiten.

Erklärungsfreie Räume haben einen besonderen Reiz und geben uns ein Gefühl der Freiheit und des Selbstvollzugs. Wir erleben unsere Individualität dann am intensivsten, wenn wir uns selbst nicht berechnen und erklären können. Anderen aus dieser Haltung zu begegnen, ist auch lohnend, weil wir präsenter im Moment und in der Begegnung sein können.



Das Ende des Warum


Meister Eckhart macht uns darauf aufmerksam, wie sehr uns die Warum-Frage zu Antworten verleitet, die uns nicht weiterbringen. Denn sie binden uns an ein bestimmtes Gottesbild, das der Wirklichkeitserfahrung der Erklärungswelt entspricht. Der berechenbare Gott gibt uns zurück, was wir eingebracht haben, wie der Schalterbeamte bei der Bank, plus Zinsen. Wenn ich diese vorgeschriebenen Rituale verrichte, werde ich meinen Anteil an der Gnade bekommen. Deshalb verrichte ich die Rituale und erwarte mir die entsprechende Konsequenz.

Der Sinn dessen, was ich tue, liegt außerhalb von mir und ist so fix vorgegeben wie die Gesetzmäßigkeiten der Naturwissenschaften. Ich gewinne zwar die Sicherheit, die in der unumstößlichen Erklärung liegt, verliere aber die Verbindung mit dem, was ich eigentlich suche:  „Denn wer Gott in einer (bestimmten) Weise sucht, der nimmt die Weise und verfehlt Gott, der in der Weise verborgen ist.“


Will ich die größere Weisheit finden, muss ich die Frage nach dem Warum aufgeben und meinen ängstlichen Verstand bitten, beiseite zu treten. Es ist, wie es ist, mehr gibt es letztlich nicht zu sagen. Dinge geschehen, wie sie geschehen, Menschen handeln, wie sie handeln. Was für eine Entspannung, wenn ich einfach sagen kann: „Ich lebe darum, dass ich lebe.“

Selbstheilung durch innere Kommunikation

Gesundheit ist das störungsfreie Leben mit uns selber. Wenn wir erkranken, spüren wir in der Beziehung zu uns selbst eine Verunsicherung. Die Krankheit irritiert uns in unserer inneren Einheit. Der Körper zeigt sich uns als etwas, das uns Probleme bereitet, statt reibungslos zu funktionieren, so als würde er sich gegen uns wenden wie ein ungehorsames Kind. Wir reden ihm gut zu oder beklagen uns bei ihm oder jammern ihn an, je nachdem, und sind zugleich die Instanz, der die Anrede gilt, und das Medium, in dem das Ganze abläuft. 

Wir sind unser Körper und erleben uns andererseits von ihm unterschieden, indem wir eine Position einnehmen können, von der aus wir eine Beziehung zu ihm unterhalten. Es gibt also eine Beziehung innerhalb einer Identität. Denn die Position, von der aus wir in Beziehung gehen, ist innerhalb dieser Körper-Geist-Identität, die wir sind. Wo Beziehung besteht, besteht Kommunikation. Das Eigentümliche dieser Kommunikation ist die Identität, innerhalb derer sie von ihrem Unterschied lebt.

Wir sind ein kommunizierender Organismus, und weil wir sowohl die Kommunikationspartner als auch die Kommunikation sind, und weil wir uns dessen auch bewusst sein können, sind wir auch ein reflexiver Organismus, also einer, der zu sich selbst in Beziehung treten kann. Das zeigt sich in der Krankheit besonders deutlich. Wir können das Leben nicht mehr so führen, wie wir es geplant hatten und müssen beispielsweise das Bett hüten, statt einen Sonntagsausflug machen zu können. Es zerbricht eine Einheit, die vorher da war. Zum Leiden, das die Krankheit ausmacht, kommt das Leiden am Leiden.

Wir leiden an der Störung der inneren Kommunikation und an unserer Unfähigkeit, sie zu beheben. So verheddern wir uns in unseren internen Kommunikationsebenen, was uns noch mehr verunsichert. Denn wir neigen dazu, uns von unserem Körper zu distanzieren (manchmal, wenn die Krankheit schlimm ist, kann uns vor unserem eigenen Körper ekeln, manchmal, wenn sie sehr langwierig ist, können wir uns dafür schämen). Der Körper, der wir sind, wird zum Objekt, zum Ding, und dann suchen wir die Hilfe im Außen, die das Ding wieder zurecht bringen soll.

