Freitag, 23. Januar 2015

Religiöse Gefühle und Humor in der offenen Gesellschaft

Ein Leser dieser Blogseiten hat mir dankenswerter Weise den Hinweis auf eine Stellungnahme des Papstes zu den Themen Meinungsfreiheit und religiöse Gefühle geschickt.

Meinungsfreiheit hat nach Ansicht von Papst Franziskus Grenzen - dann, wenn sie religiöse Gefühle anderer verletzt. „Viele Menschen ziehen über Religion her, das kann passieren, hat aber Grenzen. Jede Religion hat eine Würde, und man kann sich darüber nicht lustig machen“, sagte der Papst mit Blick auf die Terroranschläge auf das Satiremagazin „Charlie Hebdo“ auf dem Flug zur die philippinische Hauptstadt Manila.
Er fügte hinzu: „Wenn Dr. Gasbarri (der Reiseorganisator des Papstes), mein lieber Freund, meine Mama beleidigt, erwartet ihn ein Faustschlag. Denn man kann den Glauben der anderen nicht herausfordern, beleidigen oder lächerlich machen“, zitierte die Nachrichtenagentur Ansa am Donnerstag das Oberhaupt der Katholiken weiter. Gleichzeitig betonte der Papst, dass man im Namen Gottes nicht töten dürfe.
Soweit der Bericht in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

Nicht überraschend ist die traditionelle Sichtweise eines Religionsvertreters zur Ablehnung von religiösen Gefühlsverletzungen. Überraschend, seltsam, lustig oder interessant, je nachdem, kann man das Beispiel finden, das dem Papst dazu einfällt. Es geht mir im folgenden nicht darum, am Papst und seinen vielleicht nicht voll durchdachten Interviewäußerungen herumzukritisieren oder in sie hineinzuinterpretieren, sondern sie zum Anlass zu nehmen, weitere Aspekte des Themas näher zu beleuchten.

Jede Religion hat eine Würde, auch wenn in ihrem Namen Verbrechen begangen werden. Jeder Mensch hat eine Würde, auch wenn er Verbrechen begeht. Das sollte im Sinn eines Grundkonsenses von Menschen- und Bürgerrechte außer Zweifel stehen. Klar sollte auch sein, dass die Würde eines Einzelnen oder einer Institution nicht durch andere Menschen und deren Aktionen außer Kraft gesetzt werden kann. Sie besteht einfach weiter, was auch immer einem Menschen oder einer Institution angetan wird: Ob ihre Angehörigen vertrieben und verfolgt werden, oder ob sich jemand über sie lustig macht. Die nächste Frage ist, wie jemand reagieren soll, wenn jemand anderer die eigene Würde oder die einer für wichtig erachteten Institution "angreift" oder "verletzt".

Die deutsche Bild-Zeitung bezeichnet die Aussage von Papst Franziskus als scherzhaft. Sicher wollte er der Presse nicht mitteilen, dass er schnell mit Faustschlägen bei der Hand ist, wenn ihm etwas nicht passt. Und das Scherzen sollte auch in diesen Fragen erlaubt sein. Zugleich sollte es erlaubt sein, scherzhafte Stellungnahmen ernsthaft zu betrachten, nämlich in Hinblick darauf, was mit ihnen zum Ausdruck gebracht werden soll. Denn das Scherzen enthebt nicht der Aufgabe, auf der gedanklichen Ebene klar zu bleiben und die Rolle der involvierten Emotionen zu reflektieren.


Selbstverständlichkeiten?


Da erstaunt erstens die Selbstverständlichkeit, mit der das katholische Kirchenoberhaupt mitteilt, dass Beleidigungen der eigenen Mutter sofort geahndet werden müssen/können/sollen. Wenn eine Beleidigung boshaft und gemein ist, kann man sie auch anders zurückweisen und nicht weiter wichtig nehmen. Wenn eine Aussage über die eigene Mutter (oder über sonst wen, der einem wichtig ist), zwar scharf formuliert ist, aber z.B. eine Unvollkommenheit dieser Person anspricht, kann das wichtige Informationen enthalten, die überlegt und genauer erörtert werden könnten.

Jedenfalls ist die gewalttätige Reaktion (Faustschlag) auf eine Beleidigung keine Selbstverständlichkeit, weil es auch noch eine Reihe anderer Reaktionsmöglichkeiten gibt, die uns vielleicht nicht alle in jeder Situation verfügbar sind, insbesondere dann nicht, wenn in uns starke Emotionen ausgelöst werden. Doch wenn wir aus der Distanz über Fragen wie die Meinungsfreiheit reden, sollten wir neben den schwächsten, impulsgesteuerten Reaktionsmöglichkeiten auch die im Sinn der Vernunft stärkeren Möglichkeiten ebenfalls zur Diskussion stellen.

Insoferne sind die Aussagen des Papstes in diesem Punkt nicht nur mangelhaft, sondern auch erstaunlich kurzschlüssig. Sie konterkarieren zudem in ganz eigentümlicher Weise eine Dynamik in den Vorfällen, die diese Fragen wieder in die öffentliche Diskussion gebracht haben.


Der Scherz und die Satire


Jemand macht einen Scherz in der Öffentlichkeit, geht also unter Verwendung von Humor mit einem heiklen Thema um. Satire wäre in diesem Fall zu viel gesagt. Aber die Verwendung von satirischen Mitteln in der Karikatur sind ja genau der Gegenstand des Hasses vieler Menschen vor allem in der moslemischen Welt. Über Religion zu scherzen, bringt bekanntlich Menschen dazu, extrem gewalttätig zu werden.

Satire heißt, mit künstlerischen Mitteln menschliche Schwächen zu übertreiben und lächerlich zu machen. Andere Menschen sollen also über die Schwächen von Menschen und ihren Institutionen lachen, damit sollen diese ihre Schwächen einsehen und wenn möglich verbessern. Z.B. eine Kirche, die sich in ihrer Würde selbst zu wichtig nimmt, kann den Spott der Menschen auf sich ziehen, und gerade dieser Papst hat nicht nur in Worten erklärt, dass es ihm um nicht um eine Kirche der Selbstüberheblichkeit, sondern der Bescheidenheit geht.

Der Scherz ist ein gutmütigeres und schwächeres Mittel des Humors. Humor empfinden wir als gut, solange er nicht die eigenen Themen berührt. Ich darf mich lustig machen, mich und andere auf die Schaufel nehmen. Bei heiklen Themen hört sich der Spaß auf. Wo aber und wann ist dieser Punkt erreicht ? Hier gibt es keine objektiven Kriterien, sondern die Grenze setzt der individuell bzw. kulturell definierte Spielraum der Toleranz. Verletzt sind Menschen dort, wo etwas in Frage gestellt wird, was sie zu ihrer persönlichen oder sozialen Identität rechnen.

Offenbar wollte der Papst mit jener scherzhaften Aussage um Verständnis für eine menschliche Reaktionsweise werben: Beleidigung hat "spontane" Gewalt zur Folge. Wie oben gesagt, erschreckt die Selbstverständlichkeit, mit der diese primitive Reaktionsweise einfach stehengelassen wird. Der Schreck lässt leicht den Scherz vergessen.


Humor und Gewalt


Nächstes Element: Die Anspielung auf Gewalt im Scherz. Die prototypische antiwestliche Argumentation aus islamischer Sicht lautet: Beleidigung der Religion und ihrer Repräsentation ist eine gegen alle Gläubigen gerichtete Gewalt, und niemand dürfe sich wundern oder beklagen, wenn Gewalt dann mit Gewalt beantwortet wird.

Im Scherz des Papstes folgt die gewalttätige Reaktion auf die Beleidigung; das Scherzhafte daran ist, dass sich niemand den Papst als Schlägertypen vorstellen kann, noch dazu gegen einen Freund. Unterstellt wird aber, dass die Reaktion mit der Faust selber weder unverständlich noch moralisch anfechtbar ist. "Das versteht doch jeder: Wenn die Mutter beleidigt wird, muss man auszucken." Der Sprung zu selbsternannten Killern im Namen des großen Gottes ist natürlich groß, die Analogie ist aber nicht allzu weit hergeholt, weil es bei der Gewalt gegen Körper eine Kontinuität gibt: vom Faustschlag bis zur Tötung. Denn das ist es, was die Gewalt in jeder Form letztendlich anstrebt: Dass solches nie mehr passiert, dass jemand für immer mund-tot gemacht wird. Das Nie-mehr und Für-immer ist das Ziel, das sich Menschen setzen, die Gewalt als Mittel wählen.

Worte hingegen, so beleidigend auch immer sie sein können, führen nicht zu körperlichen Schäden und deshalb auch nicht zum Tod. Selbst auf die schlimmsten Worte lassen sich andere schlimme Worte finden. Es wird also mit stärkerer Munition zurückgeschossen, als der Angriff beinhaltete, wenn auf Worte die Faust folgt. Damit wird eine Eskalation der Gewalt in Kauf genommen , die dort ihren entscheidenden Anfang nimmt, wo die verbale Auseinandersetzung zur körperlichen wird. Das ist genau der Vorgang, den wir mit Besorgnis beobachten. 


Körper und Geist


Was wird in dem Beispiel über das Verhältnis von Körper und Geist ausgesagt? Jemand, der zu Aggressionen neigt, kann leicht so reagieren: Wenn jemand etwas oder jemanden beleidigt, der oder das mir wichtig ist, dann kriegt er eine drauf. Eine verbale Beleidigung, nicht einmal gegen die eigene Person, verglichen mit Körperverletzung - was wiegt mehr?

Es zeigt vielleicht, dass manche Kirchenvertreter in guter alter Tradition den Geist höher stellen als "das Fleisch". Wer den Geist verletzt, hat dann mehr angerichtet, als jemand, der den Körper verletzt. Die Gotteslästerung als Herabwürdigung des höchsten geistigen Prinzips ist dann das Schlimmste überhaupt, was Menschen anrichten können, viel ärger als Massenmord. Im Mittelalter haben deshalb Ketzer eine besonders grausame Form der Todesstrafe erhalten. In Saudi-Arabien z.B. werden Andersgläubige und Andersdenkende grausam bestraft. Davon sollten wir aber in unserem Moral- und Rechtsempfinden schon weit entfernt sein.

