Donnerstag, 22. März 2018

Die Täter-Opfer-Umkehr als Wurzel für Schuldkomplexe

Kinder sorgen sich um das Wohl ihrer Eltern, von ganz früh an. Wir wissen, dass Föten ihrer Mutter Stammzellen zur Verfügung stellen, damit sie Mängel und Schäden im eigenen Organismus beheben kann. Dieser Zusammenhang, der in der Pränatalpsychologie als „umgekehrter Nabelschnuraffekt“ bekannt ist, äußert sich nach der Geburt darin, dass Kinder grundsätzlich dazu neigen, die Schuld bei sich zu suchen, wenn es auf der emotionalen Ebene zu Störungen zwischen ihnen und den Eltern kommt. Sie gehen davon aus, dass die Eltern immer im Recht sind, weil sie so groß, erwachsen und kompetent sind. Sie rechnen nicht damit, dass Eltern regredieren können, dass Erwachsene zu hilflosen Kindern werden können, die von anderen die Rettung aus ihrem Leid erhoffen.

Besonders, wenn die Eltern durch ihr aktuelles Leben, zu dem auch die Kinder gehören, überfordert sind, reagieren die Kinder mit dem Wunsch, es ihnen leichter zu machen. Sie schränken sich in ihren Bedürfnissen und Ansprüchen ein und schrauben ihre Spontaneität und Lebendigkeit zurück, um nicht zur Last zu fallen. Statt sich aus den eigenen inneren Antrieben heraus zu entwickeln und die eigenen Anlagen zu entfalten, passen sie sich an die Erwartungen der Eltern an. Die Persönlichkeit, die gerade beginnt an Konturen und Profil zu gewinnen, verbiegt sich, um in die Bedürfnisstrukturen der Eltern hineinzupassen.

Geburtsrechte und Grundbedürfnisse


Ursprünglich sind es die Eltern, die aus ihrer eigenen Unfähigkeit und aus der Beschränktheit ihrer Möglichkeiten den Kindern schuldig bleiben, was zu ihrem Geburtsrecht gehört: Dass ihre Grundbedürfnisse bedingungslos und möglichst konsistent erfüllt werden. Es geht nicht um eine lückenlose und bis ins letzte feinfühlige Versorgung und Zuwendung, sondern um eine verantwortungsvolle Einstellung, aus der heraus die Eltern wissen, dass es ihre Pflicht ist, für ihre Kinder und deren Bedürfnisse da zu sein und zu sorgen, so gut sie vermögen. So gut wie es eben möglich ist Eltern zu sein, kann immer wieder an Grenzen der Belastbarkeit heranführen, die auch respektiert werden müssen. Wenn dabei das Band der Liebe, das auch Belastungsgrenzen und kurzfristiges Scheitern überdauert, erhalten bleibt, lernen Kinder, dass Liebe wichtiger ist als Perfektion, und dass Schwächen zum Menschsein dazugehören.

Das Erleben der Grenzen der eigenen Möglichkeiten sollte getragen sein vom Verständnis, dass Kinder Kinder sind, also für ihre Gefühle und deren Regulation keine Verantwortung übernehmen können, bzw. die Übernahme dieser Verantwortung erst schrittweise im eigenen Tempo erlernen. Die Zuständigkeit für den Versorgungsmangel bleibt damit bei den Eltern, sie stehen grundsätzlich immer in der Schuld, und nie das Kind.

Wo dieses Gefühl für die eigene Verantwortung bei den Eltern aus welchen Gründen auch immer abhanden gekommen ist (meist spiegeln sich in solchen Schwächen die Mängel aus der eigenen Kindheit der Eltern), ohne dass die Eltern es merken, kann es leicht zu einer Rollenumkehr kommen, indem die Kinder die Verantwortung für ihre Eltern übernehmen und sich selber damit überlasten und überanstrengen. Sie, die eigentlich das Opfer elterlicher Vernachlässigung sind, sehen ihre Eltern als Opfer ihrer übermäßigen kindlichen Bedürftigkeit, werden also in der eigenen Fantasie zu Tätern, die nun in der Pflicht stehen, ihre Schuld den Rest des Lebens abzuarbeiten. Oft entwickeln sich aus solchen verdrehten Abhängigkeitsbeziehungen lebenslange, von Schuldgefühlen geprägte Programme, den Eltern zu wenig zu geben, zu wenig für sie da zu sein und zu sorgen. Die Opfer sind zu schuldigen Tätern geworden, die die eigenen Eltern nur mehr als Opfer sehen können, denen jede Hilfe und Unterstützung gebührt und die dennoch nie genug ist.

Manche Eltern fügten sich völlig in die Rolle, die sie selber – nicht aus Bosheit, sondern aus selbst letztlich unverschuldeter Unfähigkeit – aufgebaut haben, indem sie ihren Kindern die Elternrolle über sie eingeräumt haben und zugelassen haben, dass die Kleinen sich mit den Aufgaben der Großen überlasteten. Sie gaben den Kindern die Botschaft – ausdrücklich oder indirekt –, dass sie das eigene Leben schwer oder unerträglich machten, sodass diese infolgedessen nicht anders konnten, als möglichst schnell Elternkompetenzen für ihre kindlichen Eltern zu entwickeln. Nicht selten führt das dazu, dass die Eltern in ihrer Opferrolle aufgehen und ihre erlernte Hilflosigkeit in körperliche Symptome übersetzen. Dann erst recht fühlen sich die Kinder gefordert, die Verantwortung für die Alten zu übernehmen. Das wird sie daran hindern, die Verantwortung fürs eigene Leben und für eine eigene Familie zu übernehmen.

Kinder in der Elternrolle entwickeln dazu noch eine ambivalente narzisstische Selbstüberschätzung. Sie schlüpfen gewissermaßen in übergroße Kleider und müssen ihr Inneres der Rolle anpassen. Sie können auch nicht anders, als sich als etwas Besonderes zu fühlen, weil sie Kompetenzen übernehmen, die nicht ihrem Alter entsprechen. Auf der Strecke bleiben viele kindliche Bedürfnisse. Statt dessen entwickelt sich ein ambivalentes Selbstbild: auf der einen Seite die Erfahrung als kleiner Erwachsener, der die Eltern stützen kann, auf der anderen Seite das Gefühl, es nie gut genug zu schaffen, weil der Anspruch nur zu einer riesengroßen Überforderung führen kann. Schuldgefühle werden zu einer lebenslangen Begleitmusik für ein belastetes Leben und erinnern daran, der angemaßten, aber aus der Not übernommenen Rolle nie voll gerecht werden zu können. Es bleibt immer etwas offen, es bleibt immer eine ungetilgte Schuld.

