Mittwoch, 8. Dezember 2021

Die Impf-Kommunikation

Die Pandemie-Krise hat im Zusammenhang mit der Impfthematik auch ein massives gesellschaftspolitisches Kommunikationsproblem aufgezeigt. Es gelingt der Staatsverwaltung nicht, die eigenen Intentionen und Pläne ausreichend an die Frau und den Mann zu bringen und verständlich zu machen, sodass genügend Menschen impfen gehen und die Virenverbreitung minimiert wird.  

Ebenso verhallen die einschlägigen Appelle der Wissenschaft bei vielen Adressaten erfolglos, vielmehr tragen sie offensichtlich zusätzlich zum Anstieg der Wissenschaftsskepsis bei. Die Überforderungs- und Verzweiflungssignale der überforderten Intensivmediziner und des überbelasteten Spitalspersonals stoßen bei denen, an die sie gerichtet sind, auf Abwehr, Verharmlosung oder durch Fake-News gespeiste Umdeutungen.  

Es geht hier nicht um die Adressaten, also die Impfunwilligen in der Bevölkerung, sondern um die andere Seite der Kommunikation: Die Unfähigkeit, die Botschaft so zu übermitteln, dass sie zur erwünschten Handlung führt. Dieses Kommunikationsproblem kann als Vermittlungsschwierigkeit von der sechsten zur fünften Bewusstseinsstufe verstanden werden.  

Die Logik der Bewusstseinsevolution verläuft so, dass die nächstfolgende Stufe die wichtigsten Elemente der vorigen beinhaltet, sie weiterentwickelt und in neue Zusammenhänge stellt. Klar ist, dass die Perspektiven und Denkweisen der nächstfolgenden Stufe von den Menschen auf der vorigen nicht automatisch verstanden werden und auf Widerstand stoßen. Sie stellen ja die Prinzipien des eigenen Bewusstseins in Frage und fordern eine Weiterentwicklung, die ins Unbekannte führt und deshalb riskant ist. Vor jedem Schritt auf ein neues Organisationsniveau meldet sich die Angst vor dem Neuen und Unbekannten und die Angst, Vertrautes und Gewohntes aufgeben zu müssen, auch wenn es nicht wirklich mehr nützlich ist und einengt. Es liegt an der höheren Stufe, die Vermittlungswege anzubieten, die es den Leuten, die auf der vorigen Stufe verankert sind, schmackhaft machen, den Schritt auf die nächste Stufe zu wagen.   

Die Impf-Kommunikation

Ich gehe in Bezug auf die gegenwärtigen Situation von der Annahme aus, dass die Gesundheitsverwaltung, die in enger in enger Zusammenarbeit mit der Wissenschaft ihre Verordnungen und Maßnahmen setzt, auf einer systemischen Ebene, also auf der sechsten Bewusstseinsstufe argumentiert: Sie will dafür sorgen, dass das Gesundheitssystem seine Leistungsfähigkeit behalten kann, und darüber hinaus, dass durch die dafür notwendigen Maßnahmen der beste Nutzen für möglichst viele in der Krisensituation erzielt werden kann, bzw. dass die Schäden möglichst gering bleiben. Dazu wird ein Prozedere gewählt, das nach den wissenschaftlichen Erkenntnissen dazu am dienlichsten ist.  

Viele, die mit diesen Argumentationen nichts anfangen können, kommen hingegen von der personalistischen Ebene, das den eigenen Körper und die eigene Seele über alles andere stellt, und diese Personen fühlen sich von den Appellen der Politik, der Wissenschaft und des Gesundheitswesens weder verstanden noch unterstützt. Deshalb verstehen sie ihrerseits die Anliegen der Regierung nicht, setzen die empfohlenen Maßnahmen nicht um und protestieren und rebellieren dagegen.  Wir haben es mit einem Vermittlungsproblem zwischen diesen beiden Ebenen zu tun.    

Am Beispiel der Impf-Kommunikation zeigt sich in vielen Ländern, wie schwierig es offensichtlich ist, die Abwehr der vorigen Entwicklungsstufe gegen das Neue zu überwinden. Die mRNA-Impfstoffe z.B., bei denen eine relativ neue Biotechnologie angewendet wird, die vielen Laien unbekannt ist, haben große irrationale Ängste ausgelöst. Viele wollen sich nur mit Impfstoffen impfen lassen, die schon auf lange bekannten Grundlagen beruhen.