Wie schon in einem früheren Beitrag ausgeführt, ist es übertrieben und irreführend, Beleidigung als Gewaltausübung zu verstehen, weil das zu einer willkürlichen Verallgemeinerung des Gewaltbegriffes führt und die Selbstverantwortung für die eigenen Gefühle außer Acht lässt. Es gibt keine automatische Beleidigung, vielmehr wird die Beleidigung vom Beleidigten zu einer solchen gemacht. Bei einer anderen Person in der gleichen Situation würde die Beleidigung u.U. unter die Kategorie "Lappalie" fallen.

Niemand kann über die eigene Person hinaus schließen, was Gefühle verletzt, weil jeder Mensch über ein anderes Maß dafür verfügt. Jemand kann sich schon verletzt fühlen, wenn jemand anderer die Nase über ein religiöses Symbol rümpft, oder einen Witz über Petrus an der Himmelstür macht. Jemand anderer, genauso gläubig, aber charakterlich weiter entwickelt, kann die bissigste Religionskritik gelassen von sich weisen. 


Immer wieder in die gleiche Kerbe


Wenn schon bekannt ist, was Menschen verletzt, sollte man aus Gründen der Menschlichkeit und Rücksichtnahme aufhören, in die schon bekannte Kerbe zu schlagen. So wird jetzt öfter argumentiert, wenn es um islamkritische Publikationen im Westen geht. Wir vermeiden das ja auch in unseren persönlichen Beziehungen. Wenn wir wissen, was jemand anderen, der uns wichtig ist, verletzt und ärgert, dann reiten wir nicht darauf herum oder bohren noch tiefer in die Wunde.

Auf der Ebene der gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Auseinandersetzungen gelten andere Gesichtspunkte. Hier werden, wie schon erwähnt, bei religionskritischen Fragen im allgemeinen nicht einzelne Menschen angegriffen, sondern Glaubenslehren, Glaubensinhalte und historische Repräsentanten der Religion. Wie oben gesagt, geht es in der Kritik darum, blinde Flecken in der öffentlichen Darstellung der Religionen aufzuzeigen, wie z.B. Überheblichkeiten oder inhaltliche Widersprüche, Gegensätze zwischen Theorie und Praxis usw. Die Dynamik der Auseinandersetzung in einer offenen Öffentlichkeit bewirkt, dass sie nur dann aufhört, wenn sich der Gegenstand der Kritik so ändert, dass die Kritik nicht mehr trifft, oder wenn sie unterbunden, unterdrückt und verboten wird. Dann ist allerdings die Öffentlichkeit nicht mehr offen, sondern lädiert. Und das ist für eine post-aufklärerische Gesellschaft wichtiger als die Folgen von tatsächlichen oder vermeintlichen Beleidigungen und Kränkungen.

Übertreibungen und Unverschämtheiten, unfaire und haltlose Kritiken sowie inhaltsleere Polemiken fallen der Selbstkorrektur einer offenen Öffentlichkeit anheim. Sie weist mit argumentativen Mitteln alles zurecht, was anmaßend gegen Anmaßung und hinterhältig gegen Hinterhältigkeiten vorgehen will.


Persönliche Betroffenheit und Identifikation


Es ist zwar selbstverständlich, dass das Oberhaupt der Katholiken für die Würde der Religionen eintritt und Herabwürdigungen deshalb nicht gutheißen kann. Aber jede persönliche Betroffenheit, wie sie im Beispiel der Beleidigung der eigenen Mutter ausgedrückt wird, zeugt von einer persönlichen Identifikation, die schon an anderer Stelle genauer beleuchtet wurde. Nicht einmal das Oberhaupt einer Kirche muss in der Weise mit der eigenen Institution identifiziert sein, dass eine Kritik an ihr zu einer persönlichen Verletzung führt. Wenn die Unterscheidung zwischen der Institution und der eigenen Person klar ist, kann die Reaktion auf eine Grenzüberschreitung flexibler und menschenwürdiger ausfallen, als sie ein Faustschlag darstellt. 


Die Selbstverständlichkeit des Glaubens


Glaube und Religion haben im Westen die Aufklärung durchlaufen oder durchlitten, je nachdem. Durch diese Geistesströmung, die auch eine Weiterentwicklung des Bewusstseins mit sich brachte, hat sich der Anspruch der Religionen auf alleinige oder letztgültige Welt- und Daseinserklärung relativiert. Andere Instanzen wie z.B. die Wissenschaften sind als Konkurrenten aufgetaucht. Die Glaubensinhalte und Glaubensgemeinschaften haben in den nach-aufklärerischen Gesellschaften ihre Selbstverständlichkeit verloren. Sie mussten sich von geschlossenen zu offenen Systemen weiterentwickeln. Auf diesem neu gewonnenen Boden der Grundfreiheiten gedieh auch eine neue Form der radikalen Religionskritik, wie sie z.B. im 19. Jahrhundert bei Feuerbach, Marx und Nietzsche nachgelesen werden kann. Die pluralistische Welt der Moderne ist gekennzeichnet durch ein Nebeneinander unterschiedlicher Sinnangebote, die sich gegeneinander durch kritische Auseinandersetzung abgrenzen.

Die Kirchen mussten ihren Platz in der Gesellschaft neu definieren. Wie schon ausgeführt, konnten sie in der „Verletzung religiöser Gefühle“ als strafrechtlichem Tatbestand in einigen Staaten eine Sonderstellung aus der vormodernen Epoche herüberretten.

Die Länder des nahen, mittleren und fernen Ostens sowie Nordafrikas, also die Länder, in denen der Islam vorherrscht, haben die Geistesströmung der Aufklärung nur ansatzweise und oft kontrovers durchlaufen. Aufklärung wurde in vielen Fällen mit Kolonialismus zusammengebracht und deshalb abgelehnt. Die große Mehrheit der dortigen Gesellschaften ist von der voraufklärerischen Einstellung zur Religion gekennzeichnet: Religion ist ein selbstverständlicher unhinterfragbarer Teil des Lebens. Die Inhalte des Glaubens gelten selbstverständlich. Wer sie in Frage stellt, stellt sich außerhalb der Selbstverständlichkeiten und muss deshalb ausgegrenzt werden. Wer die Selbstverständlichkeiten von außen kritisiert, muss zum Schweigen gebracht werden.

Im Interview des Papstes kommt diese Selbstverständlichkeit ebenfalls vor: Die Mutter muss in jedem Fall vor Beleidigung geschützt werden. Das vierte Gebot schreibt vor, Vater und Mutter zu ehren, also in ihrer Würde zu achten. So wie dieses Gebot ganz grundsätzlich gilt (es sorgt ja dafür, dass es uns „wohlergehe auf Erden“), gilt auch die Einstellung Gott gegenüber grundsätzlich, wie sie in den ersten drei Geboten angeordnet wird. Es geht dabei nicht um den Inhalt: Kinder sollen ihre Eltern ehren und würdigen.

Die Form der absoluten Geltung ist das aus der nach-aufklärerischen Sicht problematische: Schon was die Eltern anbetrifft, sagen Kinder, die auf eine Geschichte von Missbrauch und Vernachlässigung zurückblicken, dass sie keinen Grund sehen, ihre Eltern zu ehren. Diesen Menschen ergeht es nicht wohl, weil sie von ihren Eltern nicht geehrt wurden, und nicht, weil es ihnen an Wertschätzung für sie gemangelt hätte. Wir können verstehen und nachvollziehen, dass nur Eltern die Ehre verdienen, die auch Ehre geben können.

Wir können deshalb aus der modernen Sicht den Respekt der Kinder ihren Eltern gegenüber nicht einfordern oder als unverrückbare Notwendigkeit darstellen. Vielmehr sehen wir, dass dieser Respekt ganz von selber entsteht, wenn die Eltern den Kindern geben, was diese zum Aufwachsen benötigen, und dass er dann nicht gedeihen kann, wenn die Eltern, aus welchen Gründen auch immer, den Kindern die Eltern schuldig bleiben.

Die Gleichsetzung der Würdigung der Mutter mit der Würdigung der Religion fußt offensichtlich auf dieser Selbstverständlichkeit der Geltung. So wie die Mutter geehrt und vor Beleidigung geschützt werden muss, so muss die Religion gegen entehrende Angriffe verteidigt werden. Beides kann das nach-aufklärerische Denken nicht mehr als Selbstverständlichkeit hinnehmen, sondern als Maxime, die in jedem Fall überprüft werden muss und aus unterschiedlichen Blickpunkten unterschiedlich bewertet werden kann.


In Kommunikation bleiben


Dann können die Brücken der Kommunikation und des Dialogs aufrecht bleiben. Der, der sich beleidigt fühlt, kann mit der Person, die das ausgelöst hat, in Kontakt und im Austausch bleiben. Auf diese Weise entsteht ein Verständnis, das es dem Kritiker ermöglicht, das Objekt der Kritik mehrdimensionaler und offener wahrzunehmen. Der Kritisierte vermag, differenzierter mit der Kritik umzugehen und für sich zu entscheiden, was an der Kritik berechtigt und deshalb hilfreich und was an ihr unfair ist oder aus Missverständnissen oder Vorurteilen stammt. So kann eine Geschichte nach dem Muster: Beleidigung gefolgt von gewalttätiger Reaktion zu einer Geschichte des Lernens und Reifens für alle Beteiligte werden. Wo sich Lernfelder öffnen, wird die Welt weiter und vielfältiger, wo Gewalt angewendet wird, wird sie enger und düsterer.


