Dienstag, 27. März 2012

Der Betrugskapitalismus - aus der Sicht der Nachfahren

In 50, 100 oder noch mehr Jahren wird vielleicht über das Jahr 2012 nichts vermerkt werden, außer dass die Chancen versäumt wurden, Lehren aus dem Desaster des Turbokapitalismus in den Jahren zuvor zu ziehen. Nicht einmal die Einführung einer Finanztransaktionssteuer im Rahmen der EU sei gelungen, gescheitert an nationalen Egoismen, die sich auf die Listigkeit des Kapitals beriefen, dorthin zu flüchten, wo es sich am schnellsten vermehren kann und die weiterhin Brutstätten für die maximale Vermehrung zur Verfügung stellen wollten.
Mit Bedauern würden die Menschen zurückblicken auf eine Zeit der Borniertheit und Engstirnigkeit, der individuellen und nationalen Gier und Rücksichtslosigkeit. Wie lange hatte es gedauert, bis endlich die Vernunft und die Menschlichkeit gesiegt hatte und eine Weltregierung mit einem Welt-Finanzministerium eingeführt worden war. Gegen dessen Regulierungsmacht hatte das Kapital keine Chance, keine Fluchtmöglichkeit mehr. Es gab keine geschützten Finanzplätze in London oder New York mehr, keine steuerfreien Inselstaaten und keine Piratenhäfen für das vagabundierende Kapital.
Der Wahnsinn war eingedämmt, die wildgewordene Gier besänftigt, die zuvor ganze Bevölkerungsschichten verarmen hatte lassen, während sich die Verursacher der Massenausbeutung maßlos bereichern konnten. Damals, als den Menschen dämmerte, was sie sich eingehandelt hatten und wie sie an dem System, das sie selbst ausbeutete, mitwirkten, kam der Begriff des Betrugskapitalismus auf und führte zur gesellschaftlichen Ächtung von allen riskanten Finanzgeschäften, die das Risiko der Gesellschaft aufbürdeten und die Gewinne den Einzelnen. Einer so großen Zahl von Menschen war bewusst geworden, wie sie systematisch getäuscht, belogen und abgezockt worden waren.
Doch hatte letztlich die Erkenntnis, dass sich die Menschen einem Finanzsystem unterworfen hatten, das ihnen vor allem Schaden zufügte, wesentlich dazu beigetragen, dass sich nach und nach alle Staaten der Welt zu gemeinsamen Regulierungen zusammenfanden, bis schließlich auch die USA, am Rand des Zusammenbruchs der eigenen Wirtschaft, in den USW (United States of the World) aufgingen.
Und relativ schnell zeigte sich, wie auf der Basis eines weltweit vernetzten Verantwortungsgefühls das Finanzsystem von individuellen und nationalen Machtinteressen gereinigt werden konnte und zunehmend dabei mitwirkte, den Wohlstand auf der ganzen Welt auf ein gemeinsames Niveau zu heben.
("Deutscher Finanzminister erteilt Börsensteuer Abfuhr" Die Presse, 26.3.2012)

Samstag, 24. März 2012

Alchemie im 21. Jahrhundert: Feinstoffliches wird grobstofflich


Eine Standardfrage im gegenwärtig tagenden Untersuchungsausschuss des österreichischen Parlaments lautet: „Und was war die Gegenleistung?“ Die Antwort darauf lautete meist, man entschlage sich der Antwort. Nun, nicht so Herr Meischberger, wohl einer der unterschätztesten Persönlichkeiten auf unserem Planeten, zumindest in meiner Sicht, wie ich zugeben muss. Er benannte als Gegenleistung „eben das Feinstoffliche.“ 

Nun, wenn das nicht eine schöne Summe grobstofflichen Geldes wert ist, was dann? Da kann man ja nur einen Fantasiebetrag als angemessen betrachten. Denn wie soll sich eine derartige Leistung in Geld ausdrücken? Der Blick, die Aura, die bloße Gegenwärtigkeit eines Herrn Maischberger muss einfach so umwerfend in ihrer feinstofflichen Qualität sein, dass es kein wirklich angemessenes Äquivalent dafür geben kann, nein, das kann nur eine willkürlich gewählte Summe sein, die sich gut und rund anfühlt, nicht 93 478,- oder 109 168,-, oh wie hässlich, nein, 100 000,-, das fühlt sich gut an, das hat eine gute Schwingung. Da passt sich das Grobstoffliche ans Feinstoffliche an, wie es sein soll, schmiegsam und geschmeidig. Die Leistung hat eine Gegenleistung, da ist pure Resonanz.

Wirklich eine beeindruckende Zeit: Viele suchen den Weg vom Groben zum Feinen, und genial, da tritt jemand auf und belegt überzeugend das Gegenteil: Die unermessliche Qualität der eigenen Person in der groben Form der runden Summe nonchalant einzustreifen und damit in die Niederungen des Gewöhnlichen herunterzusteigen, mit all dem enormen Aufwand an Feinstofflichkeit.

Das Füllhorn der Telefoniefirma, die zur Hälfte der Republik gehört (und das ist nicht irgendein Apparat, sondern das sind wir), schüttete just zu dem Zeitpunkt üppigst das Grobe an die Feinstofflichen aus, als Tausende Mitarbeiter zur Kündigung freigesetzt wurden. Wer bis dahin zwischen diesen Vorgängen keinerlei Zusammenhang vermutet hat, wird jetzt eines Besseren belehrt. Woher kann dieser Mut, diese Klarheit, diese tiefe Menschlichkeit kommen, die für eine solche einschneidende Maßnahme notwendig ist, als durch einen enormen feinstofflichen Einfluss? Wer käme sonst auf die kühne Idee, Menschen, die vielleicht schon immer unglücklich an ihrem grobstofflichen Arbeitsplatz waren, endlich die Gelegenheit zu bieten, ihre eigentliche Bestimmung im Feinstofflichen zu finden. Für diese Gegenläufigkeit braucht es einfach einen Ausgleich in der anderen Richtung, und der darf angesichts der Größe der Tat nicht zu gering bemessen sein. Das Geld also nicht zu den Ruachlern im Groben, nein, den Feinen gebührt es, den Meistern des Feinstofflichen. Welch profunde Weisheit offenbart sich in solchen banalen Vorgängen!

Und es gibt allen, die an der Lernfähigkeit der ÖsterreicherInnen zweifeln, ein für alle mal unrecht: Ja, wir haben gelernt, was Demokratie ist, nicht einmal hundert Jahre nach dem Ende des Kaiserreichs: Wir müssen nicht gräflicher Abkunft sein, nein, auch als Installateur und Tankstellenbetreiber dürfen wir uns Hoffnungen machen, das große Los zu ziehen. Es genügt, zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Leute zu kennen.