Um uns wieder sicher fühlen zu können, brauchen wir eine Zusage auf eine erfolgreiche Heilung. Die Autorität für ein solches Versprechen ist in unseren Breiten der Arzt. Aufgrund seiner Erfahrung und Ausbildung kann er eine Prognose aussprechen, die uns beruhigt (falls sie positiv ausfällt). Allein eine solche Beruhigung kann schon einen Beitrag zur Heilung leisten, weil Unruhe und Anspannung die inneren Heilungskräfte blockieren. Fällt sie negativ aus, wird sie die Verunsicherung verstärken.

Denn die kommunikative Verwirrung steigt, je mehr Sprecher sich einmischen. Manchmal gehen wir von einem Arzt zum nächsten, und jeder sagt etwas anderes. Dann suchen wir alternative Heilmöglichkeiten auf, die sich noch weiter in ihren Diagnosen und Heilungswegen unterscheiden.

Bevor wir heillos im Wirrwarr der Rettungsversuche, die uns die große weite Welt anbietet, verlieren, sollten wir innehalten und uns bewusst machen: Wir sind ein kommunikatives Körper-Geist-Wesen, und Kommunikation heißt, genauso zuhören wie reden. Dann merken wir, dass wir die ganze Zeit geredet haben, dass wir Stimmen von außen zugehört haben, aber nie unserem intimsten Gesprächspartner, unserem Körper, und speziell den Bereichen, die sich durch die Erkrankung bemerkbar machen. Wir verstärken durch unsere Weigerung, zuzuhören, die kommunikative Störung und wundern uns, warum wir nicht gesund werden.

Steigern wir uns nicht durch die Verunsicherung, die in Folge der Krankheit in uns aufsteigt, in eine Panik, sondern bleiben wir kommunikativ offen. Dann können wir beginnen, auf unseren Körper zu hören. Was will er uns sagen, was fehlt ihm, was braucht er, was sollte ich verändern? Wenn diese wichtigen Informationen nicht zu uns gelangen, fühlt sich unser Körper nicht verstanden und reagiert entsprechend. Die Gesprächsbasis, die wir herstellen und ausbauen, sobald wir beginnen, ihm zuzuhören, kann ein wichtiger Beitrag zur Heilung sein.

Wir sind Wesen, die über die Möglichkeit verfügen, die internen Kommunikationskanäle für uns selber zu nutzen. Das sollten wir tun, ob wir gesund sind oder krank. Denn je besser wir uns in die Sprache unseres Körpers einüben, wenn wir gesund sind, desto leichter wird sie uns zur Verfügung stehen, wenn wir krank werden, und desto eher werden wir die internen Wege zur Heilung öffnen können.

Die Meditation ist eine Gelegenheit, in der wir die interne Kommunikation üben können. Immer wieder können wir im Alltag unseren Atem spüren, der uns Auskunft darüber gibt, wie es uns gerade geht. Wenn wir merken, dass uns die Hektik des Alltags überrollt, ist es gut, dass wir uns in uns selber zurückziehen und uns Zeit nehmen, uns zu spüren: Was braucht unser Körper, um zur Ruhe zu kommen? So können wir immer zurück finden zur inneren Harmonie, die die beste Basis für die Gesundheit unseres Körpers bietet.

Mittwoch, 30. Januar 2013

Gedanken zum Verzeihen

Verzeihen erfordert die Bereitschaft, sich bewusst mit dem, was passiert ist, auseinanderzusetzen, sich selber als Opfer und die andere Person als Täter zu sehen und zu spüren. Das bedeutet auch, allen Gefühlen darum herum Raum zu geben. Solange Schmerz und Wut aufquellen, sobald die Erinnerung an das, was geschehen ist, aufsteigt, ist das Verzeihen nicht möglich. So erfordert das Verzeihen ein Geschehen, das wir nicht steuern können. Im Zug dieses Geschehens lösen sich die festgefahrenen Gefühle und Gedanken und machen einem weiteren Feld des Wahrnehmens Platz. Ein größeres Bild öffnet sich.