Die Impfpflicht und die politische Regression

Nun hat die Regierung in Österreich aus der misslungenen Kommunikation und Überzeugungsarbeit den Schluss gezogen, die Impfpflicht zu verhängen. Es müssen sich also auch die Unwilligen der Impfung unterziehen, wenn sie nicht bestraft werden wollen. Der Staat wechselt damit von der systemischen auf die hierarchische Ebene, von der sechsten auf die dritte Stufe, um mittels Staatsgewalt das Verhalten zu erzwingen, das durch Überzeugungsarbeit nicht zustande gebracht werden konnte. Da ist es dann nicht verwunderlich, dass Teile der solcherart in eine Zwangslage Geratenen noch eine Stufe darunter regredieren und zu Verweigerung und Widerstand aufrufen, indem sie der Regierung die demokratische Legitimation absprechen und sich in einer Diktatur fühlen. 

Andererseits ist es aus der Sicht der Staatsverwaltung und der Politik nachvollziehbar, dass die systemische Ebene verlassen wurde, weil durch die Engpässe im Gesundheitssystem ein Zeitdruck entstanden ist und keine langwierigen Überzeugungskampagnen mehr geführt werden können. Außerdem zeigt die Erfahrung, dass das Andauern der Pandemie bei vielen die Ängste steigert und dass sich dadurch die einmal eingenommenen Positionen (für oder wider die Impfung) immer mehr verhärten, sodass Gespräche immer mühsamer und sinnloser werden. 

Dazu kommt, dass systemische Entscheidungsfindungen im Allgemeinen einen hohen Zeitbedarf haben. Sie gedeihen nur gut unter stressfreien Rahmenbedingungen und bringen nur dann Frucht, wenn alle Beteiligten und Betroffenen mit ihren Sichtweisen, Ängsten und Erwartungen ausreichend einbezogen werden. Deshalb ist es für Einzelpersonen wie für Verwaltungssysteme äußerst schwierig, unter äußerem Stress das systemische Bewusstsein aufrechtzuerhalten. 

Die Notwendigkeit der Stärkung der systemischen Vernunft

Was kann die systemische Ebene dazu beitragen, die Motivation zum Überstieg in diese Bewusstseinsform zu stärken? Obwohl in Österreich der Zug zur gütlichen Verständigung mit den Impfgegnern abgefahren ist, ist die Frage wichtig, wie die  systemische Ebene die personalistische erreichen könnte. Anders gefragt: Wie könnte das systemische Niveau das Vertrauen erwerben, das es braucht, um sich auf breiterer Basis zu etablieren? Es ist nämlich ziemlich klar, dass wir, abgesehen von der Pandemie, ohne die Erforschung der Komplexität, die eine systemische Spezialität ist, die Herausforderungen der Zeit und der Zukunft nicht meistern können, ob es sich nun um die Pandemie, die Klimakrise, die Schere zwischen arm und reich oder das Finanzsystem handelt. In all diesen Fragen hat das personalistische Bewusstsein ausgedient. Wenn es nicht gelingt, in der Gesellschaft eine breite Basis für systemisches Denken und systemische Vernunft aufzubauen, gerät der Weiterbestand der Menschheit in ernsthafte Bedrängnis. 

Widerstand in der systemischen Integration

Praktisch geht es darum, wie man systemisch mit Widerstand und Abwehr umgeht. Es gilt, alles, was zum System gehört, als Teil des Systems zu verstehen, also auch das, was sich dagegen wehrt, Teil des Systems zu sein. Die Frage an diesen Teil ist, was er braucht, damit er sich als zugehörig erfährt und wohlfühlen kann.  Dazu gehört, dass seine Funktion im System gesehen und anerkannt wird. 

Das systemische Umgehen mit Widerstand besteht darin, so lange kommunizieren, bis er sich in eine Ressource verwandelt. Es gilt zu verstehen, dass der Widerstand eine Schutzfunktion hatte, die allerdings jetzt nicht mehr benötigt wird – die Würdigung verhilft zur Transformation. Die Abwehr kann sich erst öffnen, wenn sie gesehen, in ihrem Wert verstanden und ernstgenommen wird.  

Abwehr und Adoleszenz

Jede Abwehr enthält eine Ähnlichkeit mit der Energie der Adoleszenz. Deshalb wählen wir hier die hypothetische Annahme, dass sich viele der Impfgegner mit ihrem Thema psychodynamisch betrachtet adoleszenter Motivationen und Gefühlsmuster bedienen. Damit ist nicht gemeint, dass jeder Widerstand gegen das Impfen pubertär wäre, was ja eine ungebührliche Abwertung der betreffenden Personen darstellen würde. Vielmehr geht es darum, die Trieb- und Abwehrkräfte zu verstehen, die in diesem Kommunikationspatt mitspielen, vor dem Verständnis, dass jeder erwachsene Mensch die adoleszenten Strebungen und Motivationen in sich trägt und zu bestimmten Gelegenheiten aktiviert, und das oft durchaus sinnvoll. Solche Motivations- und Reaktionsmuster können auch bei Impfbefürwortern eine Rolle spielen und sich in ihr Verhalten einmischen. Es ist weiters offensichtlich, dass bei der Ablehnung der Impfung unterschiedliche Motive mitspielen, von denen viele einer erwachsenen rationalen Prüfung Stand halten können.  