Vgl. Meinungsfreiheit und religiöse Gefühle 
Die Freiheit der Kunst und religiöse Gefühle 
Was heißt: Ein religiöses Gefühl verletzen? 
Religiöse Gefühle versus Meinungsfreiheit 

Freitag, 16. Januar 2015

"Religiöse Gefühle" versus Meinungsfreiheit

Gewaltfreiheit und Meinungsfreiheit


In der Debatte um die Verletzung religiöser Gefühle versus Meinungsfreiheit wird die Facette ins Spiel gebracht, dass westlich-demokratische Staaten mit zweierlei Maß mäßen: Einerseits werde islamischen Predigern, die radikale Positionen vertreten, Einhalt geboten, andererseits dürften Medien antiislamische Inhalte verbreiten, ohne mit Konsequenzen rechnen zu müssen. Der Klammersatz dazu ist dann, wenn die Konsequenzen nicht vom Staat gezogen werden, solle man sich nicht wundern, wenn Privatpersonen zur Selbstjustiz greifen.

Dabei wird übersehen, dass Medien in westlichen Staaten, wenn sie religiöse Inhalte kritisieren oder für Satiren verwenden, zum Unterschied von manchen islamischen Predigern nicht zur Gewalt aufrufen, und wenn das geschähe, würde das sofort Konsequenzen nach sich ziehen. Ein Vorteil einer offenen Gesellschaftsform liegt darin, dass Abweichungen vom demokratischen Kurs sofort an die Öffentlichkeit kommen und damit ihre verführerische Kraft verlieren. Im Scheinwerferlicht will niemand intolerant und undemokratisch erscheinen oder traut sich, zu willkürlicher Gewalt aufrufen.

Wer gegen diese Grundlagen der offenen Gesellschaft arbeitet, muss damit rechnen, an die Öffentlichkeit gebracht zu werden. Die Kraft der Publizität lliegt im breiten gesellschaftlichen Konsens, Meinungsverschiedenheiten mit friedlichen Mitteln zu regeln, der ein Kennzeichen der westlichen Demokratien ist (auch wenn es oft mehr Ideal als Realität ist).

Gewaltfreiheit und Meinungsfreiheit gehören eng zusammen. Mit der Fähigkeit, andere Meinungen zu tolerieren, wächst die Fähigkeit, von anderen Meinungen zu lernen und damit in den eigenen sozialen Kompetenzen zu wachsen. Je mehr von diesen Verhaltensmöglichkeiten zugänglich werden, desto weniger wird die primitive Form der Gewalt notwendig. Es stehen viel mehr an eleganteren Alternativen zur Verfügung.

Religionen des Kleinglaubens


Versammeln Religionen vor allem Mimosen unter sich, die sofort leiden, wenn jemand die eigene Religion angreift? Brauchen solche Mimosen nicht eher eine Therapie oder zumindest eine Bestärkung ihres Glaubens als den Schutz des Staates? Warum können wir nicht eine Ebene der Reife von den Menschen einfordern, die besagt, dass es zumutbar ist, die Verantwortung für die eigenen Gefühle zu übernehmen, statt diejenigen zu bestrafen, die diese Gefühle auslösen? Warum können wir nicht verlangen, dass Menschen auf eigenes Risiko am öffentlichen Leben teilnehmen und sich auf eigene Verantwortung dort wieder zurückziehen, wo sie Gefahr laufen, in ihren Empfindlichkeiten gestört zu werden? Das könnte einfach darin bestehen, das eigene Fernsehgerät ab- oder umzuschalten, bestimmte Zeitungen nicht zu kaufen, bestimmten Reden nicht zuzuhören usw. Das würde das Leben der empfindsamen Gläubigen und das öffentliche Leben insgesamt vereinfachen und entlasten. Dann kann jeder seine Meinungen verbreiten, der es will, und jeder die Meinungen rezipieren, der es will. Wem bestimmte Inhalte nicht gefallen, der rezipiert eben nicht und bleibt damit in seinen Gefühlen unverletzt.

Die Phrase, dass niemand die religiösen Gefühle einer anderen Person verletzen dürfe, dient zur Verschleierung der Person hinter den mysteriösen Gefühlen. Die Person muss ihre Gefühle weder erklären noch rechtfertigen, verlangt aber für sich das Recht, selber unhinterfragt respektiert zu werden, ohne sich selber bemühen zu müssen, die Person zu respektieren, die kritisiert. Die absolute Geltung wird auf die eigenen Gefühle gelegt, die allem anderen vorgeordnet wird, seien es die Gefühle der Kritiker oder die Vernunft. Also übernehmen die wegen ihrer Religion beleidigten Menschen keine Verantwortung für ihre Gefühle und konfrontieren sie nicht mit dem Denken oder der Vernunft. Gefühle ohne Verstand führen zu willkürlichen und rücksichtslosen Handlungen. Dieser moralische Mangel wird dann anderen zur Last gelegt, die unter Umständen mit der vollen Wucht der staatlichen Strafgerichtsbarkeit konfrontiert sind.

Was ist das für eine Religion, die solches Verhalten nicht bei den eigenen Mitgliedern zu ändern versucht, sondern statt dessen die Auslöser der Irritationen anklagen? Was ist das überhaupt für eine Religion, die den Staat braucht, um sich vor Verletzung und Beleidigung zu schützen? Wie attraktiv ist eine Kirche, deren Mitglieder sofort gekränkt aufschreien, wenn an ihrem Glauben Kritik geübt wird? Wo ist die Kirche der mündigen und selbstsicheren Menschen, die für sich und ihre Gefühle die Verantwortung übernehmen können?

Eine Kirche, die ihr Ohr vor allem für die Kleingläubigen offen hat und sie in ihrem Kleinmut bestärkt, wird zur Kirche der Kleingläubigen. Eine Kirche dagegen, die sich selber, ihre unterschiedlichen Mitglieder und ihre Praxis in der Gesellschaft immer wieder kritisch beleuchtet, kann sich in die offene Gesellschaft einfügen.

Nietzsche, gnadenloser Kritiker aller Formen von Heuchelei, hat geschrieben: "Eine Art von Redlichkeit ist allen Religionsstiftern und ihresgleichen immer fremd geblieben: Sie haben sich nie aus ihren Erlebnissen eine Gewissenssache der Erkenntnis gemacht: 'Was habe ich eigentlich erlebt? Was ging damals in  mir und um mich vor? War meine Vernunft hell genug? War mein Wille gegen alle Betrügereien der Sinne gewendet und tapfer in seiner Abwehr des Phantastischen?' So hat keiner von ihnen gefragt...." (Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, 4. Buch)

Respekt verdienen jene Glaubensformen, die ihre Anhänger ermutigen, den eigenen Glauben immer wieder zu prüfen und am Alltagsleben zu bewähren. Prüfung heißt, Ego und Vernunft, Gefühle und Reflexion unterscheiden zu können. Wenn die Ausrichtung auf Selbstüberprüfung im Zentrum steht, bleibt kein Raum für empfindliches Beleidigtsein, sondern es kann aus Schwachstellen die Quelle für Veränderung entstehen. Dann wird aus dem Glauben eine Kraft geschöpft, die keine Angst haben muss, vor jeder Kritik einzuknicken und deshalb davor geschützt werden will. Vielmehr kommt die Lust an der intellektuellen Auseinandersetzung und die Bereitschaft, sich und den eigenen Glauben selbstkritisch und humorvoll zu sehen. Nichts unter Menschen ist vollkommen, nichts muss vollkommen sein - das ist die Grundlage von Humor. Humor hat, wer mit der eigenen Identität spielerisch umgehen kann. Wer sie ängstlich fixieren und festhalten will, kann nicht über sich lachen.

Religionskritik und staatliche Willkür


In Ländern, in denen die Religion als Basisideologie des Staates gilt, werden noch immer Menschen verfolgt, die Religionskritik ausüben, weil sie die Grundlagen des Regimes bedrohen. Der gebräuchliche Terminus dafür ist "Beleidigung der Religion". Klar ist, dass Religionen nicht beleidigt werden können, weil sie keine Personen sind. Deshalb wird diese Art von "Verbrechen" genommen, um Gegner des regierenden Regimes zu bestrafen. 

Dazu ein paar traurige Beispiele, die aus meiner Sicht die immanente Grausamkeit der Religionen anzeigen, die die Staatsmacht nutzen, um kritischen Individuen das Kreuz zu brechen und damit das Weiterwachsen von unverantwortlichen Glaubensformen fördern.

  • Saudi-Arabien: Der Blogger Raif Badawi, der für die gleichen Rechte
    unterschiedlicher Religionen kämpft, wurde zu 10 Jahren Gefängnis und 1000 (tausend!) Peitschenhieben verurteilt. 
  • Ägypten: Der Student Karim Ashraf Mohamed al-Bann, der sich selbst als Atheist bezeichnet, hat drei Jahre Gefängnis wegen "Beleidigung des Islams" ausgefasst. 
  • Türkei: Starpianist Fazil Say, Atheist und Regierungskritiker, hat eine bedingte Freiheitsstrafe von zehn Monaten ausgefasst "wegen Verletzung der religiösen Werte eines Teils des Volkes." 
  • Philippinen: Carlos Celdran, Künstler, Satiriker und Aktivist, wegen "Verletzung religiöser Gefühle" zu drei Jahren Gefängnis verurteilt. Grund: Eine Protestaktion vor der Kathedrale in Manila.

Dienstag, 13. Januar 2015

Ist der Terror islamisch?

Viele lassen sich diese Tage zu einem Kurzschluss verführen. Terroranschläge in Paris, Massaker in Nordnigeria, Bürgerkrieg in Syrien und im Jemen, Anschläge im Irak, in Afghanistan und Pakistan, überall sehen wir Moslems als Gewalttäter. Stimmt es also, dass der Terror islamisch ist?

Das andere Bild: Unter den Terroropfern von Paris ein Muslim, unter den Geiseln einer, der viele in Sicherheit gebracht hat, unter den Helfern Muslime usw. Muslime sind ebenso von den Terrortaten betroffen (als Opfer oder emotional) und arbeiten gegen die Terroristen wie Nicht-Muslime. Der Terror ist Terror, und die "Religionisierung", also die Zuordnung zu einer Religion, ist eine andere Sache, die aus verschiedenen Interessen von Teilen der Gesellschaft betrieben wird. Sie muss aber kritisch betrachtet und immer wieder auf ihre Stichhaltigkeit überprüft werden.

