Montag, 24. Januar 2022

In der Welt der Wahrscheinlichkeiten

Was sollen wir mit Wahrscheinlichkeiten? Wir wollen genau wissen, was auf uns zukommt. Wir wissen z.B., dass wir durch eine Corona-Impfung wahrscheinlich besser aussteigen als ohne: Wir haben ein geringeres Ansteckungsrisiko und Aussichten auf einen leichteren Verlauf der Krankheit, außerdem sind die Impfrisiken niedriger als die Erkrankungsrisiken. Alles spricht also fürs Impfen, und dennoch sagen viele, dass sie die Impfung für riskanter einschätzen als eine mögliche Erkrankung. Sie vertrauen also nicht auf die Wahrscheinlichkeitsberechungen, sondern auf andere, subjektive Abschätzungen der Risiken, in die sie selektiv ausgewählte Informationen, die die eigene Position stärken, einfließen lassen.  

Jede Wahrscheinlichkeitsberechnung enthält einen Unsicherheitsbereich. Auch wenn 98% von einer Methode profitieren, könnte ich unter den 2% sein, denen sie nicht hilft. Wir hätten gerne die absolute Sicherheit zu allem, was uns selber und unsere Zukunft anbetrifft. Nur kann uns die Wissenschaft diese Sicherheit nicht bieten, sondern nur Wahrscheinlichkeiten. So stehen wir immer wieder vor Entscheidungen ohne ausreichende Absicherung. Wir sollten uns einer Operation unterziehen und werden über die möglichen Risiken aufgeklärt und spüren die Angst vor ungewissen Folgen. Zugleich hoffen wir auf Besserung. Wir brauchen den Mut zum Risiko und müssen uns letztlich auf uns selber verlassen und die Verantwortung für die Entscheidung übernehmen. 

Unschärfen und Ambivalenzen 

Wir befinden uns in der Welt des Relativen, in der es keine absoluten Sicherheiten und Wahrheiten gibt. Aus der Welt der Quantenphysik wissen wir um die Unschärfe und Ambivalenz, die im Grundgefüge unseres Universums wirksam ist. Nicht einmal die Grundbausteine der Welt verhalten sich verlässlich und berechenbar. Auch hier gelten Wahrscheinlichkeiten. Das war die große Enttäuschung, die mit den physikalischen Entdeckungen in den frühen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts einhergeht. Die Hoffnung auf ein durchgängiges physikalisches Modell, das auf der Gravitation beruht und alle Phänomene berechenbar macht, ist gescheitert. Andererseits wissen wir jetzt, dass dieses wunderbare Universum trotz oder wegen dieser Grundunsicherheiten entstanden ist und weiterbesteht. 

Die Probleme, die uns die Wahrscheinlichkeit auferlegt, erinnern an die grundsätzliche Unsicherheit , die wir alle mit unserem Leben haben. Wir suchen nach Sicherheiten, die es in dem Grad nicht gibt, wie wir es brauchen würden, um uns ganz angstfrei fühlen zu können. Relative Sicherheiten sind auch relative Unsicherheiten. Die Wahrscheinlichkeit macht uns nur darauf aufmerksam, wie Sicherheiten im relativen Bereich beschaffen sein können. Sie sind an ihren Rändern immer mit Unsicherheiten behaftet. Viele der menschlichen Anstrengungen im Lauf der Geschichte bestehen in nichts anderem, als diese Unsicherheiten zu reduzieren. Doch die Hoffnung, dass diese Fahnenstange ein Ende hätte, ist illusorisch.  

Wir brauchen nur an das aktuelle Virus denken, das uns verschmitzt daran erinnert, auf welch unsicheren Beinen unsere Existenz ruht. Niemand hätte vor etwas mehr als zwei Jahren geahnt, in welche Unsicherheiten diese Entwicklung die gesamte Menschheit stürzen wird. Wir alle waren stolz auf die moderne Wissenschaft und Medizin und dazu noch auf all die alternativen Heilwege, die uns so viel Sicherheit in gesundheitlichen Belangen versprochen haben. Und doch zeigt sich, dass es bei all dem, was wir wissen, genauso vieles nicht wissen. Bei allem Zuwachs an Wissen wächst zugleich die Einsicht in das, was wir nicht wissen, mit. Gewissermaßen wissen wir immer so viel, wie wir nicht wissen, wobei nicht einmal das sicher ist. 

Es ist Teil der systemischen Vernunft, aus Beschränktheiten in Folge der Begrenztheit des menschlichen Erkennens Vorzüge zu gewinnen. Die Allgegenwart der Wahrscheinlichkeit, die uns ein fortwährendes Abwägen aufbürdet, verhilft uns zu einem Wirklichkeitsverständnis, das in der Relativität des Erkennens und Wissens gründet. Die Einsicht in die Vorläufigkeit und Korrigierbarkeit jeder Einflussnahme auf die Wirklichkeit verschafft dem menschlichen Geist mehr Flexibilität und öffnet mehr Möglichkeiten für das Handeln. Wir üben uns in Unsicherheitstoleranz.