 

Donnerstag, 22. März 2012

Die Wunderheiler und die Skeptiker

Wenn es um Phänomene geht, die nicht in das wissenschaftliche Weltbild passen, erregt das die Gemüter und polarisiert schnell: Auf der einen Seite bilden sich die Gruppen der Enthusiasten, auf der anderen die der Zweifler. Wie immer bei Polarisierungen, kommt es auf beiden Seiten zu Übertreibungen. Von den einen wird ein Wunderheiler auf die Schultern genommen und gefeiert, allen weiterempfohlen, und es werden die, die das Angebot nicht annehmen, aggressiv bemitleidet. Wunderbare Erfolge werden herausgestrichen, und alle, denen nicht geholfen wurde, werden verschwiegen, auch besteht kein Interesse daran, ob Heilungserfolge von Dauer sind oder die Krankheit nach einiger Zeit wieder zurückkehrt. Von den anderen, den Skeptikern wird jedes Gerücht dankbar aufgegriffen, das die Unseriosität des Heilers herausstellt. Es fehle jede wissenschaftliche Bestätigung und Absicherung der Heilerfolge, und häufig werden irgendwelche kolportierten finanziellen oder ethischen Unregelmäßigkeiten zum Anlass genommen, die ganze Sache zu diskreditieren. Und das Kolportieren gilt dann schon als wissenschaftliche Widerlegung.
Wir leben in einer pluralistischen Welt mit einer pluralistischen Meinungsbildung und Meinungsrechtfertigung. Die eine braucht eine glaubwürdige Erzählung von jemandem, der schon „dort“ war, der andere verlässt sich nur auf abgesicherte Erkenntnisse, die nicht bloß auf subjektiven Eindrücken beruhen. Das ist ja auch gut so. Eine pluralistische Gesellschaft gibt jeder Meinung und jeder Sichtweise, jedem Weltbild ein Recht und einen Platz. Niemand soll diskriminiert, abgewertet oder ausgeschlossen werden, alle Meinungen dürfen geäußert werden und verdienen grundsätzlichen Respekt.
Die Vehemenz allerdings, mit der die jeweiligen Positionen vertreten werden, die kämpferische Pose der Esoteriker einerseits und der Aufklärer auf der anderen Seite, scheint mir beachtens- und betrachtenswert. Was verbirgt sich hinter dem Fanatismus, den Anhänger wie Gegner von Wundern und Wunderheilern oder einer Wunderheilrichtung mobilisieren können? Was bringt Menschen dazu, so radikal Partei zu ergreifen und radikal die jeweilige Gegenpartei zu bekämpfen?
Wunder ist etwas, das nicht in den Rahmen der Normalität passt. Wenn jede jederzeit durch ein Fingerschnipsen beim anderen die Kopfschmerzen wegzaubern oder durch Handauflegen den Krebs heilen könnte, wäre das kein Wunder. Wunder ist etwas, das nicht immer und nicht in jedem Fall funktioniert. Wunderheiler sind solche, denen Manchmal ein Wunder gelingt. Könnte ein Heiler eine 100-prozentige Garantie abgeben für seine Heilungen, würden also seine Heilungen immer Erfolg haben, dann wären alle kranken Menschen bei ihm, und es wäre kein Wunder mehr, wenn geheilt wird. Nur hat es, soweit wir wissen, noch nie einen derartigen Menschen gegeben. Zwar wissen wir von Jesus, dass alle Heilungen, die von ihm berichtet werden, erfolgreich waren. Wir wissen jedoch nicht, ob er Misserfolge hatte, die in den Quellen nicht erwähnt werden und ob die Heilungen von Dauer waren. Er hat auch keine Erfolgsgarantie verkündet, sondern immer gemeint, dass nur geheilt werde, wer den Glauben hat. Die Theologen meinen auch, dass die Heilungen den Sinn hatten, die Menschen zum Glauben an die Liebe Gottes zu den Menschen und nicht an Zauberei zu führen.
Offenbar gibt es nichts unter Menschen, was immer und überall heilsam wirkt, so sehr wir uns das wünschen würden. Es gibt keine Methode, die sicher Krebs oder AIDS heilt; obwohl viele Fortschritte in der Medizin erreicht wurden, sterben Menschen an diesen und anderen Krankheiten. Bislang wurde keine psychotherapeutische Methode entwickelt, die alle glücklich macht, obwohl viele behaupten, sie hätten sie entdeckt, weil sie ihnen selber und ein paar Klienten geholfen hat. Wir Menschen sind selber eine immenses Wunderwerk, derart komplex, dass wir nur staunen können, dass wir trotz aller Störungsanfälligkeit im Großen und Ganzen und immer wieder und manchmal auch sehr gut brauchbar und handlungsfähig sind. Wie soll es da einen Schlüssel geben, der alles aufsperrt, einen Stein der Weisen, der alles zu heilen vermag, eine Person, die für jedes Leiden eine Kur anbieten kann?
Millionen Menschen haben Lourdes besucht, ein paar Tausende wurden erwiesenermaßen geheilt; viel mehr Menschen, die sich Heilung erhofft haben, wurden enttäuscht. Aber das spricht nicht gegen die Heilungen, die geschehen sind und den Betroffenen das Leben erleichtert und verlängert haben.
Fanatismus und Integration
Wir haben diese starke Neigung, unsere subjektiven Erfahrungen zu verallgemeinern. Im einfachen Fall wollen wir andere an dem teilhaben lassen, was uns selber gefällt und zu dem Gewinn bringen, der uns selber erfreut hat. Wenn wir dabei nicht aufpassen, machen wir daraus gleich eine Sekte oder eine Religion, und jeder, der nicht daran glaubt, muss abgewertet und bekämpft werden. Wenn etwas nicht funktioniert hat, wenn wir uns hintergangen oder getäuscht fühlen, wollen wir andere warnen, damit sie nicht in die gleiche Falle tappen. Wenn wir das wiederum verallgemeinern, kann leicht eine (Verschwörungs-)Ideologie daraus entstehen.
Was ist die Angst des Aufklärers? Er befürchtet, wenn die Menschen sich nicht ihres Verstandes bedienen, können sie nur Schaden erleiden. Sie werden durch Dummheit zu Dummheit verführt und hereingelegt. Deshalb versucht er, sie mit den Mitteln der Rationalität und Wissenschaftlichkeit aus der Verblendung zu befreien.
Was ist die Angst der Eso-Fanatikerin? Sie befürchtet, dass die Menschen den puren Rationalisten auf den Leim gehen, den gefühllosen Techno- und Bürokraten, die die Menschen und ihre Gesundheit verwalten wie einen Maschinenpark und alles verdammen, was nicht in das enge Raster der Wissenschaftlichkeit passt. Wenn sich die Menschen nur ihres Verstandes bedienen, werden sie durch Blindheit zur Blindheit verführt und erleiden dadurch Schaden an ihrer Seele.
Die Karawane der Bewusstseinsevolution zieht weiter. Wir bewegen uns langsam, aber sicher, in systemische Zusammenhänge hinein, dort nehmen die Fanatismen ab, weil die Wichtigkeit vieler Perspektiven auf die Wirklichkeit wertgeschätzt wird. Was hilft und heilt, das hilft und heilt, ob es wissenschaftlich oder geistheilerisch abgesichert ist oder nicht. Wenn Kontext und Methode zusammenpassen, dann kommt es zum Heilungserfolg. Und das ist in jedem Einzelfall wieder neu zu bestimmen, und da helfen keine vorgefassten Ideologien. Wie wir in der Psychotherapie sagen: Für jede Klientin erfinden wir eine neue Therapiemethode (gemeinsam mit ihr).
Die verschiedenen Wege und Methoden der Heilung werden kombiniert, damit das Beste für die betroffenen Menschen entsteht. Statt der Ausgrenzung der Wundertäter aus dem medizinischen Establishment werden sie als Komplementärmedizin integriert; und die „klassischen“ Behandlungsmethoden werden auch von den Anhängern eines esoterischen Weltbildes anerkannt und genutzt, wo sie Sinnvolles leisten. 

Vgl.: Was ist Esoterik?
Vgl.: Die Eso-Hasser 

Donnerstag, 15. März 2012

Der menschliche Körper und die Bewusstseinsevolution

Hier möchte ich ein paar Gedanken zur Rolle des Körpers in den ersten drei Stufen der Bewusstseinsevolution entwickeln.