Denn auch wenn Verbrecher Verbrechen im Namen der Religion begehen ("Gott will es", haben sich die Kreuzfahrer auf die Fahnen und Schilde geheftet), hat das nicht direkt mit der jeweiligen Religion zu tun. Es gibt keine Religion, die Gewalt im Zentrum ihrer Lehre hat. Religionen predigen primär die Menschenliebe, das Eintreten für Schwache, die Abkehr von Gier und Hass usw.

In Randbereichen setzen sie sich auch mit Fragen der Gewalt auseinander und diskutieren Fälle, in denen Gewalt gerechtfertigt sein kann. Dabei zeigt sich die Entfernung vom Zentrum, denn es gibt da keine eindeutigen Antworten. Soll man immer die zweite Backe hinhalten, wenn die eine schon eins draufgekriegt hat, wie Jesus empfohlen und Gandhi vorgelebt hat? Soll man zulassen, dass Angehörige der eigenen Religion unterdrückt und niedergemetzelt werden? Das sind Fragen, auf die es keine eindeutige und verbindliche Antwort geben kann wie auf die allgemeinere, dass wir unsere Mitmenschen lieben sollen.

Religion und Gewaltfreiheit


Wenn Verbrecher Verbrechen im Namen der Religion begehen, ist das eine Ausrede und durch keine Religion gedeckt. Es gibt keine Glaubensgemeinschaft, die Verbrechen gutheißt oder befiehlt. Es gibt immer wieder Aussagen, die zweideutig sind (z.B. Jesus: "Ich bin nicht gekommen, um den Frieden zu bringen, sondern das Schwert."). Daraus eine Berechtigung für Gewalttaten abzuleiten, unterliegt der persönlichen Verantwortung und kann nicht einfach und direkt aus einer Religion abgeleitet werden.

Die Ideen der Gewaltfreiheit und der Gewaltlosigkeit stammen zum größten Teil aus dem Fundus der Religionen. Viele Vertreter dieser Richtung haben sich auf Religion berufen. Das hat auch eine gewisse Logik: Es können über die Zeit nur Bewegungen überleben, die die Gewaltfreiheit in ihrem Zentrum haben. Bewegungen, deren Hauptanliegen die Gewalt ist, gehen über kurz oder lang durch dieselbe unter.

Die Bildungsgesellschaft und die Vorurteile


Auch wenn durch die Ereignisse mehr Wissen über den Islam in den öffentlichen Diskurs einfließt, wachsen andererseits die Vorurteile: Wer früher wenig über den Islam wusste, hat sich möglicherweise inzwischen weitergebildet, weil auch auf Bildungsniveau über den Islam, die Inhalte des Glaubens und die Rolle der Gewalt in diesem Zusammenhang diskutiert wird. Wer früher nichts oder fast nichts wusste, hat möglicherweise neue Vorurteile übernommen, die wohlfeil in großer Zahl und mit zunehmender Publizität angeboten werden. Das ist der Hintergrund für das Anwachsen der Islamophobie, die interessanterweise nicht mit dem Anteil der Muslime in der Gesellschaft korreliert, sondern dort höher ist, wo weniger Muslime leben.

Es ist schwer zu verstehen,wenn Menschen anderen Gewalt antun. Deshalb ist der Griff nach Vorurteilen eine bequeme Möglichkeit, damit klar zu kommen. Wir fixieren die feindliche Gruppe, und schon fühlen wir uns ein Stück sicherer (der Feind ist sichtbar) und zugleich ein Stück unsicherer (der Feind ist sichtbar). Mit dem Fixieren des Feindbildes fixieren wir unsere eigene Gruppe auf Feindschaft. Das gibt uns wieder mehr Sicherheit - wir sind viele, die gleich empfinden - und mehr Unsicherheit, weil die Bedrohung damit zu einem Stück der eigenen Identität geworden ist. Darin besteht die Leistung von Bewegungen wie Pegida oder Parteien wie die FPÖ. Sie bestärken sich selbst in den Vorurteilen, die mit Angst versetzt sind, und zwingen ihre Anhänger zum Zusammenschluss, als einzigem Mittel, um der Angst etwas entgegen zu setzen.

Ähnliche Mechanismen führen auf der anderen Seite zur Bildung von Terrorgruppen. Die Dynamik ist ähnlich, weil sie von ähnlichen Ängsten gespeist ist, nur die Ausformung nimmt die gegenteilige Richtung. So wird der Angstmarkt aufgeteilt.

Eine nette Verschwörungstheorie wäre dann, dass IS und Al Qaida insgeheim zusammen mit den islamophoben Rechtsgruppierungen auf die Machtergreifung hinarbeiten - die einen übernehmen die Staaten der islamischen Welt, die anderen jene der christlichen. Die Islamophobiker brauchen jihadistische Gewalttaten, um erfolgreich zu sein, genügend Zulauf zu bekommen und schließlich die Machtpositionen einzunehmen, die Jihadisten brauchen die Islamfeinde, um weitere todessehnsüchtige Anhänger zu rekrutieren, Finanzmittel zu erhalten und ihre Gewalttaten (die ja immer wieder und in großer Zahl Moslems als Opfer fordern) zu rechtfertigen - eine Allianz, die natürlich in Realität nicht besteht und nie zustande kommen wird, aber zeigt, wie sich zwei Enden eines Spektrums in ihren Zielen und sogar in ihren Mitteln ähnlich werden können. (Wer historisch denkt, dem fällt die Allianz zwischen Hitler und Stalin von 1939 ein, zwei extrem hasserfüllte und machtgierige Diktatoren, die sich trotz gegenseitigem Hass und Misstrauen zum Zweck der Machterweiterung verbündeten.)

Die Mitte stärken


Was die demokratische und an einer Ausweitung der Toleranz interessierte Zivilgesellschaft beachten muss, ist die Tendenz, dass die Extreme an den entgegengesetzen Rändern des Toleranzspektrums weder medial noch argumentativ aufgewertet werden. Solange sie so winzig sind im Vergleich zur breiten Zentralschicht nicht nur in den "westlichen", sondern zunehmend in allen Gesellschaften, die sich für eine breite Bildung der Bevölkerung öffnen, können sie nur marginalen Schaden anrichten. Auch wenn jeder unbeteiligte und unschuldige Mensch, der dabei sein Leben lassen muss, zuviel ist und betrauert wird, ist es nicht möglich, mit Terrorakten die Gesellschaft als solche auszuhebeln oder total in Besitz zu nehmen.

Selbst die beinahe 3000 Todesopfer von 9/11 haben nicht bewirkt, dass die US-Gesellschaft islamischer oder islamfreundlicher geworden wäre, vermutlich trifft das Gegenteil zu. Die negativen Folgen des Attentates liegen auf der Ebene, wo sich das Zentrum der Gesellschaft durch die damals vorherrschende Politik in einer Art Bunkermentalität zusammengezogen hat und sich dem Gegenextrem genähert hat, statt in der gesellschaftlichen Mitte zu bleiben und diese auszuweiten und zu stärken. Die massive Militarisierung des Terrorthemas durch die Bush-Regierung, die zu einer Reihe von äußerst verlustreichen Kriegen geführt hat, hat mit großer Sicherheit den anderen Rand gestärkt und die terroristischen Aktivitäten auf der Welt, vor allem im mittleren Osten intensiviert, und dort ein paar Staaten ruiniert hat.

Risikogesellschaft


Die jüngsten Attentate haben wieder gezeigt, was seit 9/11 zu Bewusstsein gekommen ist. Seither ist kein Staat vor Terror geschützt und auch schützbar. Es ist unmöglich, die Gesellschaft vor dem Wahnsinn Einzelner und kleiner Gruppen perfekt abzusichern. Es kann nicht vor jedes Geschäft oder jede Zeitungsredaktion ein Antiterrorkommando abgestellt werden. Es wird immer wieder Überfälle, Verletzte und Todesopfer geben, vielleicht wir selber auch darunter. Es wird zugleich die breite Zivilgesellschaft weiterbestehen, wenn sie sich nicht von einem Ende, von einem Extrem in Geiselhaft nehmen lässt, sondern mutig und klar die Werte hochhält, für die die Generationen vor uns gekämpft haben.

Die Antwort auf das zunehmende Gefühl der Unsicherheit und des Risikos sollte nicht sein, mehr an den Rand zu rücken und Schutz in Vorurteilen, Ausgrenzungen und Diffamierungen zu finden, sondern die Mitte zu stärken und auszudehnen, also statt Vereinfachungen für die Verwaltung der Komplexität zu sorgen. Bildung und Reflexion und auch die freie Ausübung der Kunst sind die Instanzen, die im öffentlichen Austausch der Meinungen tonangebend sein sollen, damit die auf Menschlichkeit beruhende Vernunft so weiterwachsen kann, dass die Extreme ihre Attraktivität verlieren.

Gewaltprävention


Das Psychogramm der Täter ist nicht sehr abwechslungsreich. Es erkennt immer wieder gescheiterte, psychisch labile und aggressive Persönlichkeiten, die dann von einer Ideologie infiziert werden und so gewaltbereit werden. Religiös sind sie schwach gebildet und herkunftskonditioniert. Vermutlich tragen sie Traumatisierungen nicht nur aus dem eigenen Leben, sondern auch aus den Generationen vor ihnen epigenetisch in sich.

Gewaltprävention erfordert Eingliederung. Jede Ausgrenzung erzeugt mehr Aggressivität, weil sie in sich aggressiv ist. Eingliederung erfordert den Angstabbau im Zentrum der Gesellschaft. Die angst- und vorurteilsfreie Einstellung müssen die Angehörigen des Zentrums denen entgegenbringen, die von der Peripherie kommen. Dann können diese ihre Ängste abbauen, was ihnen die Eingliederung erleichtert.

Die Fähigkeit zur Differenzierung


Ein Kennzeichen einer aufgeklärt demokratisch-toleranten Gesellschaft ist die Differenzierungsfähigkeit. Verallgemeinerungen, Schablonen und Klischees, die Vorurteile produzieren, müssen immer wieder überprüft werden. Differenzieren heißt Unterscheiden: Das Einzelne und das Allgemeinere. Viele Attentate und Terrorakte werden von Menschen begangen, die sich zum Islam bekennen. Viele andere Attentate haben nicht diesen Hintergrund. Dort, wo es diesen Zusammenhang gibt, muss er auch benannt und mit berücksichtigt werden, von den Muslimen und Nicht-Muslimen. Zugleich muss im Blick bleiben, dass im Vergleich zu 1,8 Mrd. Muslimen auf der Welt die Zahl derer, die Gewaltverbrechen begehen, verschwindend gering ist.