Verantwortung statt Schuld


Wie schon in den vorigen Blogartikeln zum Thema Täter-Opfer-Umkehr erläutert, liegt der Schlüssel, um aus der Falle der Anmaßung und Schuld zu entrinnen, in der Übernahme der Verantwortung in der rechten Weise, nämlich für sich selbst und für die Aufgaben im eigenen Leben. Dort, wo die Verantwortung am richtigen Platz ist, gibt es keine Täter und keine Opfer und keine fliegenden Rollenwechsel.

Die Verantwortungsübernahme sollte natürlich dort beginnen, wo die ursprüngliche Täterschaft geschieht: Bei den Eltern, die ihre Aufgaben auf die Kinder überwälzen. Wie erwähnt, kommt es dazu aus Unbewusstheit, und die Verantwortung kann erst dann übernommen werden, wenn die bewusste Einsicht möglich ist. Sich einzugestehen, selber als Kind zu wenig bekommen zu haben, sodass die eigene Elternrolle nur mangelhaft eingenommen werden konnte, ist der erste Schritt. Diese Opferposition kann dann nur durch die Übernahme von Verantwortung aufgelöst werden, und mit dieser Einsicht wird deutlich, wie in der eigenen Elternschaft die Täter-Opfer-Dynamik auf Kosten der Kinder wirksam wurde.

Sobald den Eltern dieser Schritt gelingt, werden die Kinder entlastet, und sie können in ihre Position zurückfinden. Sie können nach vorne blicken, mit einer Stütze im Rücken, statt sich dauernd zu ihren unmittelbaren Vorfahren umdrehen zu müssen, ob da nicht was zu tun ist. Sie erkennen ihre wirklichen Aufgaben im Leben und spüren die Kraft, die entsteht, wenn sie sich diesen Herausforderungen mit Verantwortung widmen.

Das Übernehmen von Verantwortung ist der Schritt aus jeder Opferrolle und aus jeder angemaßten Täterposition. Er fühlt sich deshalb so unmöglich oder schwer an, weil die Täter-Opfer-Dynamik, die oft über lange Zeit wirksam war, zur Gewohnheit wurde und für Sicherheit sorgte. Tatsächlich aber kostet das Täter-Opfer-Schwanken in jeder Rolle viel Kraft und Energie. Die bewusste Übernahme der eigenen Verantwortung, die mit dem Eingeständnis der Fehler und Schwächen einhergeht, stärkt hingegen immens, sobald sie gelingt und voll inkorporiert werden kann.

Rollen in der Täter-Opfer-Dynamik werden nur übernommen, wenn es keine andere Wahl gibt. Sie verfestigen sich dann leicht zu starren emotionalen Gewohnheiten. Zum Erwachsenwerden gehört es, die Wahlmöglichkeit zurückzugewinnen. An die Stelle des Schicksals tritt die Freiheit, an die Stelle der Schuld die Verantwortung, an die Stelle der Ohnmacht die frei fließende Lebenkraft.


Zum Weiterlesen:
Die innere Geschichte der Täter-Opfer-Umkehr
Rechtsextremismus und Täter-Opfer-Umkehr

Freitag, 16. März 2018

Unsicherheiten in sicheren Bindungen

Die Bindungstheorie gehört seit dreißig Jahren zum Grundbestandteil der Beziehungspsychologie und bildet ein wichtiges Hintergrundkonzept für die Psychotherapie. In diesem Modell werden drei unsichere Bindungstypen von einem sicheren unterschieden, dem nach verschiedenen Forschungen ca. die Hälfte der Mutter-Kind-Bindungen zugeordnet werden. In diesem Artikel geht es darum, das Bild eines einheitlichen Typs von sicherer Bindung zu differenzieren.

Eine sichere Bindung ist gekennzeichnet durch die Fähigkeit, die eigenen Bedürfnisse nach Nähe und nach Distanz in einem fließenden Gleichgewicht halten zu können. Weder das Alleinesein noch das Zusammensein lösen Ängste oder Bedürfnisspannungen aus. Trennungen werden nicht als existenziell bedrohliches Verlassenwerden erlebt, und das Zusammensein steht nicht im Zwang, eine unlösbare Verschmelzung herzustellen.

Elemente von Unsicherheit


Allerdings gibt es auch sichere Bindungen, die Elemente von Unsicherheit beinhalten. Vermutlich ist es bei allen sicheren Bindungen so, dass solche Elemente bei einem oder bei beiden Partnern vorhanden sind, denn es wird auch kaum Eltern geben, die ihren Kindern eine vollständig sichere Bindung auf allen Ebenen anbieten können. 

Eine interessante Variante zeigt sich in folgendem Rahmen: Die Sicherheit der Bindung wird von den Eltern als mentales und emotionales Konstrukt genutzt, um die eigene Bindungsunsicherheit verdrängen zu können. Demonstrativ wird die Sicherheit einer Bindung oder eines gesamten familialen Systems hochgehalten. Oft ist dies der Fall bei Beziehungen, die unter großen äußeren Unsicherheiten zustande kommen und deshalb einen Hort von Sicherheit bilden sollen, z.B. während oder nach kriegerischen Auseinandersetzungen oder wirtschaftlichen Krisen in einem Land. Die Menschen flüchten aus der Unerträglichkeit der Wirklichkeit und bauen sich geschützte Nester, in denen sich das Leben regenerieren kann. 

Der Preis dafür liegt allerdings in der Aufgabe von individueller Freiheit zugunsten der stabilen Sicherheit. Freiheit wird als Bedrohung dieser Stabilität erlebt; die Menschen wollen, dass die anderen berechenbar sind und verhalten sich deshalb auch selber berechenbar. Um dieses an sich labile Geflecht an verlässlichen Erwartungen aufrecht zu erhalten, bedarf es viel subtilen Drucks und verdeckter Manipulation. 