Verzeihen heißt, aus der Opfer-Täter-Verstrickung auszusteigen. Ich höre auf, mich auf meine Verletzung zu konzentrieren und daran zu leiden. Solange ich darauf fixiert bin, dass mir Unrecht geschehen oder Böses widerfahren ist, hänge ich fest – an dem, was geschehen ist, und an der Abwertung der anderen Person. Es gibt solange einen Täter, solange es ein Opfer gibt. Verzeihen heißt also auch, den Täter aus der Täterschaft zu entlassen. Damit erst werde ich frei von  meinem Opfersein. Ich nehme mich an in meiner Würde, die unverletzlich ist, die immer da ist, gleich was mir geschieht oder angetan wird. Aus dieser Würde heraus kommt echtes Vergeben. Und ich anerkenne auch die unverletzliche Würde des Täters, die nicht betroffen ist von der Unbewusstheit, Eingeschränktheit und Selbstvergessenheit, die ihm bei dem, was mich verletzt hat, unterlaufen ist.

Verzeihen heißt, die andere Person, die mich verletzt hat, in ihrer eigenen Verletzungsgeschichte zu sehen, ohne dass ich mich selber dabei überlegen fühle.

Ich kann erst verzeihen, wenn ich erkannt habe, dass die andere Person mich nicht einfach aus einem persönlichen charakterlichen Mangel schlecht behandelt hat, sondern weil sie aufgrund ihrer eigenen Geschichte und momentanen Stimmungslage in jener Situation nicht besser handeln konnte.

Dann kann ich erkennen, dass die Handlung, die mich verletzt hat, gar nicht gegen mich gerichtet war, sondern entweder unbedacht geschehen ist (die andere Person war nicht präsent bei der Tat) oder dass die Handlung aus Rache geschehen ist – und in Wirklichkeit einem Menschen gegolten hat, der eine Rolle in der Geschichte des Täters spielte und mir der mich der Täter jetzt „verwechselt“ hat.

So kann man sagen, dass im Täter das Opfer aufgestanden ist, um sich endlich zur Wehr zu setzen, wenn auch zur falschen Zeit und am falschen Ort.

Ich kann nur verzeihen, wenn ich verstanden habe, dass Menschen nicht einfach böse sind, sondern böse Handlungen setzen, weil sie selber unachtsam behandelt wurden und deshalb leicht in Situationen kommen, in denen sie nur beschränkt handlungsfähig sind, in denen sie nur eine beschränkte Sicht auf die anderen Menschen haben.

Jemand tritt mir auf die Zehen oder spritzt mich im Vorbeifahren voll, weil er im Stress ist und mich deshalb nicht wahrnimmt. Im ersten Impuls denke ich, der will mir was zu Fleiß tun, im zweiten wird mir klar, dass es da jemand nicht geschafft hat, achtsam genug zu sein – wie auch ich oft nicht achtsam genug bin. Dann kann ich verzeihen.

„Auch ich…“ macht mich gleich mit den anderen Menschen, weder besser noch schlechter, sondern genauso menschlich. Das, was geschehen ist, fügt dem unendlichen Teppich an menschlichen Geschichten eine weitere hinzu. Wenn ich dann genauer hinschaue, erkenne ich vielleicht, dass in dieses Geschehen, das mir so schrecklich verletzend erschienen ist, ein Faden Humor eingewoben ist, gesponnen aus der unausrottbaren Unvollkommenheit der Menschen. So sei mir erlaubt, meine eigene Spielart der Unvollkommenheit zu belächeln.

Montag, 21. Januar 2013

Was ist schon wissenschaftlich?

Unsere Wahrnehmungen und Einstellungen sind durchtränkt von der naturwissenschaftlichen Weltsicht, die ich der materialistischen Bewusstseinsebene zurechne. Das rührt daher, dass diese Sichtweise eine große Verlässlichkeit verspricht. Sie hat sich auf „Immer wenn-Dann“-Zusammenhänge spezialisiert. Sie will Gesetzmäßigkeiten herausfinden, die durchgängig und zuverlässig gelten, ohne Abhängigkeit von den jeweiligen Umständen. Ein Stein muss immer zu Boden fallen, wenn wir ihn loslassen. Die Erde muss immer um die Sonne kreisen, täte sie das einmal nicht, muss sofort eine neue Gesetzmäßigkeit herausgefunden werden, die diesen Irrweg als Notwendigkeit bestätigt.