Die Arbeit an der eigenen Differenzierungsfähigkeit hängt mit Bildung und Reflexion zusammen und benötigt den Abbau der inneren Ängste. Gewalt ist eine sehr einfache und kurzsichtige Form der Interessensdurchsetzung und eigenen Absicherung. Deshalb ist jeder Schritt im inneren Wachstum, sowohl in kognitiver wie in emotionaler Hinsicht, verbunden mit einer Entfernung und Distanzierung von Gewaltbereitschaft und zugleich mit einer Öffnung des Horizonts, der für den Ausbau einer einladenden, also nicht ausgrenzenden Gesellschaft notwendig ist.

Sonntag, 11. Januar 2015

Was heißt: Ein religiöses Gefühl verletzen?

Was ist ein religiöses Gefühl?


Als religiöse Gefühle bezeichnet man z.B. die Erfahrung der Liebe Gottes, die Freude über die Auferstehung, die Erlösung von Schuld oder der Weite der Schöpfung, also innere Befreiungserfahrungen, die mit religiösen Inhalten in Zusammenhang gebracht werden. Es können auch Schuld- und Schamgefühle, Ängste vor einem rachsüchtigen oder strafenden Gott usw. zu den religiösen Gefühlen gerechnet werden, also das, was Erwin Ringel als "ekklesiogene Neurosen" beschrieben hat. Genauer betrachtet, handelt es sich also bei religiösen Gefühlen um verschiedene Wachstums- oder Schutzgefühle, die mit religiösen Inhalten verknüpft sind. Erst durch das Hinzufügen des kognitiven Gehalts wird aus einem x-beliebigen Gefühl ein religiöses.

Was heißt: Ein Gefühl verletzen?


Wir verletzen jemanden, also eine Person, wenn wir unachtsam sind, und nicht ein Gefühl. Wir bewirken durch unser Verhalten ein Gefühl des Verletztseins bei der anderen Person. Bei der "Verletzung religiöser Gefühle" geht es eigentlich darum, dass sich eine Person verletzt fühlt, wenn wir z.B. Gott lästern. Die Person fühlt sich in ihrem Glauben nicht geachtet. Wir können das klarstellen, indem wir zwischen dem Glauben der Person, den wir achten sollten, und dem Gegenstand des Glaubens unterscheiden, zu dem wir unsere eigene Einstellung und Meinung haben dürfen. Wir müssen unsere Kritik nicht in einer Sprache äußern, die die andere Person vor den Kopf stößt (denn dann ginge es uns eigentlich darum, die andere Person zu lästern), sondern können sagen, dass das unsere Meinung und Sichtweise ist, auf die wir auch ein Recht haben, so wie die andere Person auch auf ihre.

Öffentlich geäußerte Kritik oder Lästerung eines religiösen Inhalts ist Teil der Meinungsfreiheit. Wer sich davon verletzt fühlt, sollte dem Autor der Kritik nicht böse sein, sondern sich klar machen, dass das dem eigenen Glauben nichts anhaben kann und noch weniger dem Objekt der Schmähung. Wer den Autor der gegenteiligen Meinung persönlich angreift, statt dessen Meinung die eigene entgegenzustellen, bringt die Auseinandersetzung auf eine persönliche Ebene, wo sie nicht hingehört. 

Damit wird ein unnötiger Streit entfesselt, der darauf hinweist, dass eine Identifikation ins Spiel gekommen ist: Die Person, die sich verletzt fühlt, hat sich mit dem religiösen Inhalt identifiziert, indem sie z.B. denkt: "Ich bin der Gott, der geschmäht wird, also werde ich geschmäht", oder gelinder: "Ich muss den Gott verteidigen, der geschmäht wird", als würde dieser Gott in Gefahr sein, obwohl eigentlich nur mein Glaube an ihn in Gefahr gerät. Ich verteidige durch den Angriff auf den Angreifer meines Glaubens diesen meinen Glauben vor einer Verunsicherung. 

Sobald ich in dieser Weise reagiere, bedeutet das, dass mein Glaube den Test nicht bestanden hat, also zu schwach ist, um dem kritischen Angriff standzuhalten. So muss ich zum Gegenangriff übergehen, bei dem es dann gar nicht mehr um die Kritik geht, sondern darum, dass mein Glaube nicht in Frage gestellt werden darf, weil er zu fragil ist. Ein starker Glaube hält jedem Angriff stand, schließlich kann niemandem selbst mit ärgster Gewalt der Glaube weggenommen werden.

Wenn für das staatlich garantierte Recht auf Schutz von religiösen Gefühlen argumentiert wird, wie z.B. in einem Artikel in der WELT, werden leicht die Ebenen vermischt. Es wird dabei gerne so argumentiert: Der Staat schützt ja Gefühle, z.B. durch die Strafandrohung auf Beleidigung, Verleumdung, üble Nachrede usw. Wenn ich jemanden einen Trottel schimpfe, kann mich die beschimpfte Person auf Ehrenbeleidigung klagen. Damit will der Gesetzgeber verhindern, dass Menschen verbal übereinander herfallen. Weiters wird gesagt, dass der Staat auch Personen vor sexuellem Missbrauch schützt, wo es auch um verletzte Gefühle ginge. Also sollte der Staat auch seine Bürger vor der Verletzung ihrer religiösen Gefühle schützen.

Zunächst besteht die Ungereimtheit der Argumentation in der Verwechslung von Person und Gefühl: Verletzbar und deshalb vom Staat schützenswert ist die Person und ihre Integrität und nicht ein Gefühl. Verletzungen dieser Integrität können Gefühle auslösen. Im diskutierten Fall geht es darum, dass sich jemand verletzt fühlt, weil seine religiöse Anschauung nicht ernst genommen oder beleidigt wird, und diese Anschauung mit der eigenen Integrität verbunden ist.

Die Vermischung der Ebenen besteht darin, dass es bei den Fällen von Ehrenbeleidigung bis Verleumdung um die persönliche Integrität und öffentliche Stellung eines Menschen geht. Wird ein Geschäftsmann zu Unrecht als Betrüger beschimpft, schadet ihm das als Person und in seinem Beruf. Dagegen muss er sich zur Wehr setzen können, notfalls mit Unterstützung des Staates. Beschimpft jemand eine religiöse Instanz, z.B. den heiligen Josef oder den Erzengel Gabriel, so sind das keine Personen im rechtlichen Sinn; wenn es solche wären, könnten sie natürlich die Ehrenbeleidigung einklagen. Betroffen fühlen sich aber Personen, die diese Instanzen verehren und an sie glauben. Angegriffen wird jedoch diese Verehrung und dieser Glaube und nicht die Person, die verehrt und glaubt, oder ihre Integrität. 

Völlig abwegig erscheint in diesem Zusammenhang das Beispiel vom sexuellen Missbrauch, bei dem ja massiv die Integrität der Person verletzt wird, und nicht irgendwelche Gefühle. Diese entstehen unweigerlich und tiefgreifend durch den Missbrauch. Nirgendwo in einem Strafgesetzbuch steht, dass Missbrauch deshalb unter Strafe gestellt ist, weil dabei Gefühle verletzt werden. Dann wäre Missbrauch erlaubt, wenn dabei Gefühle keinen Schaden nähmen.

Anders liegt der Fall, wenn jemand eine andere Person direkt wegen ihres Glaubens abwertet: "Du bist ein Idiot, weil du an die unbefleckte Empfängnis Mariens glaubst." Da geht es um eine Beleidigung und Missachtung der Ehre, also der Integrität der Person. Der Beleidiger zielt primär auf die Person und nutzt dazu nur den Glaubensinhalt. Wenn aber jemand sagt, dass er die Unbeflecktheit der Empfängnis Mariens für einen Schwachsinn hält, kann sich zwar jemand persönlich betroffen fühlen, aber nur über den schon beschriebenen Vorgang der Identifizierung. 
Sobald also reale Personen zusammen mit Glaubensinhalten auf unsachliche Weise abgewertet werden, sollte auch staatliche Hilfe bei der Durchsetzung der eigenen Integrität gewährt werden, dafür sind die Kategorien wie Ehrenbeleidigung oder Rufschädigung usw. ausreichend, die ja für die verschiedensten Fälle gedacht sind. Eine eigene Kategorie im Sinn der religiösen Gefühle erscheint mir nicht nachvollziehbar. Schließlich gibt es auch keinen Schutz vor der Verletzung von philosophischen, ästhetischen, ethischen oder spirituellen Gefühlen. Diese Sonderstellung des Religiösen scheint noch als Relikt aus den Zeiten der innigen Verwobenheit von Staat und Religionsgemeinschaften übrig geblieben zu sein. 

Kritik, die von Hass und Abwertung geprägt ist, gleich an welcher Sache und an welchem Thema, stellt sich selber ins Eck, auch wenn sie gegen Glaubensinhalte gerichtet ist, und verdient nicht, ernst-, geschweigedenn persönlich genommen zu werden. Der emotionale Hintergrund, aus dem sich der Hass speist, ist das eigentlich beachtenswerte, und auf diesen sollte die Öffentlichkeit reagieren. Hasserfüllte Religionskritik muss nicht wegen der Verletzung religiöser Gefühle durch die Zivilgesellschaft und im Extremfall durch den Staat bekämpft werden, sondern wegen des zerstörerischen und gemeinschaftsschädigenden Impulses, der im Hass beinhaltet ist. Intoleranz, gleich von welcher Seite, muss in einer Gesellschaft, in der die Integrität der Menschen und ihrer Gefühle zentral sind, durch Toleranz ersetzt werden.

Was heißt: Beleidigung einer Religion?