Auf der ersten, der tribalen Stufe, ist das Verhältnis von Mensch und Körper noch ganz einfach. Diese Stufe ist die körperlichste von allen. Denn die Beziehung zum eigenen Körper und zu den Körpern der anderen ist so direkt und unmittelbar, wie sonst auf keiner der folgenden Stufen. Es gibt noch wenige kulturelle Imprägnierungen des Körpers. Da diese Stufe durch eine fast intime Nähe von Mensch und Natur gekennzeichnet ist, werden auch die Körper als Teil der Natur erfahren und in Ritualen gefeiert. Allerdings ist die Nähe keine Einheit, der Unterschied besteht und ist ebenfalls Gegenstand von Ritualen.

Auf der zweiten emanzipativen Stufe gewinnt die Bekleidung des Körpers, also seine Verhüllung größere Bedeutung. Damit wird die Vergrößerung des Abstandes zur Natur zum Ausdruck gebracht. Es geht ja auch um die Emanzipation aus der Kontrolle durch die Natur. Wie sich die Menschen Häuser bauen, um sich vor den Unbilden der Natur zu schützen, werden auch die Körper von Hüllen umgeben, zum Schutz und zur Symbolisierung, dass die Körper jetzt nicht mehr der Natur gehören. Der Eigentumsbegriff, der auf dieser Stufe eingeführt wird, hinterlässt auch auf den Körpern der Menschen seine Spuren. In der Sklaverei werden Menschen und damit vor allem ihre Körper in Besitz genommen. Für den Freien ist der Körper sein Eigentum, das er aber auch verlieren kann.

Mit der Konzentration und Verkleinerung der Familie, die auf dieser Stufe stattfindet, werden die Besitzansprüche in den Geschlechtsbeziehungen verstärkt. Der trojanische Krieg wird durch einen „Frauenraub“ Helenas durch Paris ausgelöst. Auf Wikipedia heißt es dazu: „Helena galt als die schönste Frau ihrer Zeit. Ihre Schönheit soll so groß gewesen sein, dass jeder Mann, der sie sah, Helena besitzen wollte.“ Selbst der Wikipedia-Erzähler berschreibt das Begehren einer Frau durch einen Mann als den Wunsch nach Besitz. Frauenkörper werden zum Eigentum der Männer. Bei Verletzung des Eigentumsrechtes gibt es Krieg (selbst wenn „das Eigentum“ dem Besitzerwechsel zugestimmt hat).

Die männliche Dominanz, die in den homerischen Epen im Bewusstsein schon fest verankert ist, hat keine andere Begründung als die überlegene Körperkraft, die für die emanzipatorischen Großtaten notwendig war. Damit verschärfen und vertiefen sich die Unterschiede unter den Geschlechtern. Diese Neubewertungen und Kategorisierungen legen sich über die Körper wie die Kleider, die sie verhüllen und schleichen sich in die Körper ein, um ihren Lebensausdruck zu prägen.

Der Männerkörper wird freigespielt (in Spiel und Sport), weil er die Abenteuer bestehen muss, während der Frauenkörper den Besitzansprüchen untergeordnet wird. Deshalb wird der letztere umfangreicher verhüllt, manchmal bis zur völligen Verbergung. Die griechischen Männer vollzogen ihre olympischen Wettkämpfe nackt, die Frauen waren dabei nicht einmal anwesend. Mit dieser Freilegung des Männerkörpers (und auch mit seiner Ästhetisierung in der griechischen Kunst) einher geht die Entfesselung des männlichen Gefühlskörpers, insbesondere der Wut. Zugleich findet eine Einschränkung statt, denn der männliche Körper ist nur in seiner aggressiven Form brauchbar, während seine Verletzlichkeit nicht gefragt ist. Der Männerkörper hat zwei widerstrebende Aspekte zu vereinigen, die Öffnung für die Energie der Wut und die Abschottung gegen die des Schmerzes. Das ist das Programm der Körpererziehung und Körperbildung für die weitere Geschichte, und das ist die Geburt des Macho-Körpers.

Der Frauenkörper erfährt die gegenteilige Prägung – die Freilegung der Verletzlichkeit und die Unterdrückung der Aggression. Möglicherweise sprechen hormonelle und andere organische Dispositionen für die Plausibilität dieser Unterscheidung, doch werden sie im emanzipatorischen Bewusstsein polarisiert und festgeschrieben, d.h. die Mittelbereiche der Streuung – weniger aggressive Männer und weniger verletzliche Frauen – müssen sich den Polen zuschlagen. Dieser Prozess des Auseinanderdrängens der nach Geschlecht unterschiedenen Körper wird in die verschiedenen Bereiche der Gesellschaft und Kultur übersetzt. Eine Folge ist, dass die Frauenkörper faktisch weitgehend aus der Öffentlichkeit verschwinden.

Wir können nur spekulieren, ob sich durch diese kulturellen Zuschreibungen die Körper selbst verändert haben; nach den Erkenntnissen der Epigenetik ist das durchaus denkbar – dass also durch den sozialen Druck zur Polarisierung die Frauenkörper „weiblicher“ und die Männerkörper „männlicher“ geworden sind. Jedenfalls wurden Zwischenbereiche, die sich z.B. in der Homosexualität ausdrücken, massiven Sanktionen ausgesetzt, während die verkörperten Pole, die starken Männer und die schwachen Frauen, Karriere machen konnten und zu prägenden Stereotypen wurden.

Die Körper auf der dritten Stufe der Bewusstseinsevolution

Die oben skizzierte Entwicklung des Auseinanderdriftens der geschlechtlich differenzierten Körper in der zweiten Stufe der Bewusstseinsentwicklung wird in der dritten, der hierarchischen, fortgesetzt und institutionalisiert, z.B. durch kirchliche Verbote des Waffentragens für Frauen.

Es geht jetzt darum, die Körper der Macht der Bürokratie unterzuordnen und sie in das Über- und Unterordnungssystem einzupassen. Da Körper als solche nicht einfach formbar sind, muss die Bekleidung der sozialen Differenzierung dienen. Zu diesem Zweck gibt es in vielen Kulturen Kleiderordnungen, die die öffentliche Darstellung der sozialen Stellung einer Person regeln. „Kleider machen Leute“ und machen auch Körper – das Tragen bestimmter Kleidungsstücke formt die Körper und die Körpersprache der Bekleideten. Ein König kann nicht irgendwie gekleidet sein und sich nicht irgendwie bewegen, sondern hat sich an die vorgesehenen Normierungen zu halten. Er hat sich imponierend und majestätisch zu bewegen, sonst ist er der Lächerlichkeit preisgegeben und muss um seine Macht fürchten. 

Ähnliches gilt auch für die Angehörigen des Adelsstandes, in abgestufter Form. Die Formung der Körpersprache reicht hinein in die verbale Sprache, die auch solchen Normen folgt. Ein gutes Beispiel ist dafür England nach der Invasion durch die Normannen, die eine neue Herrschaftssprache mitbrachten. Ein Engländer hat mir einmal erzählt, dass die sprachlichen Feinregulierungen zur sozialen Differenzierung nach wie vor in Geltung sind und genutzt werden, sodass jeder Engländer „hören“ kann, aus welcher Schicht eine Person kommt. Ähnliches gilt sicher auch für andere Kulturen, wenn auch die Tendenz zur Einebnung solcher Unterschiede im Zug der Demokratisierung im Laufen ist.