Diese große Sicherheit, die uns das naturwissenschaftliche Denken vermittelt, macht sie so attraktiv und wir nehmen sie als den Maßstab von Wahrheit überhaupt. Wir wissen zwar, dass die Naturwissenschaften Randbereiche hat, wo ihr eigenes Weltbild nicht mehr taugt, wie in der Quantenphysik, aber deren Eigentümlichkeiten stellen das riesige Feld an Forschungsergebnissen nicht in Frage, die eine große Eindeutigkeit aufweisen. Schließlich beruht die ganze Welt der Technik, die uns umgibt, erfreut und ärgert, je nach dem, auf diesen Zuverlässigkeiten. Deshalb sind wir auch sehr ungehalten, wenn einmal etwas nicht funktioniert, wenn das Handy keinen Empfang hat oder der Computer abstürzt und der Fernseher keine Bilder, sondern nur Flimmern liefert. Allerdings hat sich in diesen Fällen nur eine andere Gesetzmäßigkeit eingemischt und die von uns erwarteten Abläufe unterbrochen. Jede Störung muss genau so sein, wie sie ist, und die Welt erscheint als lückenlos abgesichert und berechenbar.

Wenn da der Mensch nicht wäre… Denn dieser macht der Welt der Kausalitäten einen dicken Strich durch die Rechnung, mit seiner Unzuverlässigkeit und Unberechenbarkeit. Er gerät in Stress, trifft eine Fehlentscheidung, und eine Katastrophe wird ausgelöst wie im AKW Tschernobyl – eine Kette von menschlichem Versagen, und die Technologie, die alle Naturwissenschaftler als sicher propagiert haben, verursacht massive und langdauernde Zerstörungen und fordert Tausende Menschenleben. Die Kernreaktoren haben sich genau an die naturwissenschaftlichen Gesetze gehalten, es waren Menschen, die die falschen Knöpfe gedrückt haben.

Also haben wir zwei Wirklichkeiten, mit denen wir leben müssen: Einerseits die von den Naturwissenschaften ausgerechnete Welt mit ihren eindeutigen Immer-Wenn-Dann-Gesetzen, und andererseits die Welt der Kommunikation. Ich habe schon in zwei Blogbeiträgen über die organische und die universelle Kommunikation geschrieben und die Meinung vertreten, dass es keine Objektwelt ohne Kommunikation gibt.

Das bedeutet, dass all die Gegenstände, die die Naturwissenschaft untersucht, eine Rückseite haben, die nicht naturwissenschaftlich funktioniert, sondern nach den Eigenheiten der Kommunikation. Und hier zeigt das ziemliche Gegenteil der Welt der Berechenbarkeit: Spontaneität, Chaotik, Kreativität, Überraschung.

Kommunikation lebt von der Unberechenbarkeit. Wenn ich sowieso schon wüsste, was mein Gegenüber sagen wird, brauche ich gar nicht erst anzufangen zu reden.

 

Anorganische Kommunikation


Von dort aus betrachtet, haben die Naturwissenschaften nur eingefahrene Kommunikationsmuster erforscht. Sie sind deshalb so erfolgreich und überzeugend, weil sie die primitivste Form der Kommunikation erforschen. Denn die anorganische Welt ist sehr einfach aufgebaut, und so sind auch die kommunikativen Abläufe, die in ihr wirken, so einfach, dass sie leicht durchschaut werden können.

Die Erde sagt zum Stein, komm herunter zu mir, und er fällt. Beide finden, dass es so stimmt. Die Erde sagt nie etwas anderes zu schweren Gegenständen und die Gegenstände widersprechen nie, also bestätigt sich das Gesetz immer. Warum sollte der Planet auch etwas anderes kommunizieren? Es funktioniert ja bestens und hat dafür gesorgt, dass er seit Milliarden Jahren einen recht soliden Bestand hat. Er braucht auch in diesem Bereich keine Kreativität und keine Freiheit, sonst würde das Sonnensystem sofort auseinanderfallen. Vermutlich weiß er das, und bescheidet sich deshalb mit dieser Einfachheit seines Seins. So spielt er mit im eher eintönigen Konzert der anderen Planeten unter dem Kommando der Sonne und zieht locker und gemütlich seine Bahnen, wie seit Ewigkeiten schon.

 

Die Gesprächskultur der Pflanzen


Sobald Leben entsteht, entsteht eine komplexere Kommunikation. Eine komplexere Kommunikation braucht einen größeren Wortschatz, neue grammatische und syntaktische Formen und  Übersetzungsregeln. Pflanzen müssen eine reichhaltigere interne und externe Gesprächskultur haben als Steine oder Wassermoleküle. Sie müssen nämlich die Sprache der Mineralien beherrschen, weil sie diese in ihr inneres System integrieren müssen, ebenso wie die des Wassers und der Sonne, der Sauerstoff- und Kohlendioxidteilchen ebenso wie die der sie umgebenden anderen Pflanzen. Mit dieser Sprachfähigkeit bewältigen sie die Aufgabe der Photosynthese, steuern ihr Wachstum und passen sich an geänderte Verhältnisse an. Sie machen das in unterschiedlicher Weise, somit entwickelt sich keine Pflanze identisch wie eine andere. Pflanzen haben schon eine ausgeprägte Individualität.