Die Mitglieder dieser Systeme werden nicht in ihrer gesamten Individualität anerkannt und vor Liebesverlust abgesichert, sondern nur insoweit sie sich an die vorgegebenen Erwartungen anpassen. Die Eltern fordern von den Kindern, ihnen die Sicherheit zu geben, die sie selber nicht hatten, selbstverständlich auf einer unbewussten Ebene, und die Kinder fügen sich in diese Rolle, weil sie keine Alternative haben und verzichten auf eigensinnige Strebungen.

Tribale Wurzeln


Diese Struktur des Verzichts auf die Individualität zugunsten des Gesamtsystems ist aus der tribalen Gesellschaftsorganisation bekannt. Die Stammesgemeinschaften in der frühen Geschichte der Menschheit konnten nur ein kleines Maß an Individualität zulassen, weil der Rahmen eng gestrickt war und tradiertes Wissen heilig gehalten werden musste. Im Lauf der Geschichte haben sich neue Entwicklungen ergeben, die diesen engen Rahmen gesprengt und dem Individuum mehr Raum zur Entfaltung zugestanden haben. Dennoch ist die Erinnerung an die Geborgenheit dieser frühen Phase nie verloren gegangen und kann deshalb leicht durch verschiedenartige Ideologien instrumentalisiert werden.

Ideologische Scheinsicherheiten


Für unsere Geschichte in Mitteleuropa interessant ist der Zusammenhang mit der Scheinsicherheit, die der Nationalsozialismus und andere faschistische Bewegungen vor 90 Jahren versprochen haben, die in einer berechenbaren völkischen Gemeinschaft bestehen sollte. Voraussetzung dafür war die ethnische „Reinheit“, die Unvermischtheit mit anderem „Blut“, wodurch sichergestellt sein sollte, dass es keine Abweichungen von einem unbewusst formulierten völkischen Konsens gäbe. Von daher ist auch die brutale Rabiatheit zu verstehen, mit der man alles „rassisch“ Fremde ausrotten zu müssen vermeinte. Bedroht war in Wirklichkeit nicht die „Reinheit der Rasse“, sondern die Sicherheit eines Netzes von Vorannahmen und Vorurteilen, das die innere Sicherheit garantieren sollte. Alles Fremde wurde erfolgreich mit Unberechenbarkeit und damit mit Bedrohlichkeit gleichgesetzt. Die Wirksamkeit dieser Ideologie ist ja bis heute ungebrochen und zieht viele Menschen in ihren Bann (vgl. den Betrag zum Rechtsextremismus auf dieser Seite).

Subtile Abhängigkeiten


Ebensowenig wie heute (außerhalb der Köpfe von nationalistischen Populisten) ein funktionierendes tribales Gemeinwesen errichtet werden kann, gibt es absolute Sicherheiten in den familialen Bindungen. Unter dem Deckmantel von Liebe und Gemeinschaft werden häufig subtile Abhängigkeiten aufgebaut, vom Unbewussten der Eltern aus unbefriedigten Bindungsbedürfnissen der Kindheit gespeist. Die Seele will sich von den eigenen Kindern zurückholen, was in ihr unerfüllt geblieben ist. Die sichere Bindung, die die Eltern anbieten, dient dem Zweck, die Liebe zu bekommen, die anfangs gefehlt hat. Die Kinder decken dieses Defizit ab und leiden selber an einem nur unterschwellig wahrnehmbaren Liebesmangel.

Die Ablösungskonflikte in der Pubertät können allerdings dann besonders heftig ausfallen. Für die Eltern stehen die Sicherheiten auf dem Spiel, die sie sich über die Kinder aufgebaut haben und erschweren das Loslassen, für die Kinder geht es um ihr eigenes Leben, ihre Seele will sich das Geburtsrecht auf Anerkennung des eigenen Selbst zurückholen.

Jede Seele will frei werden. Jugendliche, die aus zu engen Vorgaben ihrer Familie ausbrechen, erweisen sich und ihren Eltern den Dienst, die Konzepte von Liebe zu überprüfen und neu zu definieren. Solange Liebe mit Abhängigkeiten vermischt ist, gibt es innere Kräfte, die in Konflikten zum Ausdruck kommen. Gelingt es, diese Spannungen konstruktiv aufzulösen, können abhängige Bindungen in frei fließende Beziehungen umgewandelt werden. Dann zeigt sich als tiefere Weisheit, dass Sicherheit nur in der inneren Freiheit gefunden werden kann.

Zum Weiterlesen:
Übersicht über die Bindungstypen
Rechtsextremismus und die Täter-Opfer-Umkehr
Am Anfang brauchen wir ein Willkommen
Empathie
Ist der Mensch von Natur aus egoistisch oder sozial

Sonntag, 11. März 2018

Die innere Geschichte der Täter-Opfer-Dynamik

Die Dynamik der Täter-Opfer-Umkehr ist deshalb so gebräuchlich in der Arena der politischen Konkurrenz, weil wir sie alle aus vielen verschiedenen innerpsychischen Abläufen kennen, die sich für diesen Mechanismus anbieten. Es hängt immer von äußeren Umständen und inneren Vorgeschichten ab, ob sich die Dynamik entwickelt oder ob nur einfach das geschieht, was von der Natur aus geschehen soll. Die Dynamik entwickelt sich nur, wenn sie in den äußeren Bedingungen verankert ist. Sie wird gleichsam von außen aufgesogen, als eine Möglichkeit, unter ungünstigen Umständen das Bestmögliche zu schaffen. Sie bewirkt, dass Abläufe, die an sich gar nicht dramatisch sein müssten, mit emotionaler Ladung versehen bis auf Weiteres verstörende und verstörte Einflüsse ausüben können.