Die Untertanen haben eine Untertanenhaltung einzunehmen, mit der sie eine jederzeitige Unterwerfung signalisieren. Diese ist uns so eingeprägt, dass sich unsere Nackenmuskeln anspannen, um den Kopf zu senken, wenn wir Vorgesetzte treffen. Der Schuster hat bei seinem Leisten zu bleiben, und nur im Märchen wird der Müllerssohn zum König.

Es geht dabei auch um die Fesselung des Gefühlskörpers. Er darf der Herrschaftshierarchie nicht in die Quere kommen und muss kontrolliert werden. Auf die Aggressionsenthemmung der zweiten Stufe folgt die Aggressionshemmung auf der dritten. Damit sollen die Menschen massentauglich gemacht werden, also in die Lage versetzt werden, in einer Großgesellschaft zu funktionieren. Und dazu ist es wichtig, genau den eigenen Rang und den der anderen in der Hierarchie zu kennen, ähnlich wie die Inder trotz offizieller Abschaffung des Kastenwesens die Kastenzugehörigkeit jedes Gesprächspartners sofort erkennen.
Die Verfügung über den Körper wird öffentlich kundgemacht durch die grausamen Bestrafungen von Verbrechern und „Regimegegnern“, die der Bevölkerung nicht nur zeigen sollen, dass der Staat, der Herrscher, den Untertanen das Leben wegnehmen kann, sondern dass er die Verfügungsmacht über ihre Körper hat, mit denen er tun und lassen kann, was er will. Die Verbreitung der Folter für die Wahrheitsfindung in der Justiz ist ein weiteres Zeichen für den ungehemmten Zugriff des Staates auf die Körper der Menschen. Wenn der Verdächtige nicht freiwillig die Wahrheit sagt, wird sie aus seinem Körper heraus gepeinigt.

Erwähnenswert ist noch der Einfluss des Christentums auf die Körperformung im hierarchischen Bewusstsein. Unter dem Einfluss des Manichäismus, einer Glaubensrichtung aus dem vorderen Orient, nahm die Leibfeindlichkeit Einzug ins frühe Christentum, mit Folgen bis in unsere Zeit, vor allem in der katholischen Kirche. Der Körper galt als sündig und unrein.

Die Frauenkörper erfahren auf dieser Stufe bis ins Absurde gehende Verformungen. Die spanische Mode des 16. Jahrhunderts z.B. sollte den Frauenkörper derart einschnüren, dass er ein streng geometrisches Aussehen erreichte, zwei auf ihren Spitzen ruhende Dreiecke mit einem Kreis obenauf. Ein anderes Beispiel bieten die verunstalteten Füße der chinesischen Frauen, die mit diesem „Schönheitsmerkmal“ ihre Fortbewegungsfähigkeit einbüßten.

Jede selbständige Möglichkeit des Ausdrucks soll unterbunden werden, für die Frauen noch stärker als für die Männer. Die körperliche Leidenschaftlichkeit hat keinen Platz in der Öffentlichkeit, und die Gewissensprägung durch die Religionen sorgen zusätzlich dafür, dass auch im Privaten oder Intimen intensive Gefühlserregungen mittels Schuldgefühlen gedrosselt werden. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass viele Menschen (bis heute) den Körper als Gefängnis der Seele erleben und diese Verkümmerung der freien Lebendigkeit manchmal noch als spirituelle Erkenntnis verbrämen.

Die Befreiung des Körpers muss warten. Auch die vierte Bewusstseinsstufe, die den Körper für die Produktionsprozesse in Dienst nimmt, verheißt der körperlichen Freiheit nichts Gutes, im Gegenteil, die Ausbeutung der Arbeitskraft im Kapitalismus ist vor allem eine Ausbeutung der Körper bis an den Rand des Zusammenbruchs. Erst auf der fünften Stufe des personalistischen Bewusstseins wird langsam und vorsichtig der Körper wieder entdeckt und seine Lebendigkeit zurückgewonnen.

Sonntag, 4. März 2012

Innerer Friede und Aktivität

Ein gängiges Bild des Menschen, der am Ende des Weges zu sich selbst angekommen ist, ist der Weise in der Höhle, ein bedürfnisloser Asket, der versunken in sich lebt und eine tiefe Gelöstheit und Friedlichkeit auf alle ausstrahlt, die ihm nahekommen. Er hat sich aus der Welt der Geschäftigkeit zurückgezogen und gibt denen, die zu ihm kommen, seinen Segen mit auf den Rückweg. 

Wie seine Lebensweise, ist sein Beitrag zur Welt scheinbar bescheiden. Dennoch inspirieren solche Heilige viele Menschen, auch den Weg nach Innen zur Weisheit und Abgeklärtheit zu gehen. 

Nicht für alle ist diese Form der Heiligkeit die Bestimmung. Vielleicht trägt jeder Mensch ein eigenes, individuelles Potenzial der Verwirklichung und des Weges dorthin in sich. Wenn wir der Kraft der Bewusstseinsevolution vertrauen, führt der Weg für jeden Menschen und für alle Kulturen dazu, mehr und mehr Ängste aufzulösen, damit frei zu werden und den Frieden zu finden. Wie weit dieser Weg beschritten werden kann, welche Ziele erreicht und welche offen bleiben, liegt offen in der unvorhersehbaren Zukunft. 

Klar ist nur die Richtung, selbst dann, wenn wir selber das Gefühl haben, sie stimmt nicht, selbst wenn wir meinen, wir fallen zurück auf alte Muster oder verirren uns in seltsame Gewohnheiten und reaktive Verhaltensweisen. Alles, was uns auffällt an unserem Leben, trägt zur Bewusstheit bei, gleich ob das, was uns auffällt, uns passt oder peinlich ist. Wir können nicht nicht bewusster werden. 

Nur spielt uns häufig unser Ego einen Streich, indem es uns ein schlechtes Gewissen einredet. Als Meister der Illusionen und der Vernebelung mischt es sich in unsere Beziehung zu unserer inneren Klarheit mit seinem vorlauten Getue und seinen wichtigtuerischen Gedanken ein. Dann zweifeln wir am Weg und an der Befreiung und merken nicht, dass wir schon wieder einen Schritt weiter sind. 

Ein beliebter Trick, den das Ego virtuos ausspielen kann, ist der Vergleich mit anderen. Wir schauen auf zu Menschen, die „schon so weit“ sind, und herab auf andere, die „erst irgendwo am Anfang“ herumkrebsen. Dabei übersehen wir, dass jeder Mensch seinen ganz eigenen Weg zu gehen hat und auch geht, weil ihm gar nichts anderes übrig bleibt. Wir können andere Menschen und das, was sie sind, als Inspiration nehmen, aber sollten uns hüten, sie als Kopiervorlage zu missbrauchen. Jeder soll nach seiner Façon selig werden, sagte schon Friedrich von Preußen. Jeder kann nur nach seiner Façon selig oder heilig werden, aus seinem Leben heraus, mit den Hintergründen und Beladenheiten, mit den Begabungen und Vorzügen. 

Für denen einen führt der Weg in den Rückzug, für den anderen ins volle Leben. Jede Art und Weise, im äußeren Unfrieden den inneren Frieden zu finden, ist wunderbar und verdient Repekt. Wir brauchen all diese Formen, um als (Welt-)Gesellschaft und Kultur gesunden und reifen zu können. Wir brauchen Menschen mit mehr Gelassenheit und innerer Friedfertigkeit, weil sie die klarsten Motive mitbringen, am kreativsten handeln können und am fähigsten zur Empathie sind. Je mehr friedfertige Menschen auf dieser Welt unterwegs und in ihrer jeweiligen Eigenart aktiv sind, desto mehr wird sich die Menschheit hin zum Frieden entwickeln. 