Doch scheint es, dass die adoleszenten Anteile in dieser Szenerie eine besondere Rolle im angesprochenen Vermittlungsproblem spielen. Denn das systemische Bewusstsein ist gleichzusetzen mit der reifen, bedachten, rational und emotional ausgeglichenen Erwachsenenhaltung. Und zwischen Erwachsenen und heranwachsenden Jugendlichen gibt es seit jeher Verständnis- und Kommunikationspotenzial sowie viel Konfliktstoff.  Evolutionär betrachtet, sind diese Konflikte ein notwendiger Bestandteil des gesellschaftlichen Fortschritts. 

Adoleszente wollen als erwachsener gesehen und behandelt werden, als sie es aktuell sind. Sie haben das Gefühl, dass sie vieles besser verstehen und durchblicken als die in ihren Meinungen festgefahrenen und verzopften „Alten“. Sie wissen alles besser, kennen sich überall besser aus, haben Informationsquellen, die sonst niemand hat usw. Diese Überzeugung brauchen sie auch, weil sie ja als die nächste Generation die Gesellschaft mit neuen und besseren Ideen gestalten werden. 

Jugendliche wollen keine Moralisierungen und lassen sich auch nicht durch Belohnungen kaufen. Zugleich brauchen sie die Bereitschaft zur Nachsicht und Fürsorge, sie wollen sich auf die Sicherheit verlassen können, dass wer da ist, wenn etwas schief geht. Sie sind gewissermaßen nur Erwachsene auf Probe und lernen erst, mit dieser Verantwortung umzugehen. Insgeheim setzen sie auf „Vater Staat“, der ihnen die Ausbildung und die soziale Absicherung zur Verfügung stellt, während sie ihn andererseits ablehnen und bekämpfen – wie sie es auch trotz aller Kritik schätzen, dass sie sich auf ihre Eltern verlassen können und nicht missen wollen, dass ihnen die Wäsche gewaschen wird. 

Über die Notwendigkeit eines erkenntnistheoretischen Basiskonsenses

Angewandt auf die Impfthematik bedeutet das, dass jedes Bedenken und jede Sorge der Impfskeptiker ernstgenommen werden muss. Schließlich haben sie durch ihr Misstrauen bewirkt, dass viele Problematiken um die Impfung genauer erforscht wurden, sodass es inzwischen viele Methoden gibt, um Impfschäden und Nebenwirkungen abzufangen oder zu heilen. Gefühle und rationale Argumente müssen entwirrt werden, sodass beide Aspekte gesondert betrachtet werden können. Es gilt, eine Basis zu finden, mit der der Unterschied zwischen Fakten und Fiktionen, wissenschaftlichen Ergebnisse und verzerrten Pseudoargumenten geklärt werden kann. Auf welche Metaerkenntnisse kann man sich einigen? Also welche Prüfungsmethode der Faktizität wird außer Zweifel gestellt und kann als Grundlage für eine gemeinsam akzeptierte relative Wahrheit gelten? Was sind vertrauenswürdige und seriöse Informationsquellen und wo ist die Grenze zwischen Faktenwissen und Spekulation? Wie können wir herausfinden, auf welche Weise Erkenntnisse zustande kommen, welche Standards der Wahrheitsfindung sind in Geltung? Welchen Quellen darf man Glauben schenken, und bei welchen muss man vorsichtig sein?

Verständigung braucht also einen erkenntnistheoretischen Basiskonsens: Wie können wir uns auf einen sicheren Zugang zu verlässlichen Informationen einigen, um damit eine gemeinsame Grundlage für das herzustellen, was als wirklich gelten kann? Wenn wir unterschiedliche Zugänge zur Gewinnung von relativer Wahrheit haben, wird jedes Gespräch im Sand verlaufen oder im unlösbaren Konflikt enden. 

Zum Weiterlesen:
Impfen, Wissen und Wissenschaft
Die Ethik des Impfens
Fixierungen in der Impfdebatte
Ethischer Perfektionismus und seine Überwindung



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