Pränatale Prägungen


Bestimmte Entwicklungsereignisse während den frühen Phasen unseres Lebens bieten sich als solche Prägungspunkte an, bei denen die Figur der Umkehr als Bewältigungsmuster von schwierigen Situationen eingeübt werden kann. Hier ein Beispiel aus der ganz frühen pränatalen Zeit: Die Eizelle kann die Samenzelle als Aggressor erleben, als Eindringling, während der „Täter“, die Samenzelle, zum Opfer wird, indem sie ihren Schwanz mit allen Mitochondrien beim Eindringen verliert und sich ihr Kopf im Inneren der Eizelle auflöst und dort alles außer den Chromosomen absorbiert wird. Zwar handelt es sich bei diesem Geschehen um einen natürlichen Ablauf, der für die Fortpflanzung in vielen Bereichen der Natur notwendig ist und der an und für sich frei von jeder Dramatik ist. Diese entsteht nur, wenn die Ei- und die Samenzelle traumatische Prägungen aus der eigenen Vorgeschichte mitbringen oder wenn die Umstände der Zeugung mit Dramatik einhergeht, die eine Täter-Opfer-Struktur beinhaltet, z.B. bei erzwungenem Sex.

Das nächste Beispiel bezieht sich auf den Vorgang der Einnistung. Das werdende Leben, das einen Platz an der Gebärmutterwand sucht, kann diese als feindlich erleben, weil sich das mütterliche Gewebe mit einer Immunreaktion gegen die fremde Erbsubstanz zur Wehr setzen kann. Diese Reaktion kann dadurch verstärkt werden, dass die Mutter die Schwangerschaft ablehnt oder starke Ängste entwickelt. In weiterer Folge kann sich das Baby auch als Opfer fühlen, wenn über die Nabelschnur schädliche Stoffe kommen, vor denen es sich nicht schützen kann, z.B. Alkohol oder Nikotin. Auch emotionale Dramen im Leben der Mutter, die das Baby mitbekommt, können die Haltung prägen, äußeren Einflüssen hilflos ausgeliefert zu sein.

Bei der Geburt initiiert der Fötus den Geburtsvorgang, der dann gegen den Widerstand des Muttermundes und des Gebärkanals führt und die Mutter in Bedrängnis bringen kann. Das Baby braucht aggressive Kräfte, um die Engstellen beim Geborenwerden zu überwinden, es braucht also die Bereitschaft zur Täterschaft. Aber auch die Mutter kann Aggressionen spüren, z.B. wenn die Geburt sehr schmerzhaft verläuft und sehr lange dauert. Wiederum kann sich das Baby als Opfer fühlen, wenn der Druck durch die Wehen stark ist und dennoch keine Weiterentwicklung stattfindet, insbesondere aber auch, wenn ein Kaiserschnitt vorgenommen oder mit der Saugglocke gearbeitet wird. Die Mutter, aber auch das Baby kann sich als Opfer der Geburtshelfer fühlen, wenn diese unachtsam oder gewaltsam vorgehen.


Kinder als Opfer und Täter?


Das Schreien eines Kleinkindes kann die Eltern zur Verzweiflung treiben oder zornig machen; je nachdem kann sich eine Täter- oder eine Opferfixierung beim Kind ausbilden. Wird die emotionale Innenwelt des Kindes durch die Eltern nicht adäquat gespiegelt und beantwortet, kann das Kind kein ausgeglichenes Selbstgefühl entwickeln und wird im späteren Leben die soziale Welt durch die Täter-Opfer-Brille erleben.

Im Lauf der Kindheit gibt es viele andere Gelegenheiten, in denen sich eine Opfer-Täter-Dynamik ausbilden kann. Ein Beispiel sind Geschwisterrivalitäten, die allein daraus entstehen können, dass ein jüngeres Geschwister den älteren Zuwendung und Aufmerksamkeit wegnimmt oder die emotionale Nahrung seitens der Eltern ungleich verteilt wird. 

Wenn Grundbedürfnisse missachtet oder geringgeschätzt werden und jeder Protest nichts hilft, kann es zur Ausprägung einer Opferrolle kommen, die dann später im Leben in eine Täterrolle umgemünzt werden kann. Eine Mutter, die sich als Opfer ihrer Kinder fühlt (indem sie sich für sie aufopfert), macht die Kinder zu Tätern, die diese aufgezwungene Rolle nur mit einem Schuldgefühl ausgleichen können.

Auch bei der Willensentwicklung, die im 2. Lebensjahr verstärkt einsetzt, öffnet sich schnell die Scheide zwischen Opfer- und Täterrolle, wenn die Erziehungspersonen nicht altersgerecht auf diese Herausforderungen eingehen können. So geraten manche Kinder in die aktive Täterrolle, indem sie  - aus Verzweiflung – den Eltern ihren Willen aufdrängen und über die Maßen dominieren wollen, weil sich diese willfährig unterwerfen. Andererseits sehen viele Eltern nur die Möglichkeit, das Expansionsbestreben ihres Kindes mit rigider Grenzsetzung zu beantworten, wodurch dieses in eine Opferrolle gedrängt wird.

All dies kann sich im Lauf einer „durchschnittlichen“ Kindheit mit „normalen“ Eltern abspielen. Erst recht wenn Kinder zu Opfern von Missbrauch und Gewalt werden, prägt sich die Opferrolle tief in die Psyche ein und fordert später die Umkehr in die Rolle des Täters. Viele, wenn nicht alle erwachsene Gewalttäter waren in ihrer Kindheit Opfer, sodass die erwachsene Aggression als innerpsychischer Ausgleich für erlittenes Leid, als Rache für Demütigung verstanden werden kann. (Verstehen heißt bekanntlich nicht, asoziales Verhalten zu entschuldigen.)

Kinder nehmen nie freiwillig eine der Rollen an, sondern prägen sie ein, wenn es keine andere Möglichkeit gibt, um das eigene Überleben zu sichern und zu genügend emotionalen Ressourcen zu kommen. Kindsein heißt, noch nicht in der Lage zu sein, Verantwortung für die eigenen Gefühlsabläufe übernehmen zu können. Wenn Kinder eine Täter- oder Opferrolle einnehmen, tun sie dies unbewusst, um so ihr emotionales Überleben zu sichern, und aus Mangel an einer Alternative. 


Verantwortung für eine demokratische Gesellschaft 


Erwachsene hingegen verfügen immer über Alternativen und können prinzipiell Verantwortung übernehmen. Sie sind also der Täter-Opfer-Dynamik nicht hilflos ausgeliefert. Wenn sie ihr unterliegen, regredieren sie in die Muster und Gefühlsabläufe ihrer Kindheit. Sie wollen die Wirklichkeit mit den emotionalen Reaktionsmustern von Kleinkindern verstehen.