Sai Baba sagte neulich in einem Interview: „Die Menschheit ist dabei, ihr Bewusstsein zu erhöhen, wie niemals zuvor.“
Frage: „Jedoch wie! Kannst du die Dunkelheit denn nicht sehen?“
„Ja, ich sehe sie, allerdings identifiziere ich mich nicht mit ihr. Ich habe deswegen keine Angst. Wie kann ich die Dunkelheit fürchten, wenn ich solch ein klares Licht sehe? Natürlich habe ich Verständnis für jene, die ängstlich sind, denn ich war auch mal in der Situation, wo ich nur das Böse wahrnehmen konnte. Deswegen empfinde ich Liebe für all dies. (...)“  
Frage: „Doch … wie kannst du dies behaupten, wenn immer mehr Böses auf der Welt geschieht?"
„Es geschieht nicht mehr Böses… es geschieht „mehr Licht“, und dies möchte ich durch diese Botschaft ausdrücken. Stell dir vor, du hast einen Lagerraum, wo du seit Jahren deine Sachen lagerst und dieser ist mit einer 40-Watt-Birne beleuchtet. Wechsle diese Birne in eine 100-Watt Lampe, und du wirst sehen, was geschieht. Du wirst das Schlamassel und den Dreck sehen, wovon du nicht dachtest, dass er existiert. Der Dreck wird klarer wahrgenommen. ... Du solltest deinen Lagerraum in Ordnung bringen, denn du empfängst täglich mehr Licht für dein Bewusstsein, und auch wenn du es vermeiden möchtest, wirst du anfangen müssen, an diesem Projekt zu arbeiten und den Säuberungsprozess einzuleiten oder dich entscheiden, mitten im Dreck zu leben.“

Im Unfrieden im Frieden sein

Wo herrscht Frieden auf dieser Welt? Schlagen wir eine Zeitung auf, schalten wir den Fernseher oder das Radio ein, werden uns die Megakonflikte präsentiert, von denen viele Jahr und Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte dahinschwelen. Und wir wissen, dass uns nur eine kleine Auswahl an Unfriedlichkeiten vorgeführt wird und dass es neben den „offiziellen“, CNN-fähigen Weltthemen viele mehr gibt, die es mangels Lobbying nicht in die Schlagzeilen schaffen.

Das ist die große Welt der Unfriedlichkeiten; dann gibt es unsere kleinere Welt , die verschiedenen Lebensbereiche, in denen wir uns bewegen, in denen es immer wieder Streit, Missgunst, Hass usw. gibt. Manchmal scheint ein Beziehungsfeld im Frieden, und schon bricht anderswo ein Streit aus, und wenn sich in einem Moment alles harmonisch und ruhig anfühlt, kann im nächsten etwas explodieren, das das Ganze durcheinander wirbelt.

Nicht viel anders zeigt sich unser Inneres. Mal fühlen wir uns wohl und im Einklang mit uns selber, dann fängt eine Auseinandersetzung in uns an, wir verspannen uns oder leiden körperlich oder emotional. Wir hadern mit einem Körperteil, der uns schmerzt, mit einem Gedanken, der uns plagt, mit Plänen, die wir nicht umsetzen und mit Bedürfnissen, die ungestillt bleiben.

In solchen Erfahrungen können wir erkennen, dass all diese Unfriedlichkeiten zusammenhängen und sich gegenseitig hochschaukeln. Jede innere Unpässlichkeit hat die Tendenz, sich als Belastung für Beziehungen auszudrücken, angespannte Beziehungen können sich störend auf größere Beziehungsnetze auswirken, die dann wiederum auf Mentalitäten und Kulturmuster Einfluss nehmen. So hängt vieles mit vielem, wenn nicht gar alles mit allem zusammen. 

Wie können wir im Frieden sein bei so viel Unfrieden? Ist das überhaupt sinnvoll? Sollten wir uns nicht permanent aufregen über all das Unrecht und die Grausamkeiten? Ist es nicht bloße Heuchelei und Vogelstraußverhalten, wenn wir den inneren Frieden suchen, während die Welt im Chaos versinkt? Was soll das für ein Friede sind, in einem Elfenbeinturm oder Wolkenkuckucksheim, auf einer illusionären Insel der Seligen? Wie können nach Auschwitz noch Gedichte geschrieben werden, fragte Theodor W. Adorno.

Erst wenn überall Friede herrscht, kann es Frieden im Einzelnen geben, so die Position der Skeptiker. Nochmals Adorno: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“. Allerdings, wenn es erst etwas Richtiges gibt, wenn es überhaupt nichts Falsches mehr gibt, können wir lange auf das Richtige warten. Wenn es erst Frieden geben kann, sobald aller Unfriede beseitigt ist, verrennen wir uns in eine fixe Idee. Wir warten auf einen absoluten Frieden, auf eine durch und durch heile Welt. Wir tun so, als wäre das möglich, wenn auch weit, weit in der Zukunft. Und als wäre vorher nichts möglich.

Doch der absolute Friede ist eine Geburt unseres Denkvermögens, die wir nicht zu einem Ding machen dürfen, das es irgendwann einmal zu bestaunen geben wird. Vielmehr genügt es, diesen absoluten Frieden als „regulative Idee“ im Sinn von Immanuel Kant anzunehmen: Etwas, wo wir hin wollen, etwas, was uns nicht  ruhen lässt, ehe es nicht verwirklicht ist. 

Die Idee des ewigen oder absoluten Friedens dürfen wir nicht loslassen oder verwässern, aber wir dürfen sie auch nicht dafür missbrauchen, an der Entwicklung der Welt zu verzweifeln. Wir können sie als Spannung erleben, die uns nicht lähmt, sondern kräftigt und im Weitergehen antreibt, wie die Kraft, die im Weiterdrängen der Evolution des Bewusstseins sichtbar wird.

Wir sollten nichts unversucht lassen, immer wieder Verbindung zu dieser Kraft aufzunehmen, es ist die Kraft des Lebens selbst, die uns weiterführen will. Und nur wir selber sind in der Lage, diesen Strom mit einem ganz besonderen Punkt in Kontakt und in Austausch zu bringen, zu dieser einen Stelle im unermesslichen Netz, zu der wir einen ganz intimen und einzigartigen Zugang haben, weil wir das selber sind. Dort können wir den Frieden entstehen und wachsen lassen, sodass er größer wird und sich ausbreitet, ansteckend wird und verführerisch.
 
Inmitten des Unfriedens, wie in dem Foto, das den Chellisten in der ausgebombten Stadtbibliothek von Sarajewo beim Spiel zeigt – Symbolträger für das, was kein Krieg zu zerstören vermag, den Geist und die Schwingung des Menschlichen in intimer Eintracht mit dem Unendlichen und der jenseitigen Schönheit. Dieser Friede ist sanft und leise, er geht leicht unter im Geschrei und in der Verwirrung der Ängste, doch ist er beharrlich und unzerstörbar, weil er tief unter allem wohnt, was in Unfrieden geraten kann.

 Quelle: en.wikipedia.org

Ein kurzes Verständnis von dem, was Leben ist und warum es das Ego gibt

Der Beginn des Lebens aus anorganischen Materialien vollzog sich auf unserer Erde vor ca. 4 Milliarden Jahren. Damit beginnt eine spannende Entwicklung, zu deren Verständnis wir zwei Ebenen unterscheiden können: Die individuelle Lebensperspektive und die größere Weisheit des Lebens.