Religionen sind keine Menschen, also können sie nicht beleidigt werden. Sie sind in manchen Ländern Rechtsperönlichkeiten, und können sich als solche im Rahmen der Rechtsordnung gegen ungerechtfertigte Angriffe zur Wehr setzen. Wer sich als Mitglied oder Anhänger einer Religion beleidigt fühlt, wenn die eigene Religion abfällig kritisiert wird, ist mit seiner Religion identifiziert. Das ist gerade im Sinn der eigenen Religion ein Sakrileg und religiöser Größenwahn, d.h. der religiöse verletzte Mensch versündigt sich gegen seine eigene Religion. Niemand darf sich mit seiner Religion identifizieren. 

Deshalb wurde z.B. Jesus von den Juden hingerichtet. Er hatte von sich behauptet, Gott zu sein, das steht nach jüdischer Auffassung keinem Menschen zu. Im muslimischen Bereich werden nicht einmal Bilder von Allah gefertigt, weil er so weit von menschlichen Vorstellungen entfernt ist. Wer sich mit Allah identifiziert, versündigt sich. Also jede religiöse Person, die sich beleidigt fühlt, weil ein Teil oder das Ganze des eigenen Glaubens beleidigt wurde, hat sich im Sinn dieser Religion schon versündigt. 

Wenn jemand alle Anhänger einer Religion, z.B. alle Juden schmäht, also antisemitische Parolen verbreitet, so kann sich ein einzelner Jude nur dann beleidigt fühlen, wenn er sich als Repräsentant aller Juden sieht. Das ist auch eine Anmaßung. Unter Verwendung von kommunikativer Vernunft wird sogleich klar, dass die Schmähung auf mangelnder kommunikativer Vernunft beruht. "Alle Juden" können nicht über eine von allen gleichermaßen geteilte Eigenschaft verfügen, die geschmäht werden könnte. Der Schmäher hat also eine unsinnige Aussage gemacht, von der sich niemand betroffen fühlen muss und die niemand ernst nehmen braucht. 

Ernstgenommen werden sollte die Intention, die hinter der Aussage steht, denn wenn kommunikativ unvernünftige Aussagen gemacht werden, sind aggressive und hasserfüllte Gefühle der Antrieb. Deshalb sollten die emotionalen Hintergründe von solchen Aussagen Beachtung und Widerspruch finden, weil aggressive Aussagen (hinter denen aggressive Gedanken stecken, hinter denen wiederum demütigende Erfahrungen) zu aggressiven Handlungen führen können.

Die "Verletzung religiöser Gefühle", die jemand beklagen mag, ist die Verletzung eines maßlos aufgeblähten Egos, das sich im ärgsten Fall mit einem Gott identifiziert hat, mit einer Religion oder mit allen Angehörigen einer Religion. Deshalb kommt es tragischerweise dazu, dass Menschen mit dieser Form des Größenwahns besonders "große Taten" setzen wollen, indem sie möglichst viele Menschen mit sich in den Tod reißen. In Wirklichkeit wollen sie nur ihr eigenes Ego in seiner Maßlosigkeit bestätigen. Bevor sie überhaupt noch zur Tat schreiten, versündigen sie sich schon an ihrer eigenen Religion.

Vgl. Meinungsfreiheit und religiöse Gefühle

Samstag, 10. Januar 2015

Der Achtsamkeitsboom und seine Grenzen

Als Achtsamkeitslehrer ist es mir auch wichtig, auf die Grenzen des Weges hinzuweisen. Jeder Weg hat seine Grenzen, links und rechts. Da gibt es andere Wege oder anderes Gelände. Wenn wir über die Grenzen eines Weges wissen, sehen wir ihn offen und veränderbar und können ihn mit einem Wegenetz in Verbindung bringen. Damit findet ein gegenseitiges Lernen statt, ein Lernen, das erweitert und bereichert. Die Grenzen sind offen und durchlässig, bleiben aber dennoch vorhanden.

Der Begriff "Achtsamkeit" (mindfulness) hat für viele Menschen das Tor zur Meditation geöffnet. Manche Menschen verbinden mit Meditation religiöse oder esoterische Praktiken, die in Sekten oder sektenähnlichen Organisationen gepflogen werden und meiden es deshalb. Andere wiederum sehen in Meditation einen mühsamen Weg - stundenlanges Sitzen ohne sich bewegen zu dürfen usw. "Achtsamkeit" dagegen klingt harmlos, unverfänglich und einfacher. Obwohl der Kern des Achtsamkeits-Weges die Meditation ist, geht es um noch mehr und um ein weiteres Feld: Achtsamkeit kann immer und überall praktiziert werden, in der Arbeit, in Beziehungen, in einfachen wie in komplexen Tätigkeiten.

Deshalb nimmt die Achtsamkeitspraxis immer mehr Raum ein, sodass man von einem Achtsamkeitsboom sprechen kann. Jon Kabat-Zinn, der Begründer von MBSR, mindfulness-based stress reduction, behauptet, dass Achtsamkeit "das Potenzial hat, eine universelle oder globale Revolution anzufachen, die .... sogar die europäische und italienische Renaissance in den Schatten stellen würde ... und die möglicherweise die einzige Hoffnung sein kann, die die Gattung und der Planet haben, um es die nächsten paar hundert Jahre zu schaffen." Achtsamkeitstrainings gibt es praktisch überall: für Promis, Geschäftsleute, Politiker und Sportler, in Kirchen und in Gefängnissen.

Beachtenswert ist auch der Boom an wissenschaftlichen Forschungen, die seit der Jahrtausendwende exponentiell wachsen. Waren es bis dahin 0 - 5 Forschungsarbeiten/Jahr, so ist inzwischen die Zahl auf 300 - 400 gestiegen. Sowohl die Stress- wie auch die Hirnforschung ist eingestiegen und hat wertvolle Erkenntnisse geliefert, die wiederum die Attraktivität des Achtsamkeits-Ansatzes bestärken.

Kann es stimmen, dass wir mit Achtsamkeit unser Leben so in den Griff bekommen, dass wir keine weitere Hilfe mehr brauchen? Müssen wir nur genug Achtsamkeit üben, unseren Geist beruhigen, und schon gleiten wir mühelos durchs Leben, frei von inneren und äußeren Konflikten, mit uns selber und mit allem um uns herum in ruhiger Aufmerksamkeit verbunden?

Jeffrey B. Rubin, selber Meditationslehrer und Psychoanalytiker, weist auf eine wichtige Grenze des Achtsamkeitsweges hin: "Meditation vernachlässigt die Bedeutung. Das öffnet nicht nur schweren Gefahren die Tür, sondern verwässert auch das radikale Potenzial der Meditation."

Jack Kornfield, Psychologe und buddhistischer Lehrer, schreibt: "Auch die besten Meditierer haben alte Wunden zu heilen". Es stimmt also nicht, wenn manchmal behauptet wird, dass Meditation oder Achtsamkeit alle Probleme auflösen kann und dass, wenn trotzdem noch Probleme bleiben, eben mehr meditiert werden muss. Hier schließt sich nämlich das System, die Offenheit des Weges geht verloren. Das Muster kennen wir: "Meine Methode funktioniert. Wenn sie nicht funktioniert, hast du sie zu wenig praktiziert." Da bleibt nur die Wahl: Sich voll und ganz der Methode zu verschreiben oder voll und ganz auszusteigen. Da gibt es dann die, die innen und die, die außen sind.

Eine offene Methode weiß um ihre Grenzen. Sie kann sagen, was sie leisten kann und was nicht, wo sie helfen kann und wo andere Methoden besser sind. Sie weiß, dass sie, auch wenn sie schon vielen Menschen geholfen hat, sich weiterentwickeln muss.

Es ist unbestritten, dass das Üben von Achtsamkeit unser Leben in vielen Bereichen verbessern und verändern kann. Aber wir müssen auch dorthin schauen, wo das Training der Aufmerksamkeit nicht weiterführt, ohne deshalb die Methode an sich schlechtzumachen.

Wenn z.B. jemand der Meinung ist, zuwenig zu meditieren, weil noch dies und jenes im Leben als störend und verstörend erlebt wird, so kann ein tieferliegendes Minderwertigkeitsgefühl und eine Angst vor Liebesverlust dahinter stecken. Je mehr nun die Person meditiert, desto stärker wird die Übung zu einem Kampf gegen das Persönlichkeitsproblem, das sich dadurch nur verstärkt. Wenn wir für uns die Meditation üben, verändert sich vieles in uns, doch bleiben die eingespielten Verhaltensmuster unberührt, weil unser Unbewusstes Mechanismen etabliert hat, sich selber gut zu schützen. Damit bleiben tiefliegende Themen für die Meditation unerreichbar. 

Den Weg der Therapie gehen wir immer mit einer anderen Person, der Therapeutin. Sie zeigt uns auf, wo wir uns selber täuschen und in die Irre führen. Sie bildet ein aktives und unbefangenes Gegenüber, das aus unseren Reaktionen ablesen kann, wo wir etwas vermeiden und uns selber beschwindeln. Dadurch öffnet die Therapie den Zugang zu tieferliegenden Themen, die ans Licht gehoben und aufgelöst werden können.

Die beiden Wege stehen aber nicht im Gegensatz, vielmehr können sie einander gut ergänzen. Wer meditiert, wird sich in der Therapie leichter tun, nach innen zu spüren und Rückmeldungen von außen anzunehmen. Klienten der Psychotherapie kommen gut weiter, wenn sie mit Meditation beginnen. Das Üben von Achtsamkeit wird den Therapieprozess beschleunigen und vertiefen. Außerdem bildet es ein Gegengewicht zur therapeutischen Beziehung, die damit auch von allzu hohen Erwartungen entlastet wird. Der Klient erkennt, dass er für sich und mit sich selbst auch arbeiten kann, und dass ihm diese Arbeit in der Therapie weiterhilft.

Für den Meditierer kann auch die Meditation eine neue Wirksamkeit bekommen: Inhalte, die bei der Meditation auftauchen, nach ihrer Bedeutung zu befragen, die dann in der Therapie entschlüsselt werden kann. Ein therapeutischer Rückhalt kann sich auch hilfreich oder sogar lebensrettend erweisen, wenn der Meditierende durch die Meditation in Zustände gerät, die er selber nicht mehr bewältigen kann. Um hier professionell unterstützen zu können, muss allerdings der Therapeut Erfahrungen mit spirituellen Krisen und deren Bewältigung haben. 