Oder, wie ich am Beispiel des Rechtsextremismus zu zeigen versucht habe: Es wird diese Dynamik im politischen Marketing bewusst für eigene ideologische Ziele eingesetzt. Dieser Einsatz von frühkindlich geprägten Mechanismen für manipulative Zwecke muss mit besonderer Wachsamkeit verfolgt werden. Denn wir können als demokratische Gesellschaft nicht wollen, dass manipulativ die Schwächen ihrer auf vielen Ebenen traumatisierten Mitglieder für partikulare Zwecke von politischen Parteien – welcher Couleur auch immer – missbraucht werden. Dazu bedarf es einer geschärften Sensibilität und Achtsamkeit im öffentlichen Diskurs. 

Wir können nur als Erwachsene mit einer ausgeprägten und ausgebildeten Kompetenz im Gefühlsmanagement und im Gebrauch der Vernunft eine funktionierende demokratische Gesellschaft bilden. Regressive Bedürfnisse und Zwänge zum aggressiven Ausagieren, manipulative Machtausübung und narzisstische Kränkungen gehör(t)en eigentlich in die Therapie.

Zum Weiterlesen:
Rechtsextremismus und die Täter-Opfer-Umkehr
Die Täter als Opfer

Freitag, 9. März 2018

Rechtsextremismus und die Täter-Opfer-Umkehr

Geschichtsverzerrung von rechts


Warum nutzen gerade rechtsextrem eingestellte Menschen die Figur der Täter-Opfer-Umkehr so gerne und so häufig? Hat das etwas mit der kritischen historischen Phase zu tun, die von solchen Kreisen immer wieder heraufbeschworen und uminterpretiert wird? 

Selten sind sich Geschichtsforscher so einig über ein Thema als bei der Frage, wer die Verantwortung am Zweiten Weltkrieg trägt. Es ist Nazi-Deutschland und seine Führung. Dennoch gibt es gerade um diese Zeit und ihre Themen Unmengen von Geschichtsverzerrungen und Tatsachenverleugnungen. Die Emotionen, mit denen die dazugehörigen Themen von manchen Kreisen und Personen ins Spiel gebracht und von anderen mit Entsetzen und Kritik abgewehrt werden, hängt damit zusammen, dass viele Menschen die Traumatisierungen durch die schrecklichen Ereignisse nicht verarbeitet haben. Damit sind nicht nur die Personen gemeint, die den Krieg aktiv miterlebt haben, sondern auch die Nachgeborenen, die die unverarbeiteten Traumen übernommen haben. So ist es auch verständlich, warum Menschen, die fünfzig Jahre nach dem Ende der Nazi-Diktatur geboren sind, heute noch deren Gräuel verharmlosen und das brutale Regime verherrlichen. Das Unbewusste wirkt weiter und führt dann bei manchen zu aggressiven und bizarren Äußerungen, ohne dass unmittelbar nachvollziehbar ist, wo der Ursprung zu finden ist. Die Beharrlichkeit, mit der die Themen immer wieder auftauchen, hängt mit einem Wiederholungszwang zusammen. 

Die Großmachtideen der Nationalsozialisten, die viele in ihren Bann gezogen haben, fütterten von Anfang an die narzisstischen Neigungen, die eigene Kleinheit durch nationale Größe auszugleichen. Als Folge erlebten viele den verlorenen Krieg als persönliche Niederlage, als Kränkung der narzisstischen Identifikation mit einer äußeren Größe, und diese Kränkung wirkt weiter, auch und gerade bei denen, die nicht dabei waren. Für die mit solchen Vorstellungen infizierten Österreicher handelt es sich dabei um eine doppelte Kränkung: Nicht nur der Krieg geht verloren, sondern auch die Staatskonstruktion, die ihn geführt hat und mit der sich viele identifiziert hatten: Großdeutschland – ein Volk – ein Reich – ein Führer. Übrig bleibt das kleine und machtlose Restösterreich, die Wiederholung einer traumatischen kollektiven Erfahrung von 1918 nach dem Zusammenbruch der Donaumonarchie, also eine Retraumatisierung für alle, die in den 20 Jahren zwischen den Weltkriegen nicht mit einem eigenständigen österreichischen Staatswesen zurecht kommen konnten – auch hier wieder eine narzisstische Verwundung, die das eigene Schicksal an die Größe oder Kleinheit eines Staatsgebildes heftet.


Historische Täter-Opfer-Umkehr


Was nun die Täter-Opfer-Umkehr anbetrifft, kann zunächst festgehalten werden: Der 2. Weltkrieg wurde schon aus einem populistisch ausgeschlachteten Opferbewusstsein heraus begonnen: Die vom Vertrag von Versailles geknechtete und gedemütigte deutsche Nation muss ihre natürliche Größe und Würde wiederherstellen, die von der jüdischen „Rasse“ bedrohte deutsche Nation muss sich schützen, die von den Westmächten, den slawischen Ostländern sowie von den russischen Bolschewiken bedrohte deutsche Nation muss sich wehren usw. Also wurde ein Krieg entfesselt, und die Täterschaft wurde propagandistisch verschleiert durch die Rede von einer erfundenen Notwehr: ein vielfach verletztes Opfer setzt sich endlich zur Wehr und lässt sich nicht mehr alles gefallen, sondern schießt jetzt zurück.

Der Kriegsausbruch 1939 selber wird eingeleitet von einem gruselig inszenierten Täter-Opfer-Drama: Für die Zuschauer soll es so ausschauen, dass polnische Soldaten einen deutschen Grenzposten angreifen und deutsche Soldaten töten. Tatsächlich waren die Angreifer deutsche SS-Männer in polnischen Uniformen und die ermordeten Opfer KZ-Insassen. Diese Inszenierung wurde dann als Anlass für den Angriff auf Polen verwendet. Die Täter verschleierten ihre Täterschaft, indem sie sich als Opfer darstellten, was ihre darauf folgende Aggression rechtfertigen sollte, und die eigentlichen Opfer verschwanden in der Verdrängung.

Der Krieg wird nach unermesslichen Zerstörungen verloren, das Opferbewusstsein wird inmitten von Trümmern und Hungersnöten wieder hergestellt, die narzisstische Verwundung stößt schmerzlich wieder hoch. Folglich ist bei Kriegsende bei vielen nicht von einer Befreiung von einer Diktatur die Rede, sondern von einem „Umbruch“. Die Alliierten kommen und besetzen das Land. Die Täter sind wieder die Opfer und hoffen auf Mitleid, um zu Kräften zu kommen und sich in irgendeiner Weise für die Schmach zu rächen. 