Zur Definition des Lebens gehört, dass sich die Lebewesen als System von außen abschließen. Sie organisieren sich selbst (Autopoiesis nach Maturana und Varela). Sie pflanzen sich fort und verfügen über einen Stoffwechsel.

Lebewesen sind also immer Individuen, die sich von ihren Verwandten unterscheiden. Deshalb hat jedes Lebewesen auch seine eigene Geschichte und sein individuelles Schicksal. Wiewohl alle Lebewesen mit anderen verbunden sind, also immer in Kommunikation stehen mit der belebten und unbelebten Außenwelt, haben sie, davon unterschieden, eine spezielle Kommunikation nach innen, eine Selbstbezogenheit. Trotz der kommunikativen Verbundenheit hat also jedes Lebewesen seinen „Privatbereich“.

Die andere Perspektive der Lebensintelligenz (die wir manchmal Gaia nennen), begleitet diese individuellen Lebenswege und sorgt für die Verbindung zueinander sowie für die Weiterentwicklung. Sie zeigt sich in der ordnenden und weiterdrängenden Funktion in der Evolution.

Was können wir uns unter dieser Intelligenz vorstellen? Wenn wir uns einen „einfachen“ Vorgang, wie den einer Zellteilung anschauen, erkennen wir einen Plan mit genau festgelegten Schritten, die absolviert werden müssen, damit die Teilung gelingt. Dieser kann nur ablaufen, wenn sich die interne Kommunikation diesem Plan unterordnet. Würde sie sich in den Ablauf einmischen, käme alles durcheinander, und die Teilung würde misslingen.

Ein Beispiel dafür ist auch die „Sprache“, über die jedes Lebewesen in zumindest zweifacher (miteinander verschränkter, aber unterschiedlicher) Hinsicht verfügt, nämlich die Verständigung mit der Umwelt und mit sich selbst. Die Sprache als solche wird von dieser Intelligenz zur Verfügung gestellt, da die Entstehung von Sprache nicht aus der Kreativität eines Individuums denkbar ist.

Im Entwicklungsplan des Lebens gibt es krisenhafte Momente, die dann auftreten, wenn es darum geht, höhere Organisationsformen zu bilden. Die Entwicklung des Lebens, das Wachstum, verläuft nicht linear, sondern stufenförmig. Jede neue Stufe erfordert eine Umbildung innerhalb des Lebewesens. Die individuelle Intelligenz verfügt dabei nicht über ein umfassenden Verständnis dieses Ablaufes, weil sie nur über Erfahrungen aus der individuellen Erinnerung verfügt, in der der neue Schritt eben noch nicht vorgekommen ist. Außerdem unterliegen nicht alle Bedingungen und Unstände der individuellen Kontrolle. Deshalb wird der Entwicklungsschritt als Krise erlebt, die mit Unsicherheit, Angst und Verwirrung erlebt werden kann.

Nehmen wir die Geburt als Beispiel für einen derartigen Entwicklungsschritt. Wenn wir die Geburt innerlich nacherleben, stoßen wir auf Ängste, die auftauchen, wenn die Wehen einsetzen (zweite Geburtsphase nach Stan Grof). Diese Ängste entstehen im individuellen Bewusstsein, und dabei verliert es das Vertrauen im Bezug auf das größere Bewusstsein. Die Gaia-Intelligenz hingegen weiß, dass eine Geburt nur stattfinden kann, wenn Wehen einsetzen. Sie „kümmert“ sich nicht um die individuellen Ängste, sondern treibt die Geburt weiter. Aus der individuellen Sicht sind die Ängste begründet, das Baby hat keine Sicherheit, ob die Geburt gut verlaufen wird. Es kann die Umstände (die bewussten und unbewussten Reaktionen der Mutter, die Eingriffe der Geburtshelfer usw.) nicht kontrollieren und sich nicht auf die Lebensweisheit verlassen.

In Momenten, in denen das individuelle Bewusstsein in eine Krise kommt und Angst empfindet, verliert es den Kontakt zur größeren Weisheit, und dabei entwickelt sich das Ego. Wie es in vielen spirituellen Traditionen heißt, zeigt sich das Ego in der Abspaltung des Einzelnen vom Göttlichen. Und die Aufhebung der Spaltung liegt in der Hingabe an das Ganze.

Die biologische Basis dieser Einsichten können wir introspektiv nachvollziehen, wenn wir die Innenerfahrung von Krisenmomenten wie der Empfängnis, der ersten Zellteilung, der Geburt usw. nacherleben. Dann kommen die Ängste, Widerstände, Zweifel und Irritationen zu Bewusstsein. Es ist die Erfahrung, ganz auf sich allein gestellt zu sein, die Erfahrung des schutzlosen und ausglieferten Egos, das dann z.B. beschließt: „Ich muss alles alleine schaffen“ oder: „ich kann mich auf niemanden verlassen“ oder: „alleine schaffe ich gar nichts“ usw.

Wir kommen damit auch zu einer neuen Definition von Trauma: Es entsteht dann, wenn sich das individuelle Bewusstsein aufgrund einer als krisenhaft erfahrenen Situation vom organischen Gesamtbewusstsein abspaltet und wenn diese Krisenerfahrung nachträglich nicht entsprechend integriert werden kann, wenn also in der individuellen Erinnerung die Abspaltung mitsamt all den Angstgefühlen abgespeichert wird. Traumatische Erfahrungen sind also die Wurzeln des Egos, und dieses setzt sich aus Traumaerinnerungen zusammen und verarbeitet diese weiter zu seinen charakteristischen Mustern.

Wie geschieht dann die Heilung? Das individuelle und das organische Gesamtbewusstsein finden wieder zusammen, indem sich das Ego mit all seinen Ängsten und Verwirrungen der Gaia-Intelligenz hingibt. Wenn wir in der Regression zu den Krisenpunkten unserer Entwicklung zurückgehen, lassen wir zu, dass das Ego all seine Gefühle und Empfindungen voll erleben darf, und umfassen sie zugleich mit dem Strom des Lebens, das weitergeht und alles in sich aufnimmt, bis sich das aufgeregte und verstörte Ego beruhigt und im Ganzen auflöst.

Freitag, 2. März 2012

Wirtschaft ohne Gier?

Die quantitative Wachstumsdynamik des Kapitalismus wird von den Subjekten der Wirtschaft in Schwung gehalten. Als Produzenten und Konsumenten steuern sie einen psychischen Mechanismus bei, der sie zum Arbeiten und Verbrauchen bis an die Grenzen der Überforderung anstachelt. Das ist die Gier. Sie ist die Triebkraft hinter dem Mehr-Wollen, Mehr-Leisten, Mehr-Konsumieren.