 

Der Mensch und die Wissenschaft


Noch deutlicher wird dieser Trend zur Steigerung der kommunikativen Komplexität bei den Tieren und erst recht bei den Menschen, die die verbale Sprache erfinden, um ihr aufwändiges Sozialleben gestalten zu können.

Mit Hilfe dieser Sprachfähigkeiten, für die sie ein hochentwickeltes Gehirn brauchen, wächst das enorme Potenzial an Kreativität, das die Menschen schließlich auch die Wissenschaften entdecken lässt. Und deren Erkenntnisse faszinieren sie so, dass sie sich ihnen beinahe bedingungslos verschreiben.
 

Unter dem Einfluss der Aufklärung, die zunehmend die Gehirne der modernen Menschen imprägniert hat, kommt es zu einer folgenschweren Zweiteilung im Verständnis der Wahrheit. Nun werden auf strahlendem Podest die sicheren Erkenntnisse der Wissenschaften präsentiert, auf denen zunehmend die Gesellschaft aufbaut und die als Richtschnur für politische Entscheidungen genommen werden, und alles andere ist Meinung. Meinung ist subjektiv und jederzeit änderbar und kann deshalb nicht als verbindliche Grundlage für eine gemeinsame Willensbildung dienen.

 

Zur Eigenart kommunikativer Erkenntnis


Wenn wir wissenschaftliche Forschung betreiben, suchen wir mittels verobjektivierter, messbarer Wahrnehmung und standardisiertem logischem Denken Einsichten zu erlangen, die jeder andere Mensch genauso nachvollziehen kann. Somit hat sie jeder als gültig anzuerkennen. Es gilt dann für alle: Wenn A passiert, wird B passieren. Wer etwas anderes behauptet, stellt sich außerhalb der Gesellschaft.

Wenn wir kommunizieren, passiert meistens etwas anderes, als wir erwarten. Wir reden einesteils, damit sich unsere Erwartungen bestätigen. Wenn wir z.B. einen Befehl erteilen, wollen wir, dass er befolgt wird oder wenn wir die „absolut richtige“ Ansicht haben, wollen wir, dass uns die anderen Recht geben.

Andernteils, und das zeigt uns die Grundform der Kommunikation viel deutlicher, führen wir Gespräche, damit sich unsere Erwartungen nicht bestätigen. Wir wollen etwas Neues erfahren, wenn wir jemanden fragen, was er zu diesem oder jenem Thema meint. Wenn er das Gleiche sagt, was wir denken, fühlen wir uns vielleicht bestätigt, aber es würde uns auf Dauer fad, wenn unser Gesprächspartner immer zustimmt, und dazu noch genau in der Form, wie wir es erwarten. Als anregend empfinden wir Gespräche, wenn wir von der Antwort überrascht werden, und dann von unserer eigenen Reaktion überrascht werden, weil sie etwas enthält, was wir uns vorher noch nie gedacht hatten. Es passiert etwas Unvorhersehbares, etwas Unberechenbares, und das ist typisch für die Welt der Kommunikation.

So sind z.B. die Gedanken für diesen Blogbeitrag in einem Supervisionsgespräch entstanden. Sie wären wohl ohne die Anregungen aus diesem Gespräch so nie gedacht und geschrieben worden.

Es ist wie bei einem Spiel: Wenn wir beim Kartenspiel immer die gleichen Karten bekämen, würde das Spiel sofort seinen Reiz verlieren. Wenn der Partner einer Schachpartie immer genau die Züge machen würde, die ich vorausdenke, würde ich bald die Lust verlieren, mit ihm zu spielen.

Diesen Wesenszug der Kommunikation zu verstehen, erfordert ein Stück des systemischen Bewusstseins: Gespräche laufen dann gut, wenn niemand das Gespräch beherrscht, sondern wenn es das Gespräch ist, das die Gesprächspartner in Bann zieht. Das Gespräch führt die Sprecher.