Zugleich entstehen eine Reihe von Mythen (=narzisstische Wiederaufrichtung der fantasierten Größe im Widerspruch zur Realität), um die nächste Täter-Opfer-Umkehrung vorzubereiten. Um ein paar Mythen zu zitieren: „Hitler hat den Krieg überlebt.“ „Hitler hat von allen Verbrechen nichts gewusst.“ „Ausschwitz hat es nicht gegeben.“ „Kriegsverbrechen haben die Alliierten verübt, nicht die Deutschen.“ „Der Krieg wurde durch Verrat verloren.“ „Wenn es schon Verbrechen gegeben hat, dann war das die SS und nicht die Wehrmacht.“ … 

Offensichtlich folgt auf jede Täterschaft die nächste Opferposition. So verläuft die Geschichte, wenn der unbewusst agierende Narzissmus jede Übernahme von Verantwortung unterminiert. Die Identifikation mit der Nation verleitet zur Täter-Opfer-Umkehr wie zu einer unausweichlichen Falle. Eine Kränkung der Nation darf nicht vorkommen, weil sie den eigenen Selbstwert erschüttert. Jede Kränkung muss mit einer präventiven oder rächenden Täterschaft ausgeglichen werden. Die anonymen Medien bieten sich als Foren für diese Kämpfe an, dort können Hassbotschaften verbreitet werden. Sobald die Hetzer angeklagt werden, schlüpft der Täter in die Opferrolle, und die gleichen Medien, die vorher zur Tat genutzt wurden, werden jetzt als Täter verteufelt. 

Die Eskalation entsteht schnell: Das Böse wird zunächst bekämpft, und wenn es sich wehrt, zeigt es die nächste Stufe der Bosheit. Deshalb muss es neuerlich bekämpft werden, und so eskaliert die Gewalt, angefeuert vom Mechanismus der Täter-Opfer-Umkehr. Die Täter bleiben immer mit ihren Opfern verbunden, die Opfer mit den Tätern. Solange die narzisstische Kränkung nicht verarbeitet ist, geht dieser Prozess wie eine ewige Schaukel hinauf und hinunter, in immer wieder neuen Variationen des immer gleichen Themas.  


Das Ende der Opferrolle 


Was alleine aus dem ewigen Kreislauf heraushilft, ist die Übernahme der Verantwortung für jede Täterschaft und auch für jede Opferrolle. Täter verursachen Schaden und Leiden. Dafür die Verantwortung zu übernehmen, bedeutet, ein Verständnis für die angerichtete Zerstörung und die davon betroffenen Menschen zu entwickeln und auf dieser Einsicht die Absicht aufzubauen, Bedauern zuzulassen und das eigene Verhalten zu verändern, also aus der Täterrolle auszusteigen. Verantwortung für die Opferrolle übernehmen heißt zu erkennen, dass es Alternativen zur Ohnmacht und Abhängigkeit gibt. Wenn tatsächliche Abhängigkeiten bestehen, wie bei Kindern gegenüber den Eltern, gibt es diese Verantwortung nicht, wohl aber, wenn die Opferrolle über die Kindheit hinaus getragen wird. 


Kollektive Verantwortungsübernahme


Kollektive Verantwortungsübernahme bedeutet, dass der Staat, die Nation, die Gesellschaft in Gestalt von wichtigen Repräsentanten eingesteht, was an Verbrechen begangen wurde und worin der eigene Beitrag für Kriege, Völkermorde und Ausbeutungssysteme liegt. Mythen, die die eigene Schuld verharmlosen, müssen aufgeklärt werden, und alle Versuche der Beschönigung oder Uminterpretation im Sinn der Täter-Opfer-Umkehr müssen angeprangert werden. Gesellschaften brauchen konsistente Narrative in Bezug auf die eigene Geschichte. Es darf keine Lücken, keine Aussparungen und keine Übermalungen für jene Zeiten geben, in denen Schlimmes passiert ist. Vielmehr müssen die individuellen Täter und die kollektiven Mechanismen namhaft gemacht werden, die für die Untaten verantwortlich sind. Solange in einer Gesellschaft konkurrierende Narrative bestehen, muss daran gearbeitet werden, bis es eine einheitliche Erzählweise und Kategorisierung der Ereignisse und Abläufe in der Vergangenheit gibt. Nur so kann die Gesellschaft eine solide Wertestruktur aufbauen, die notwendig ist, um wachsen zu können. 

Weiters muss aktiv dafür Sorge getragen werden, dass in Zukunft solche Unmenschlichkeiten nicht mehr passieren können, indem z.B. entsprechende Mahnmale errichtet und Verbotsgesetze erlassen werden.

Es gibt zwar keine Kollektivschuld in dem Sinn, dass alle Mitglieder einer Gesellschaft individuell für deren kollektive Verbrechen verantwortlich sind, aber es gibt eine Schuld des Kollektivs, zu der sich alle Mitglieder bekennen sollten. Die bewusste Übernahme der Schuld schwächt nicht, führt nicht in die Opferrolle, sondern stärkt zum Einsatz für ein energisches „Nie-wieder“.


Die Täter-Opfer-Umkehr in der aktuellen Diskussion


Der Begriff der Täter-Opfer-Umkehr hat selber inzwischen eine politische Geschichte in Österreich. Zunächst wurde er von kritischen Publizisten und Forschern anhand rhetorischer Strategien der FPÖ diagnostiziert und mit einem typisches Schema analysiert: Ein FPÖ-Politiker macht eine Aussage, die als hetzerisch qualifiziert werden kann. Sobald jemand (vor allem gemeint sind die Medien, aber auch Einzelpersonen) den Sachverhalt so benennt und bewertet, wird das Medium oder die Person attackiert, indem vorgeworfen wird, gegen die Partei oder gegen eine ihrer Vertreter „zu hetzen“. Zuerst wird eine Tat gesetzt, und damit werden potenzielle Wähler am rechten Rand des gesellschaftlichen Spektrums angesprochen, dann erregen sich Teile der Öffentlichkeit über die entsprechende Aussage und über den Sprecher, und schon ist aus dem Täter ein Opfer geworden, das Mitleid verdient, nach dem Motto: Alle sind so böse zu mir, dabei habe ich gar nichts gemacht.