 
Wie würde nun eine Ökonomie funktionieren, in der die Gier als individuelle Triebkraft ausgefallen ist? Die Annahme dabei ist die, dass die Gier nicht zu den anthropologischen Konstanten gehört, also nicht eine angeborene und permanent wirkende Eigenschaft ist, sondern dass sie eine erworbene und pathologische Struktur in uns ist, die wir eindämmen, meistern und transformieren können. Ich gehe also davon aus, dass alle Menschen weitgehend von Gier frei werden können, wenn sie das wollen, und dass das einen Paradigmenwechsel in der Wirtschaft hervorruft, wenn das in einem großen Maß geschieht. 
Menschen ohne Gier konsumieren nur das, was sie „wirklich brauchen“. Was ist damit gemeint? Die Kritiker der Warenwelt und Werbeindustrie haben darauf hingewiesen, dass Bedürfnisse nicht einfach da sind, sondern erzeugt, gewissermaßen in die Menschen implantiert werden können. Niemand „brauchte“ ein Mobiltelefon, ehe es erfunden war und massentauglich gemacht wurde. Niemand braucht die 35. Joghurtsorte, die auf den Markt kommt, niemand die 12. Geschmacksverstärkung im Mineralwasser, niemand das neueste Modelabel, das die Boutiquen erobert. Aber wir konsumieren, und es gefällt uns, im Land der unbegrenzten Konsummöglichkeiten zu schwelgen. Es sind keine eigenständigen Bedürfnisse, die hinter dem Konsum von Luxus stecken, sondern kulturell geprägte. Diese prägende Kultur ist die des Materialismus. Und der Materialismus ist gesteuert, angetrieben und genährt vom Kapitalismus. Also sind es die Bedürfnisse, die den Kapitalismus nicht nur am Leben erhalten, sondern dazu noch weiter wachsen lassen. 



Was sind dann die eigenständigen Bedürfnisse? 

Ich möchte diese Frage nicht mit Hinweis auf eines der gängigen Bedürfnismodelle wie das von Maslow oder Herzberg beantworten. Solche Modelle müssten nochmals auf ihren Hintergrund hin durchleuchtet werden, sodass die ideologischen Reste, in denen sich bei ihnen der Materialismus eingeschlichen hat, beseitigt werden können. Statt dessen können wir uns selber fragen, was wir wirklich brauchen, um ein gutes Leben zu führen. 
Dazu können wir ein kleines
Experiment machen, bei dem wir uns vorstellen, ob wir zufrieden und glücklich sein können, wenn die Wohnung, in der wir wohnen, kleiner wäre, wenn wir kein Auto hätten, keine Flugreisen und exotische Urlaubsziele, keine ausgefallenen Leckerbissen, keine Erdbeeren zu Weihnachten usw. 

Wir stellen uns also vor, dass Dinge, die uns in unserem Leben selbstverständlich sind, wegfallen, so lange, bis wir an die Grenze kommen, an der wir nicht mehr zufrieden sein können. Dann sind wir dort angekommen, wo das, was wir als unsere eigenständigen Bedürfnisse definieren können, anfängt. Natürlich ist diese Grenze nicht absolut, und sie kann sich bei genauerem Erforschen und im Lauf der Zeit verändern. 


Vermutlich erkennen wir, dass wir viele der Dinge, mit denen wir uns umgeben, nicht brauchen (außer wir leben schon an der Grenze). Unter diesen Dingen wird es solche geben, die wir wegen ihrer Schönheit und ihrem Symbol- oder Erinnerungswert schätzen. Andere Dinge werden darunter sein, die uns einmal wertvoll waren, aber inzwischen ihre Bedeutung verloren haben. Und andere Dinge, die wir erworben haben, die uns aber über den Moment des Kaufes hinaus keine Befriedigung verschafft haben. 

Als nächstes können wir uns auf die Qualitäten in unserem Leben beziehen: was haben wir, was uns gefällt, motiviert und begeistert, was uns nährt und innerlich wachsen lässt: Zwischenmenschliche Beziehungen, Begegnungen mit der Natur und der Kunst, Erfahrungen, die über das alles noch hinausreichen. Wir können uns überlegen, ob wir davon genug haben, zuviel oder ob wir noch mehr brauchen. Wir werden dabei erkennen, dass der materielle Aufwand für diese Qualitäten relativ gering ist. 
Eine gier-lose Gesellschaft muss keine arme Gesellschaft sein. Im Gegenteil, es ist eine Gesellschaft, die sich nicht mehr mit der qualitativen Armut zufrieden gibt. Sie fordert nicht nur ein Ende des Hungers nach Nahrung und Unterkunft, sondern auch nach umfassender Lebenszufriedenheit. Die Gier speist sich aus einem unbewussten Sicherheitsbedürfnis, das vermeint, durch die Anhäufung von materiellen Gütern vor eingebildeten Gefahren geschützt zu sein. Sie erkennt nicht, dass sie nach einer Befreiung von Ängsten sucht, sondern ist auf die Gegenstände des Begehrens fixiert, die ihr Befriedigung und Sicherheit verheißen. Löst sich dieses irrationale Sicherheitsbedürfnis auf, weil die darunterliegenden Ängste befriedet sind, so schwindet der Drang, Güter anzuhäufen, seien es Gegenstände, Geld oder Beziehungen. 

Dann werden materielle und quantitative Werte (und mit ihnen auch die immateriellen Strukturen des Kapitalismus) nur mehr eine untergeordnete Rolle spielen. Sie dienen der Aufrechterhaltung des Überlebens-Status-Quos, aber tragen nichts zur Steigerung des Lebens bei. Mit dem Essen und Trinken wird der Körper am Leben und im günstigen Fall in guter Verfassung erhalten. Die weiteren materiellen Notwendigkeiten eines guten Lebens wie Kleidung, Unterkunft und Sauberkeit fallen auch in diesen Bereich. Wichtiger und interessanter werden in der gier-losen Gesellschaft die sozialen und kreativen Werte: Kommunikation, Schönheit, Kunst, Freizeit, Sport..., und diese kommen auch mit geringem Umsatz an Ressourcen aus. 


So kann der Kreislauf der materiellen Güter auf ein relativ einfaches und bescheidenes Niveau zurückgefahren werden, was die Ressourcen nachhaltig schonen wird. Materieller Konsum bezieht sich nunmehr immer auch auf einen sozialen und ökologischen Horizont, der die Verträglichkeit des eigenen Konsumhandelns mit dem Wohl des Ganzen in Verbindung setzt. Also kaufe ich z. B. Lebensmittel, die nicht mit ungeheurem Aufwand und Ressourcenverbrauch aus weit entfernten Gegenden der Welt herangeschafft wurden oder keine Kleidung, die von Kindern unter schlechten Arbeitsbedingungen und minimaler Entlohnung hergestellt wurden. 


Da es nicht mehr die eigene Bedürftigkeit ist, welche die Motivation wie in der Gier liefert, ist es möglich, den Blick bei jeder Konsumhandlung zu weiten – was bewirkt sie über mich hinaus, welche Werte unterstützt sie, welche verletzt sie? Leicht kann ich auf die schnelle Befriedigung meines Bedürfnisses verzichten, wenn damit dem größeren Ganzen ein Gefallen getan werden kann. 

Folglich kann es mehr zum eigenen Wohlgefühl beitragen, auf eine Luxusanschaffung zu verzichten, die mit einer katastrophalen Ökobilanz verbunden ist, oder für eine Reise ein umständlicheres und unbequemeres, aber ökologisch verträglicheres Verkehrsmittel zu wählen. 

Das Verzichten verliert seinen bitteren Beigeschmack, den es in der Kindheit bekommen hat. Als Kinder waren wir ganz schutzlos unseren Wünschen und Begehrungen ausgesetzt und haben jede Verweigerung von Seiten der Großen als Kränkung und Missachtung erlebt. Als Erwachsene können wir in jedem Verzichten ein größeres Gewinnen finden. Es gibt einen Maßstab, ob das Zurückstellen eigener Wünsche in uns selber stimmig ist und nicht aus der Unterwerfung unter ein Schuldgefühl kommt; Fühlen wir uns im Verzicht freier und weiter als im Erfüllen des Bedürfnisses?

Das liegt im alten Brauch des Fastens - auf ein momentanes Konsumbedürfnis zu verzichten, um ein Mehr an Freiheit zu erleben.