Sucht also jemand, der viel Erfahrung auf dem Weg der Achtsamkeit und Meditation hat, eine therapeutische Begleitung, was von Selbstverantwortung und Einsicht in die Grenzen der Meditation zeugt, dann sollte er bei der Auswahl darauf achten, dass der Therapeut oder die Therapeutin Meditationserfahrung hat und Achtsamkeit praktiziert. Erfahrungen im Umgang mit spirituellen Krisen und Notfällen sollten auch zu den Auswahlkriterien zählen.

Donnerstag, 8. Januar 2015

Meinungsfreiheit und religiöse Gefühle

Nach der Ermordung der Redaktionsmitglieder der Satirezeitschrift Charlie Hebdo steht wieder einmal das Verhältnis von Meinungsfreiheit und religiösen Gefühlen im Brennpunkt. Wenig Menschen werden die Verhältnismäßigkeit der angewendeten Mittel für gerechtfertigt halten: Menschen, die eine Zeitschrift produzier
Quelle: chip.de
en, deren Inhalte die eigenen Gefühle verletzt, dafür zu ermorden. 


Mehr Menschen werden die Meinung vertreten, dass es nicht in Ordnung ist, Religionen zu beleidigen und dass es dafür Konsequenzen geben muss. So hat z.B. die iranische Außenamtssprecherin Marsieh Afcham in einer Presseerklärung mitgeteilt, dass der Iran den Terroranschlag in Paris verurteilt. Terroranschläge gegen unschuldige Menschen hätten nichts mit dem Islam zu tun und seien daher inakzeptabel. Beleidigung von Religion und religiösen Persönlichkeiten unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit sei aber genauso inakzeptabel.

Für viele Menschen sind religiöse Gefühle nicht irgendwelche Stimmungen oder Launen, sondern repräsentieren ihre Einstellung zu dem, was ihnen am wichtigsten erscheint, also die höchste Wertigkeit in ihrem Leben. Wer hat es schon gerne, wenn sich andere über das, was einem selber wichtig ist, lustig machen. Für Staaten, die ihre Legitimität auf einer Religion begründen, bedeutet ein Angriff auf diese Religion zugleich einen Angriff auf die Legitimität. Deshalb bestrafen und unterbinden solche Staaten alles, was als Beleidigung ihrer Legitimitätsgrundlage empfunden werden kann.


Das Bedürfnis nach öffentlicher Meinungsfreiheit



Gegen den Schutz vor der Verletzung persönlicher Gefühle und Werte steht das Recht auf Meinungsfreiheit, Pressefreiheit usw. Diese Rechte wurden seit der Aufklärung mühsam erkämpft und zählen jetzt in den meisten Ländern zu den Grund- und Menschenrechten. Menschen wollen ausdrücken und veröffentlichen können, was sie denken und was ihnen wichtig ist. Sie wollen ihre eigenen Ansichten und Werte in den öffentlichen Diskurs einbringen und damit am Austausch von Meinungen teilnehmen. Dieses Bedürfnis kommt überall zum Tragen, wo Menschen über ihre Anliegen miteinander reden. Darüber hinaus besteht der Wunsch bei vielen, sich mit einer breiteren Öffentlichkeit auszutauschen  - die eigenen Gedanken allen Menschen zugänglich zu machen, die sich dafür interessieren, und von denen, die sich damit auseinandersetzen wollen, dann Rückmeldungen zu bekommen. Wenn man das anstrebt, kann man ein Buch schreiben, eine Zeitschrift herausgeben, Blogs verfassen usw. 

Wie stark dieses Bedürfnis nach Austausch in der Öffentlichkeit ist, zeigt das rasante Wachstum der sozialen Netzwerke. Seit es für alle Menschen, die das Internet nutzen können (ca. 3 Mrd. von 7,3 Mrd. - also rund 60% der Weltbevölkerung haben noch keinen Internet-Zugang), relativ einfach ist, eine Öffentlichkeit für die eigenen Meinungen zu bekommen, wird das auch entsprechend genutzt. Ob das, was da in das Netz eingespeist wird, trivial, obszön, hochintellektuell, peinlich, liebevoll oder beleidigend ist, spielt für das Medium, das www, primär keine Rolle. Das Netz ist ein Spiegel der Bandbreite des menschlichen Seins und seiner Ausdrucksmöglichkeiten und Ausdrucksbedürfnisse (ca. 1,4 Mrd. nutzen facebook, also ca. 53% der Internetnutzer sind nicht auf facebook vertreten).

Wenn wir unsere Ansichten veröffentlichen, treten wir in Diskurse ein. Dahinter steckt, neben Eitelkeiten und diversen anderen Ego-Bedürfnissen, auch der Wunsch, mit dabei zu sein, nicht nur bei der eigenen Gruppe, sondern darüber hinaus bei der Menschheit. Wir wollen im Rahmen dieser Menschengesellschaft gehört und gesehen werden, wir wollen, wie winzig auch immer, einen Unterschied einbringen und damit das Gefühl in uns stärken, dass wir dazugehören: Nicht bloß zu unserer Familie, Ortsgemeinschaft und Nation, sondern darüber hinaus zur Weltgemeinschaft. 

Die Meinungsfreiheit, die im Zug des Kampfes um die Menschenrechte durchgesetzt wurde, hat also globale Auswirkungen in Hinblick auf die Bildung des Weltbürgertums, also einer Zugehörigkeitsform, die alle Menschen in einem Boot sieht. Das ist die Perspektive, die wir benötigen, um die Probleme dieser Welt, die eben zunehmend globale sind, bewältigen zu können. Dazu brauchen wir alle Gehirne und alle Stimmen, die es auf dem Planeten gibt. Und diese können wir nur einbinden, wenn es eben die Freiheit der Meinungsäußerung gibt und Medien, über die die Meinungen veröffentlicht werden können. 

Deshalb ist die Meinungsfreiheit nicht irgendein Luxus, den Regierungen ihren Leuten zukommen lassen, wenn es passt und wieder abdrehen, wenn es zuviel wird. Sie zählt vielmehr zu den Überlebensnotwendigkeiten, die unser Weiterleben als Gattung gewährleistet. 


Die Beleidigung der Religion



Wie oben gesagt, sind für viele Menschen religiöse Werte sehr wichtig (Deutschland: 58% glauben an einen Gott). Sie wollen nicht, dass diese "herabgewürdigt werden". In Österreich gibt es dazu den § 188 des Strafgesetzbuches, der die Herabwürdigung und Verspottung religiöser Lehren sowie das Erregen eine "berechtigten Ärgernisses" unter Strafe stellt. Was auch immer diese Formulierungen, die Rechtsexperten als schwammig bezeichnen, besagen wollen, erachtet der Gesetzgeber religiöse Lehren als schützenswerte und schutzbedürftige Güter. 

Kritik daran gibt es von laizistischer Seite, also von Leuten, die Staat und Kirche streng trennen wollen und deshalb nicht einsehen, warum religiöse Lehren vom Staat geschützt werden sollten. Es werden ja auch nicht andere Lehren, wie z.B. der Quantenmechanik oder Pflanzenheilkunde staatlich geschützt. Wer nicht-religiöse Lehren, z.B. den Atheismus, herabwürdigt, geht straffrei aus. Offenbar gehen die entsprechenden Gesetze auf Zeiten zurück, in denen der Religion eine staatstragende Rolle zugesprochen wurde, was ja schon lange nicht mehr der Fall ist.

Unter Strafandrohung steht nicht die Religionskritik, die argumentative Auseinandersetzung um religiöse Lehren, auch nicht der Atheismus oder antireligiöse Einstellungen, sondern alles, was den religiösen Lehren die Würde abspricht und sie verspottet oder "besudelt", ein Ausdruck, der gerne in diesem Zusammenhang von Verteidigern der religiösen Lehren verwendet wird. Es geht also um moralische Verhaltensweisen, für die jemand verurteilt werden kann: Man darf niemandem die Achtung und Würde absprechen. Allerdings bleibt dabei vorausgesetzt, dass die Würde eines Menschen an seiner religiösen Lehre hängt. Wird diese verachtet, wird zugleich die Würde infrage gestellt, und das darf nicht geduldet werden.

Es wurde schon öfter darauf hingewiesen, dass der Kern einer Religion, also das, worum es den religiösen Menschen geht, gerade deshalb so wertvoll ist, weil es nicht von Menschen "gemacht" ist, sondern weil es aus besonderen, heiligen Quellen stammt. Es kann deshalb von Menschen gar nicht "in den Schmutz gezogen" werden, weil es von solchen kleinlichen Angriffen überhaupt nicht betroffen werden kann. Was wäre das für ein Gott, der beleidigt die Tür hinter sich zuschlägt, weil sich jemand über ihn lustig macht? Ein solcher Gott hätte schnell seine Anhänger verloren. 

Das Religiöse hat seine Aura davon, dass es etwas ausdrückt, was über das Alltäglich-Menschliche mit all seinen Schwächen und Fehlerhaftigkeiten hinausgeht. Es ist deshalb von sich aus schon jedweder Entwürdigung enthoben, die aus dem Bereich der menschlichen Empfindlichkeiten und Boshaftigkeiten stammt. 


Kunst und Religionskritik



Religion wie Religionskritik sind Teile einer demokratischen Lebenskultur. Die Religion steuert wichtige und wertvolle Elemente dazu bei, und ebenso die Religionskritik, die z.B. darauf aufmerksam macht, wo die Religion und ihre Vertreter in den Bereich der allzumenschlichen Gemeinheiten abgleiten, wo sich Religion mit Macht und Manipulation einlässt, wo im Namen der Religion Verbrechen wie Kindesmissbrauch begangen und vertuscht werden usw. 