Inzwischen haben die „Opfer“ der Täter-Opfer-Umkehr-Analyse den Begriff gekapert und wenden ihn selber gerne an, womit die gesamte Dynamik einen weiteren Dreh bekommt. Hintergrund dieser Begriffsverwendung ist vermutlich einerseits der Wunsch, an das intellektuelle Niveau von linken soziologischen Diskursen heranzureichen, denen die rechte Meinungs- und Begriffsbildung traditionell hoffnungslos hinterher hinkt, und andererseits die Taktik, einen schlagkräftigen Begriff solange sinnentleert zu verwenden, bis er seine erklärende und erkenntnisleitende Funktion verloren hat.

Lehrreich finde ich dazu das folgende Beispiel. Es kam in Oberösterreich im März 2017 zu folgendem Vorfall: An einer höheren Schule in Wels hält ein Grün-Politiker einen Vortrag über „Extremismus“. In diesem Vortrag wird auch die FPÖ in Zusammenhang mit den Burschenschaften genannt. Unter den Zuhörern sitzt der Sohn eines FPÖ-Abgeordneten und ruft seinen Vater an. Dieser erwirkt über die Schulaufsicht und den Direktor der Schule, dass die Veranstaltung abgebrochen wird. Neben vielem anderen Porzellan, das rund um diesen Vorfall zerbrochen wird, kommt es sofort zur Verwendung der Täter-Opfer-Umkehr-Figur. 

Der oberösterreichische FPÖ-Vorsitzende behauptet in einer Aussendung: „Grüne und SPÖ zeigen wieder einmal, wie man es macht, wenn einem die Argumente ausgehen. Ein klassischer Fall von Täter-Opfer-Umkehr durch Kriminalisierung des Gegenübers und ein Paradebeispiel, wie auch an Schulen politisch Andersdenkende eingeschüchtert und mundtot gemacht werden.“ (Quelle). 

Nach Ansicht dieses Politikers hat also der Grüne die Tat begangen (nämlich schlecht über die FPÖ geredet) und damit eine „verbotene, parteipolitische Einflussnahme“ vorgenommen, gegen die unbedingt vorgegangen werden müsse, und hat damit die Partei zum Opfer gemacht, die aber ihrerseits eine Tat begangen hat, indem nämlich besagter Schülervater den Abbruch der Veranstaltung erzwungen hat, was aus Sicht der (der Täter-Opfer-Umkehr beschuldigten) Grünen und Sozialdemokraten einen Eingriff in die Schulautonomie und eine unzulässige politische Einflussnahme und Bevormundung darstellt. Witziger Weise wurde die Veranstaltung gerade zu dem Zeitpunkt abgebrochen, als die Diskussion über den Vortrag beginnen sollte, witzig deshalb, weil der FPÖ-Vorsitzende sich gerade darüber erregt, dass „an Schulen politisch Andersdenkende eingeschüchtert und mundtot gemacht werden“, obwohl sein Parteifreund verhindert hat, dass sich Schüler und Schülerinnen kritisch mit dem Vortrag auseinandersetzen. Der Sohn des Politikers hätte ja in dieser Diskussion seine Meinung als Andersdenkender kundtun können; stattdessen hat er den Papi angerufen, damit dieser als höhere Macht eingreife, um für (je nach Sichtweise) Gerechtigkeit oder Einseitigkeit zu sorgen.

Die Grünen halten jedenfalls gegen die FPÖ-Version der Täter-Opfer-Umkehr: „Dass die FPÖ immer wieder behauptet, es würde gegen sie gehetzt und undemokratisch vorgegangen, passt schon länger gut ins Bild ihres Verwirrspiels der Täter-Opfer-Umkehr.“ (Quelle)

Es kommt noch ein interessanter, fast notorischer und doch kaum je bemerkter Aspekt zum Tragen. Die rechte Partei, die sich als Opfer sieht, weil sie mit Extremismus in Zusammenhang gebracht wird, belegt durch ihre Aktion genau das, was ihr vorgeworfen wird. Extreme Regimes reagieren auf Kritik immer so, dass die Kritiker attackiert, bekämpft, ermordet werden. Kritik wird nicht mit Gegenargumenten begegnet, sondern tendenziell mit Zerstörung des Kritikers, in diesem Fall mit der Sprengung der Veranstaltung und einer medialen Offensive. Damit wird die Diskussion auf die nächste Ebene verlagert, und der ursprüngliche Vorwurf verschwindet aus dem Blick der Öffentlichkeit.

Extremisten handeln extremistisch, insbesondere dann, wenn jemand den eigenen Extremismus anprangert. Üblicherweise enthalten diese Handlungen Gewalt in der einen wie in der anderen Form und beschleunigen damit die Eskalation der Auseinandersetzung.

Inszenierte Verwirrung


Der Leser, die Leserin mag selber entscheiden, wer hier Täter, wer hier Opfer ist. Offensichtlich ist, dass mit diesem Konzept hin und her jongliert werden kann, je nach Interessenslage. Wer sich kritisiert fühlt, kann sich, statt sachlich auf die Kritik zu antworten, als Opfer hochstilisieren und dem Kritiker dafür die Schuld geben, also ihn als Täter dämonisieren. Dann besteht Hoffnung auf das Mitleid der eigenen Anhänger sowie auf deren angeschürten Hass gegen diesen Kritiker, shitstorm inklusive. So wird aus Kritik, wie sie in einer demokratischen Gesellschaft Platz haben muss, ein medialer Krieg, in dem es vor Märtyrern nur so wimmelt, weil sich jeder willkürlich zum Opfer erklären kann, irgendeinen Täter wird es schon geben.