Donnerstag, 1. März 2012

Wirtschaft ohne Wachstum?

Hier geht es um ungeordnete Gedankenspiele zu einem komplexen Thema, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, Stringenz oder Fachlichkeit.

Das Wirtschaftswachstum wird als ein wichtiger Kennwert für die „Gesundheit“ einer Volkswirtschaft angesehen. Wächst die Wirtschaft, kann nichts schiefgehen, und wir brauchen uns keine Sorgen zu machen, um die Wirtschaft und damit um uns selbst. So lautet die Botschaft.

Die Angst vor einem Rückgang der Wirtschaftsleistung ist so groß, dass der Ausdruck „Minus-Wachstum“ erfunden wurde, um die Worte „Schrumpfung“, „Verkleinerung“, „Abnahme“ zu vermeiden, die Ängste auslösen könnten. Wir freuen uns, wenn etwas größer wird, weil wir mit Leben Wachstum verbinden. Rückgang assoziieren wir mit Einschränkung, Schwächung, Verringerung. Wir wollen mehr und mehr und leiden, wenn zu wenig da ist oder wenn das, was da ist, weniger wird.

Der Kapitalismus gewinnt seine Überzeugungskraft aus der Naturmetapher des Wachstums und überträgt sie auf den Bereich der Dinge und Waren. Das ist sein Erfolgsrezept: Lebloses zu vermehren, indem Materie in Waren umgewandelt wird. Die Tatsache, dass Materie endlich ist, dass es also irgendwann einmal keine Waren mehr gibt, wird verdrängt. Der Kapitalismus feiert den Moment und ignoriert die Zukunft.

Wir denken, dass wir gesund sind, wenn unser Bankkonto wächst, wie wir denken, dass die Zimmerpflanze gesund ist, wenn sie neue Blätter und Blüten bekommt. Ein Wirtschaftssystem, das unser Einkommen und unseren Wohlstand wachsen lässt, erleben wir deshalb gesund und attraktiv.

Small is beautiful, ist der Gegenslogan von E.F.Schumacher gegen diese Einprägung (der Untertitel seines gleichnamigen Buches aus dem Jahr 1973 lautet: A Study of Economics as if People Mattered frei übersetzt: Eine Studie über die Wirtschaft, wenn man so tut, als ob in ihr die Menschen eine Rolle spielten.) Wir brauchen diesen Slogan dringend, weil die Wachstumsmetapher nur begrenzt für den Weiterbestand unserer Gesellschaft tauglich ist.

Relativ jung in der Geschichte sind die Phänomene des ungesunden Wachsen, z.B. des Bauches aufgrund von Überernährung, der Institutionen aufgrund der Überbürokratisierung, des Ressourcenverbrauches aufgrund des Überkonsums. Dafür hat sich der Ausdruck der Gesundschrumpfung eingebürgert. Wir wurden 1972 auf die „Grenzen des Wachstums“ aufmerksam gemacht, ein neues Konzept, das der ungehemmten Weiterentwicklung den Spiegel vorhielt. Wachstum geht nicht einfach weiter und weiter, sondern endet spätestens dort, wo es keine Rohstoffe mehr gibt, wo also die Quellen, die uns die Natur zur Verfügung stellt, erschöpft sind.

Trotz dieser Gegenströmungen, trotz des statistisch seit 50 Jahren feststellbaren kontinuierlichen Rückgangs der Wachstumsraten in den hochentwickelten Volkswirtschaften (wobei die krisenhaften Einbrüche weggerechnet werden) hängen wir immer noch am Konzept des quantitativen Wirtschaftswachstums fest: Die Wirtschaft wächst, wenn viele Waffen produziert und viele Medikamente geschluckt werden, und wenn viele Autounfälle und Naturkatastrophen passieren. Die Wirtschaft wächst nicht, wenn die Menschen keine Waffen und Medikamente brauchen oder Unfälle produzieren und wenn Katastrophen ausbleiben.

Wenn es uns gelingt, uns durch bewussteres Konsumieren von der Idee des quantitativen Wachstums abzukoppeln, bedeutet das keinen Stillstand oder Rückfall. Wachstum wird es immer geben, weil Menschen aus sich heraus kreativ sein und Neues entwickeln wollen. Doch sollte sich das Wachstum nicht am Ausmaß an Ressourcenvernichtung bemessen, sondern seinen Maßstab im Zuwachs an Qualität finden – der nur ungenau in Zahlen übersetzt werden kann.

Qualitatives Wachstum besteht darin, dass die Qualität des Lebens der Menschen ansteigt. Das kann sich daran zeigen, dass sie weniger Autofahren und mehr zu Fuß gehen, dass sie sich gesünder ernähren und weniger krank werden, und damit das materielle Wachstum reduzieren. Es kann sich aber auch daran zeigen, dass mehr Dienstleistungen im Wohlfühlbereich konsumiert werden, wie Massagen oder Duftaromen, Saunabesuche oder Fitnessstudios, dass die Menschen die emotionalen Lasten, die sie an der Lebenszufriedenheit hindern, in der Therapie aufarbeiten, dass sie Kunst konsumieren und dabei mehr von ihrer Innerlichkeit entdecken usw., womit auch das quantitative Wachstum stimuliert wird. Und es kann sein, dass mehr Bereiche entstehen, die sich weder so noch so auf das Wachstum auswirken.

Wir brauchen also qualititatives Wachstum, weil wir mehr Qualität in unserem Leben wollen und weil wir gern dazu beitragen: Alles, was wir mit Liebe und Leidenschaft machen, steigert die Lebensfreude und Zufriedenheit. Wir können als Menschen gar nicht anders, als zu wachsen – in dieser Qualität. Die quantitativen Bestrebungen dagegen können wir ohne Bedenken zurückfahren – je mehr wir uns in ihnen verlieren, desto größeren Schaden erleidet unsere Glücksfähigkeit.

Würde man sich selbst und unsere Zeitgenossen befragen, ob sie qualitatives oder quantitatives Wachstum in ihrem Leben bevorzugen, würden wohl die meisten sagen, dass ihnen die Qualität ihres Lebens wichtiger ist als die Menge an Besitztümern (außer jenen, die sagen, dass sie möglichst viele Güter wollen – und wofür? Dass sie eine besonders üppige Qualität in ihrem Leben haben.) Die peinlichere Frage wäre dann wohl, welche Handlungen im eigenen Leben dieser Steigerung der Qualität dienen und welche sie eher mindern. Da käme vielleicht raus, dass viele Aktivitäten gar keinen Bezug zur Verbesserung des Lebens haben, sondern in sich wenig Qualität aufweisen, aber sich aus der Hoffnung auf eine spätere Qualitätssteigerung motivieren. 

Wir tun vieles, nicht weil es uns gut tut, sondern weil wir hoffen, dass, wenn wir es tun, es uns ein andermal gut gehen wird. Wir verbrauchen damit die Ressourcen des Moments (der immer mehr für uns auf Lager hat, als wir wahrnehmen können, z.B. den einfachen Genuss eines tiefen Atemzugs), die mit ihm verschwunden sind, ähnlich wie das quantitative Wachstum die Rohstoffe unwiederbringlich aufbraucht. Nur: der nächste Moment bietet sich wieder an mit all seinen Möglichkeiten, und es liegt an uns, sie zu ergreifen oder sie zu übersehen, weil wir auf ein verheißenes Glück irgendwo irgendwann fixiert sind.

Vgl.: Wirtschaft ohne Gier, Das System der Gier, Kultur der Gier