Alles, was in der Lebenskultur vorkommt, kann auch Gegenstand der Kunst werden, die in ihrer Darstellungsweise das Allzu-Menschliche mit einer transzendenten (entfremdenden, dekonstruktiven) Sicht verbindet. Im Bereich der Kunst hat die Religionskritik noch einmal einen anderen Stellenwert, weil die Kunst selber ein Naheverhältnis zur Religion hat. Deshalb ist künstlerische Religionskritik immer auch künstlerische Selbstkritik. Am deutlichsten zeigt das die Satire, die sich nicht nur über den Gegenstand ihres Spottes lustig macht, sondern auch über sich selber. Z.B. schreibt heute die satirische Tagespresse:

Der Drohung zufolge müssten radikale Islamisten im ganzen Land jederzeit auf satirische Artikel, Fotomontagen oder sonstige Witze gefasst sein, die ihre mittelalterlichen, repressiven und martialischen Ansichten angreifen. Das Magazin sieht sich nach eigenen Angaben in einem Kampf um die „Meinungsfreiheit“, einer Ideologie, bei der einfach jeder jede Meinung vertreten darf.

Die Drohung versetzt die heimische Gemeinde der Terrorsympathisanten und Radikalen in Angst und Schrecken. Der IS-Sympathisant Abdul B. (24) aus Graz bestätigte gegenüber der Tagespresse den Eingang der Drohung: „Ich checkte gerade meinen Email-Account nach neuen Antworten auf meine Terrordrohungen. Da empfing ich diese schockierende Nachricht.“

Abdul B. lebt seither in großer Angst: „Ich traue mich nicht einmal mehr, mit meiner Kalaschnikow vor die Tür zu gehen. Ich habe solche Angst vor schweren Verletzungen meiner religiösen Gefühle!“ 


Durch eine Satire wird einer Sache ihre "tierische" Ernsthaftigkeit genommen, ihre Schwere, die meist aus Anmaßung und Überheblichkeit kommt. Menschliches, das mit dem Pathos des Übermenschlichen daherkommt, wird als das entlarvt, was es ist. Diesen Spiegel halten manche Menschen schwer aus, und deshalb reagieren sie mit Aggression und kaltblütiger Gewalt gegen alles, was ihr Selbstverständnis in Frage stellt, besonders aber dann, wenn es mit den Mitteln des Humors geschieht. Auch Hitler hat mit besonderer Grausamkeit auf alles reagiert, was sich "heimtückisch" über ihn lustig gemacht hat. Das Erzählen von regimekritischen Witzen wurde von den Nationalsozialisten mit der Todesstrafe geahndet.

Woher wollen wir wissen, ob nicht auch Allah über die Karikaturen zu seinem Propheten oder zu anderen seiner Verehrer lacht? Woher wollen wir wissen, ob sich nicht Allah sehnlichst wünscht, dass die Menschen lernen, anders mit ihren Meinungsverschiedenheiten umzugehen als mit Kalaschnikows? Und ob er darüber glücklich sein kann, wenn ein Mörder nach begangenem Massaker "Allah ist groß" schreit?

Sicher hat der Hass, der sich in solchen Gewalttaten Bahn bricht, andere Wurzeln als die Beleidigung einer Religion: biographische Traumatisierungen und kollektive Demütigungen. Aus einer größeren Distanz betrachtet, ist es ein sinnloser Versuch, die Entwicklung der Weltgeschichte und der Weltkultur aufzuhalten oder zurückzudrehen. Die Menschheit will die Freiheit der Meinungen und die Freiheit der Kultur, und dieser Trend kann nicht durch ein paar Brutalitäten abgebrochen werden. Jeder Mensch, der sich innerlich entscheiden kann, wird den Weg der Toleranz und Wertschätzung und nicht den Weg der Gewalt wählen. Er wird lieber kreativ etwas Neues aufbauen, statt Menschen und Dinge zu zerstören. Und er wird erkennen, dass es sich besser anfühlt, zusammen mit der Menschheit weiterzugehen, statt gegen dieses Weitergehen anzukämpfen.

Vgl. Was heißt: Ein religiöses Gefühl verletzen?

Bildung und Gewaltlosigkeit

Bildung ist eine Form des inneren Wachsens, eine Form der Therapie. Sie macht mit neuen Inhalten bekannt. Neue Inhalte bereichern das Innere und erweitern den Spielraum des Erkennens und Denkens. Dadurch erweitert sich auch der Spielraum
des Handelns. Wir werden flexibler und weltoffener. 

Im vergangenen Jahr gab es neben vielen anderen Grausamkeiten wieder gezielte Anschläge auf die Bildung, so z.B. das Kidnapping einer ganzen Mädchenschule in Nigeria durch die Boko Haram-Terrorgruppe (Boko Haram bedeutet soviel wie "Bücher sind Sünde") im April und der Angriff der Taliban auf eine Schule in Pakistan im Dezember. 

Malala Yousafzai, die als 17-jährige 2014 den Friedensnobelpreis bekommen hat, selbst Opfer des bildungszerstörenden Wahnsinns, schreibt: “Die Extremisten fürchten sich vor Büchern und Stiften, die Macht der Bildung macht ihnen Angst. Sie fürchten sich vor Frauen. ... Ich will keine Rache an den Taliban, ich will Bildung für die Söhne und Töchter der Taliban.” 

 Malala hat verstanden, dass Terror nur solange Bestand haben kann, als die Bildung minimiert bleibt. Ungebildete Menschen sind manipulierbare Menschen. Menschen, die Bildung genossen haben, haben zumindest eine Art der Basistherapie durchlaufen, die sie weiter sehen und kritischer denken lässt. 

Leider gibt es auch gebildete Menschen, die Gewalttaten begehen und Terrorregime begründen. Doch sie sind rare Ausnahmen in dem immer breiter werdenden Feld von Menschen, die sich bilden und weiterbilden und auf diesem Weg erkennen, dass Gewalt niemals und nirgends zur Lösung von Problemen beiträgt. 

Menschen mit Bildung haben gelernt, dass es immer mehr als eine Sichtweise gibt und dass deshalb Probleme unter den Menschen das Gespräch brauchen, um gelöst zu werden. Im Gespräch werden die unterschiedlichen Sichtweisen miteinander in Kontakt gebracht, und damit entsteht zwischenmenschliches Verstehen, das verbindet. Menschen, die im Verständnis verbunden sind, kommen nicht mehr auf die Idee, dass Gewalt ihre Konflikte lösen könnte. 

Im Großen betrachtet: Die Gräueltaten der bildungsfeindlichen Extremisten sind im Grunde hilflose Versuche, eine Entwicklung der Menschheit, die fast alle ihre Mitglieder wollen, mit Gewalt aufzuhalten. Jeder tote Mensch, jeder Verletzte, der in diesem sinnlosen Morden umkommt, ist ein tragisches Opfer von kurzsichtiger Brutalität. Sinnlos ist das Morden, weil es die Menschheit ist, die sich von sich aus weiter bilden möchte, Männer wie Frauen, Mädchen wie Jungen, Kinder wie Ältere, "westliche" wie "östliche" Menschen. 

Es ist traurig, zur Kenntnis nehmen zu müssen, dass es noch viele Opfer des Bildungshasses geben wird. Und es ist traurig zu sehen, dass sie für Sinnlosigkeiten sterben müssen, dass die Täter einen aussichtslosen Kampf kämpfen, der ihnen selber nicht mehr bringt als ein kurzzeitiges Gefühl des Triumphes, das angesichts der übermächtigen Gegnerschaft, nämlich die bildungswillige Menschheit, schnell verschwinden wird. 

Dieses Jahr hat die UNO der Erforschung des Lichts gewidmet. Dabei wird eines arabischen Gelehrten gedacht, der vor tausend Jahren zu den gebildetsten Menschen seiner Zeit gehörte und wegweisende Schriften zur Optik und zu anderen Themen der Physik verfasst hat: Ibn Al-Haytham. Er ist nur ein Beispiel für die unschätzbaren Beiträge der Welt des Islams zur Gelehrsamkeit und Bildung auf dieser Welt. 

Denjenigen, die angesichts der vielfachen bildungsfeindlichen Terroraktivitäten mit moslemischem Hintergrund in Islamophobie verfallen, täte es gut, an die bücherverbrennenden Nationalsozialisten zu denken, die unsere Großväter und Urgroßväter gewesen sein können, mitten im bildungsstolzen Deutschland und kulturverliebten Österreich, die nach der Eroberung von Polen zu Beginn des 2. Weltkriegs nicht nur die dortigen Juden, sondern auch die "Intellektuellen" gezielt verfolgten und ermordeten. Das und viele andere Grauslichkeiten mehr gehören zu jenem Abendland, das manche lautstark meinen verteidigen zu müssen. 

Wir als Nichtmuslime brauchen uns folglich kein bisschen besser fühlen als die Anhänger der islamischen Religion. Jede pauschale Ausgrenzung vertieft die Gräben und macht uns selber kein Quäntchen besser. Wir können nur hoffen, dass die große Zahl an rechtschaffenen Muslimen geschlossener gegen ihre radikalisierten Glaubensgenossen auftreten, um ihnen die Sinnlosigkeit ihres Agierens bewusst zu machen - und dass sie uns mitteilen, wie wir sie dabei unterstützen können. 

Bildung trägt keine Masche, sie ist von sich aus weder westlich noch christlich oder was auch immer. Natürlich haben geschlossene Gesellschaftssysteme und Diktaturen immer versucht, die Bildung für ihren Machterhalt zu kanalisieren, aber kein Unterdrückungsregime hat es je geschafft, auf der Basis der Bildungszensur längerfristig zu überleben. Denn wo Bildung begonnen hat, hört sie von selber nicht wieder auf. Wer einmal gelernt hat zu lesen, wer einmal gelernt hat, das Internet zu nutzen, wird in der Welt des Wissens und der Informationen immer wieder auf Neues stoßen, was den Horizont erweitert und das bisher Gewusste relativiert. Der Hunger nach Bildung ist, einmal entfesselt, unstillbar, wie die menschliche Kreativität unerschöpflich ist. 

 Was für die Welt der Bildung gilt, gilt auch in ähnlicher Weise für die Welt des Kulturschaffens - dies geschrieben am Abend eines brutalen Terroranschlages gegen eine Kultureinrichtung.