Abschieben der Verantwortung – ein schlechtes Beispiel


Wo immer ein Täter-Opfer-Spiel stattfindet, mangelt es am richtigen Verantwortungsgebrauch. Die Schulaufsicht übernimmt keine Verantwortung für den eigenen Verwaltungsbereich, sondern ordnet sich dem Begehren einer außenstehenden Person unter. Der Schulleitung wird die Verantwortung abgesprochen, mit der Veranstaltung verantwortungsvoll umzugehen und sie fordert diese auch nicht ein, dem Referenten wird die Verantwortung abgesprochen, für das, was er sagt, Rede und Antwort zu stehen, während sich Politiker die Verantwortung anmaßen, an einer autonomen Schule für Recht und Ordnung in ihrem Sinn zu sorgen und glauben, die Schüler durch machtvolle Einflussnahme vor anderweitiger Beeinflussung schützen zu müssen.

Die Vertreter der FPÖ vermeinten mit ihrem gewaltsamen Eingreifen einen Schaden an den politischen Seelen der Schüler und Schülerinnen abzuwenden; möglicherweise größer ist aber der Schaden am Auftrag zur Heranbildung und Ermutigung mündiger, demokratiereifer junger Menschen, entstanden durch einen machtpolitischen Einfluss von oben und von außen. Die Lektion für die jungen Menschen sollte nicht sein, dass es äußere oder obere Mächte gibt, die sich alles erlauben und in ihrem Sinn richten können. Es steht zu hoffen, dass sich niemand durch diesen groben Eingriff oder durch ähnliche entmutigen lässt, die eigene Meinung zu vertreten, ob sie nun einer Obrigkeit genehm oder gefährlich erscheint. Und es sollten sich alle Betroffenen überlegen, wie junge Menschen zur Übernahme von Verantwortung motiviert werden können, damit sie weder auf Täter-Opfer-Spiele einsteigen noch deren Gebrauch in der öffentlichen Meinungsbildung übersehen.

Zum Weiterlesen:
Die innere Geschichte der Täter-Opfer-Dynamik
Österreich - ein Land voll Krypto-Nazis?

Donnerstag, 8. März 2018

Öffentliches Urteilen

Die frühere Parteivorsitzende der österreichischen Grünen, Eva Glawischnig, hat für viel Aufsehen gesorgt und heftige Kritik geerntet, als sie vor kurzem erklärte, beim Glücksspielkonzern Novomatic anzuheuern. Die Grünen sind erklärte Gegner und Kritiker des Glücksspiels, und auch ihre ehemalige Vorsitzende hat sich früher in diesem Sinn geäußert.

Politiker unterliegen einem moralischen Maßstab, der sich am Grad der Integrität bemisst. Dieser Maßstab muss von der Öffentlichkeit immer wieder kritisch angelegt werden, denn jeder Politiker trägt sein Amt als „Leihgabe“ von den Mitgliedern dieser Gesellschaft, so zumindest gemäß der traditionellen Legitimation demokratischer Macht nach J.J. Rousseau. Das einzelne Mitglied der Gesellschaft tritt einen Teil seiner Macht an einen politischen Amtsträger ab, der diese möglichst im Sinn der Gesellschaft verwaltet. Der Politiker kann das nur, indem er möglichst weit von Eigeninteressen absieht und das Wohl des Ganzem im Fokus hat. Das versteht man unter Integrität, und jede Abweichung davon muss aufgezeigt und kritisiert werden, sonst erodiert die Rechtfertigung politischer Macht in einer Demokratie und schließlich diese selbst.

Solange Frau Glawischnig ein politisches Amt ausgeführt hat, war sie an ihrer persönlichen Integrität zu bemessen. Seit sie dieses Amt niederlegte, gelten diese Maßstäbe nicht mehr. Wer mit der Dame befreundet ist und ihr nahesteht, kann ihr seine Meinung über den überraschenden Jobantritt mitteilen, doch steht es der politischen Öffentlichkeit nicht zu, diesen Schritt nach den Maßstäben politischer Integrität zu bewerten. Jeder Mensch hat das Recht, seine Ideale und Überzeugungen zu ändern; wenn er das als Politiker macht, verliert er seine Glaubwürdigkeit; als Privatperson können nahestehende Personen irritiert sein. Doch was geht es Personen an, die mit der Dame keinerlei persönlichen Kontakt haben, moralische Urteile abzugeben und die Integrität in Frage zu stellen? Wer maßt sich das Recht an, über fremde Menschen und ihr Verhalten zu urteilen?

Jedem steht es frei, Ansichten über das Glücksspiel und die Organisationen, die es befördern und damit Geschäft machen, zu haben und diese zu äußern. Es ist auch wichtig, zu solchen Themen, die die Gesellschaft und ihre Mitglieder betreffen, Stellung zu beziehen. Lukas Resetarits hat das Glücksspiel einmal als „Deppensteuer“ bezeichnet, weil die Chancen etwas zu gewinnen so gering sind, dass nur ein „Depp“ an das große Glück glauben kann. Glücksspiel heißt Abzocke, Versprechen geben und Erwartungen aufbauen, um sie dann zu enttäuschen. 

Beim Glücksspiel werden menschliche Schwächen zum eigenen Vorteil (für eine Person oder eine Firma) ausgenutzt. Es wird in Kauf genommen und sogar unterstützt, dass Menschen abhängig und süchtig werden. Oft verlieren Menschen und ihre Angehörigen ihre Existenz durch diese Schwächen, für die sie natürlich auf einer Ebene selbst verantwortlich sind. Andererseits kann es auch als Aufgabe der Gesellschaft gesehen werden, solche Ausbeutungsstrukturen einzudämmen und zu unterbinden. Wer in solchen Strukturen arbeitet und von der Abzocke verdient, sollte sich bewusst sein, dass der Schaden, der Menschen mit diesen Geschäften zugefügt wird, immer größer ist als der Nutzen.

All diese Argumente und noch viele mehr sollen im öffentlichen Diskurs benannt werden; sie könnten dazu beitragen, ein kritisches Bewusstsein über dieses Segment der Gesellschaft und des Wirtschaftslebens zu schaffen. Ein Urteil über eine Person hingegen, gleich aus welcher politischen Ecke sie kommt, steht niemandem zu. Wir wissen nichts über die inneren Beweggründe und Antriebe von anderen Menschen, außer sie stehen uns nahe, und sollten uns deshalb tunlichst des Urteilens enthalten. Wir sind keine Richter und keine Moralinstanzen, sondern Menschen mit eigenen Schwächen und Schattenseiten, und wir haben es auch nicht besonders gern, wenn andere über uns urteilen, vor allem dann nicht, wenn sie uns gar nicht kennen.