Zwischen Wahrscheinlichkeiten und Ängsten 


Häufig oszillieren wir zwischen den Zahlen und den Gefühlen hin und her, zwischen Wahrscheinlichkeiten und Ängsten. Wir befürchten z.B., dass wir die Person sind, die aus einer Million Geimpfter diese oder jene schlimme Nebenwirkung erleiden muss, oder dass wir die Person sind, die aus ein paar Tausenden Ungeimpfter an Covid sterben muss. Wir hoffen, dass wir mit drei Impfungen davonkommen oder dass uns das Virus übersieht, obwohl oder gerade weil wir nicht geimpft sind. Wir setzen auf unser Immunsystem, im einen Fall dass es die Impfungen gut verkraftet und durch sie unangreifbar wird, im anderen Fall dass es ohne zusätzlichen Anreiz vor jedem Virenbefall schützt. Wir fürchten und hoffen alles Mögliche, und nichts bietet uns eine endgültige Sicherheit. 

Das einzige Hilfsmittel gegen die Unsicherheiten liegt in der Konfrontation mit den Ängsten, die hinter unserem Drang nach absoluter Sicherheit stecken. Die Ängste sind Reaktionen unseres Gehirns und Nervensystems auf äußere Unsicherheiten, die sich mit früheren Bedrohungen unseres Lebens auf einer unbewussten Ebene verbinden und von ihnen verstärkt werden. Wenn es uns gelingt, die Ängste in uns zu beruhigen und in ihren Wurzelsituationen, also in unserer Frühgeschichte zu befrieden, dann wächst unser inneres Vertrauen, sodass wir auch in Situationen der Unsicherheit handlungsfähig bleiben. 

Auf dieser Basis können wir die Einsicht nutzen, dass wir keine richtigen oder falschen Entscheidungen treffen können, sondern nur solche, die für uns selber und für die sozialen Zusammenhänge, in denen wir stehen, im Moment angemessen und vertretbar erscheinen. Unsere Entscheidungen sind der selben Ungewissheit unterworfen wie alle anderen Vorgänge in der Wirklichkeit. Wir verfügen nur über Wahrscheinlichkeitsabschätzungen und nicht über absolute Sicherheiten. Befreit von der bedrängenden und dominierenden Macht der Gefühle können wir all die anderen Areale unseres Gehirns oder Bewusstseins aktivieren, die uns ihre Informationen und Einsichten für das Entscheiden zur Verfügung stellen. Wir denken dann bei unseren Entscheidungen nicht mehr nur an uns selbst und an unser subjektives Überleben, sondern auch an all die anderen und deren Überleben. 

Die Konfrontation mit der Endlichkeit 


Es ist die Konfrontation mit unserer Sterblichkeit, unserer Endlichkeit, die sich in jeder Unsicherheit äußert. Unser Drang nach Sicherheit ist im Grund ein Drang nach Unsterblichkeit, die uns allerdings nicht zusteht. Es ist ein kostbares Element des Menschseins, das im Geheimnis des Todes steckt. Denn der Tod gibt dem Leben erst seine tiefste Bedeutung. In der Bescheidenheit und Selbstbeschränkung, die angesichts der Unausweichlichkeit des Todes auftreten, findet der Mensch zu sich selbst. Nicht die Überheblichkeit, die im Streben nach absoluter Sicherheit enthalten ist, sondern im Eingeständnis der eigenen Begrenztheit und im Annehmen der Ängste, die damit verbunden sind, liegt das menschliche Maß. 

Die Bewusstheit über die eigene Endlichkeit und ihre Unausweichlichkeit führt uns aus der Enge der Selbstbezogenheit heraus, in die uns unsere Ängste einsperren. Wir öffnen uns für die Ängste und Bedürfnisse der anderen Menschen, anstatt nur an die Absicherung des eigenen Überlebens zu denken. Wir bedenken mit, welche Auswirkungen unsere Entscheidungen auf unsere Mitmenschen haben. Außerdem können wir den größeren Horizont miteinschließen, der die Natur umfasst. 

Das Virus als Lehrmeister der Endlichkeit 


Auch wenn uns das Virus in einer Hinsicht dazu zwingt, Masken zu tragen, demaskiert es uns in anderen Hinsicht: Es reißt uns die Maske von Sicherheit und Gewissheit weg, die uns unsere vermeintlichen Fortschritte zu immer mehr Macht und Glück vorgegaukelt hat. Wir können nicht länger an den Illusionen festhalten, alles unter Kontrolle zu haben, bzw. alles unter Kontrolle zu kriegen. Selbst wenn wir uns an windige Theorien anhängen, die uns scheinbar Sicherheit geben, weil sie die Bösewichter, die hinter den Verunsicherungen stecken sollen, namhaft machen wollen, erinnert uns das Virus dauernd daran, dass uns keine Theorie sicherer machen kann. Sicherheit gibt es nur im Seelenfrieden, der in der bedingungslosen Akzeptanz der eigenen Sterblichkeit besteht. 

Zum Weiterlesen:

Vom Anfang des Universums zum Nichtwissen
Akzeptieren, was ist: Leben und Tod
Das spielerische Universum


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