Friedrich Hölderlin hat geschrieben, dass „ein Gespräch wir sind.“ Damit kann er gemeint haben, dass Menschsein Gespräch-Sein heißt. Wir führen also nicht bloß ab und zu Gespräche, sondern wir bewegen uns permanent in einem kommunikativen Netz, in das wir eingebunden sind, ob wir das wollen oder nicht. In diesem Netz sind wir die Mitspieler, die sich Regeln unterwerfen müssen, die schon vorgegeben sind. Eine dieser Regeln ist, dass kein Mitspieler die Kontrolle über die Regeln übernehmen kann. Somit bleiben alle Mitspieler voneinander abhängig und aufeinander bezogen, und das Geschehen in diesem Netz bleibt unberechenbar und unvorhersehbar, chaotisch und riskant.

 

Wissenschaft und Kontrolle


Möglicherweise sind die Menschen nur deshalb auf die Idee der Wissenschaften gestoßen, weil sie unter den Unwägbarkeiten der Natur gelitten haben. Wie können wir die Natur unserer Kontrolle unterwerfen, sodass sie unseren Erwartungen entspricht? Wie können wir der Natur einen unbedingten Gehorsam abnötigen? Indem wir ihre Sprache lernen und sie damit so manipulieren können, dass sie unseren Zwecken dient, ohne Widerrede. Das ist das Programm der Naturbeherrschung, der biblische Auftrag an die Menschen, sich die Erde untertan zu machen.

Hinter diesem Herrschaftsprogramm, zu dem die Menschheit aufgebrochen ist und an das sie immer noch glaubt, stecken Ängste und Sehnsüchte, diese Ängste ein für alle Mal und mit absoluter Sicherheit zu bannen. Niemals mehr soll mir ein Gewitter etwas anhaben können oder die winterliche Kälte oder der Hunger.

Schon oft wurde in diesem Blog Rolle der Angst erwähnt. Angst kommt von Enge – Angst treibt an und mobilisiert Energien. Angst beschränkt aber auch unsere Möglichkeiten und verengt unser Blickfeld. Die Angst fordert uns dazu heraus, die Umgebung zu kontrollieren, also darauf zu achten, dass nichts Überraschendes passiert, was potenziell immer gefährlich sein könnte. Wir suchen Eindeutigkeiten und Zuverlässiges. Wir werden unwirsch, wenn unsere Erwartungen enttäuscht werden, weil es uns verunsichert.

Da kommt uns die Naturwissenschaft mit ihren gesetzmäßigen Aussagen zu Hilfe. Auf solche Erkenntnisse ist Verlass. Alles, was jedoch aus der kommunikativen Ecke kommt, ist riskant und muss gemieden werden.

Angst verödet jedoch die kommunikative Landschaft. Unter ihrem oft subtilen Einfluss werden die Gespräche flach. Misstrauen schleicht sich ein. Der Fluss versiegt, es kommt zu Missverständnissen und Irritationen. Die Ideen versiegen, und die Worte gehen im Kreis, statt neue Tore zu öffnen.

 

Die kommunikative Spielwiese


Deshalb wäre es an der Zeit, dem wissenschaftlichen Denken den Platz zu geben, der ihm gebührt, einen wichtigen und respektablen, aber keinen universell gültigen. Gleichrangig neben ihm braucht die Welt der Kommunikation eine große Spielwiese, in der es keine starren Regeln und Gesetzmäßigkeiten geben darf, sondern auf der die Welt in jedem Moment neu erfunden und gestaltet werden darf.

Wenn wir dem Leben eine Richtung in die Freiheit und ins Erwachen zur Schönheit und zum Reichtum dessen, was ist, geben wollen, dann sollten wir immer wieder den Weg aus den Ängsten und Kontrollsüchten finden. Dann zeigt sich das Leben zeigt sich uns als diese bunte Mischung voll von Verlässlichkeiten und Überraschungen, von bestätigten und enttäuschten Erwartungen, von Routine und Spontaneität.

 

Friedrich Hölderlin: Friedensfeier (Auszug)

Viel hat von Morgen an,
Seit ein Gespräch wir sind und hören voneinander,
Erfahren der Mensch; bald sind wir aber Gesang.
Und das Zeitbild, das der große Geist entfaltet,
Ein Zeichen liegts vor uns, dass zwischen ihm und andern
Ein Bündnis zwischen ihm und andern Mächten ist.
Nicht er allein, die Unerzeugten, Ewgen
Sind kennbar alle daran, gleichwie auch an den Pflanzen
Die Mutter Erde sich und Licht und Luft sich kennet.
Zuletzt ist aber doch, ihr heiligen Mächte, für euch
Das Liebeszeichen, das Zeugnis
Dass ihr noch seiet, der Festtag.