Dienstag, 31. Oktober 2017

Vom Ende der Wachstumsgesellschaft und von der Verfeinerung der Einfachheit

Wir gehen davon aus, dass unsere Wirtschaft wachsen muss, damit unser Wohlstand gesichert und gesteigert werden kann. Das entspricht unserer Lebenserfahrung, die von der Wohlstandsepoche seit dem 2. Weltkrieg geprägt ist. Was wir dabei weniger bedenken, ist die historische Tatsache, dass die wachstumsorientierte Ökonomie ein relativ kurzzeitiges und bisher einzigartiges Modell in der langen Menschheitsgeschichte darstellt. Mit dem Beginn der Industrialisierung im 18. Jahrhundert haben sich zunächst die westeuropäischen Gesellschaften aus der agrarischen Subsistenzwirtschaft, die über 10 000 Jahre Bestand hatte, herausbewegt. Manchmal wird dieses Ausbrechen aus einer über lange Zeiträume bewährten Wirtschaftsform mit dem Take-Off eines Flugzeuges verglichen, allerdings startet hier ein Flugzeug, das nie wieder zur Ausgangsbasis zurückkehren kann.

Frühere Wirtschaftsweisen haben sich beständig am Rand des Mangels bewegt, periodisch auftretender Hunger und kurze Lebenserwartung waren Teil dieses zyklischen Wirtschaftens. Das Überleben der Menschheit konnte in diesem Rahmen gesichert und einer dünnen Oberschicht ein Luxusleben gewährt werden. Kam es zu Krisen, wie z.B. durch Kriege, Schlechtwetter oder Epidemien, wurde es auch für die Oberschicht eng. Mit solchen Krisen regulierte sich das System wieder zurück auf ein niedriges Niveau, das sich langsam bis zur nächsten Krise steigerte.

Das Abheben der Wirtschaft aus den Zyklen der Subsistenz hat zu unvorstellbaren Veränderungen im Leben vieler, wenn nicht aller Menschen geführt. Aus weiten Bereichen der Welt sind Hunger und tödliche Epidemien verschwunden, und große Teile der Gesellschaft in den hochindustrialisierten Ländern führen einen Lebensstil, der in seinen Möglichkeiten bei weitem den des Hochadels in vormoderner Zeit übertrifft. Wir haben uns eine behagliche Lebensform erschaffen, die weitgehend frei von elementaren Risiken ist, ein gewisses Maß an sozialem Ausgleich zulässt und sich die Bildung für alle auf die Fahnen geschrieben hat. Wir haben es im Winter warm und im Sommer kühl. Wir können nahezu jeden Punkt auf der Erde besuchen, wenn wir darauf Lust haben. Wir verfügen über elektronische Geräte, die uns an allen Informationen teilhaben lassen, die uns interessieren. Wir erarbeiten uns diesen Wohlstand mit wesentlich weniger körperlicher Anstrengung als die vormodernen Bauern und Handwerker aufbringen mussten, um ihr Überleben zu sichern.

Deshalb haben wir Wachstum und Fortschritt als positive Qualitäten unserer Gesellschaft verinnerlicht. Es ist Teil unserer scheinbar unverzichtbaren Normalitätsvorstellungen: Wir fühlen uns sicher und vertrauen der Zukunft, wenn wir immer mehr und mehr Güter und Finanzen anhäufen können. Naiverweise halten wir es für normal, dass das materielle Wachstum weitergeht, ins Unendliche. 

Wenn wir uns jedoch ernsthaft mit der Nachhaltigkeitsdebatte auseinandersetzen, die uns seit dem Bewusstmachen der Grenzen des Wachstums beschäftigt und durch die Signale des Klimawandels drängend geworden ist, können wir die Vorstellung eines unendlichen Wachstums schwerlich aufrecht erhalten. Obwohl die meisten Politiker und auch nichtpolitischen Zeitgenossen trotz eines peripheren Problembewusstsein jegliche Auswirkung auf ihre Entscheidungen und Verhaltensweisen vermeiden, muss der Zeitpunkt kommen, an dem die Idee des Wachstums verabschiedet werden wird. Denn die stetig wachsende Wirtschaft hat die Probleme wegen des ständig wachsenden Ressourcenverbrauches erzeugt und sich damit sukzessive die eigene Grundlage abgegraben. 

Wir sind an dem Punkt angelangt, von dem aus das notwendige Ende des Wachstums unübersehbar am Horizont erscheint, ohne dass es uns schon an den Kragen geht. Wir verhalten uns so, dass wir zum Horizont schauen und sagen: „Ja schlimm, das schaut gar nicht gut aus.“ Und dann wenden wir uns wieder unseren Geschäften und Konsumgewohnheiten zu und verdrängen dabei, wie uns diese dem gefürchteten Horizont näher bringen. Wie nahe müssen wir kommen, dass wir zumindest eines aufgeben: Die Idee, dass materielles Wachstum selbstverständlich ist und uns zusteht, gewissermaßen einklagbar von den Politikern, denen wir unsere Stimmen geben?

Einstellungsänderungen ohne Verhaltensänderungen sind leer


Diese Einstellung gilt es dringend zu ändern. Wenn wir unsere Vernunft verwenden, können wir die Schädlichkeit dieser Normalitätsannahme in Bezug auf die globalen Lebensgrundlagen erkennen und uns eines Besseren besinnen. Eine solche Einstellungsänderung genügt aber nicht, solange wir nicht unser Verhalten anpassen. 

Denn Einstellungen, also Gedankenwelten, die die Endlichkeit der Ressourcen berücksichtigen, gibt es in den Köpfen vieler Menschen, die zugleich eine Lebensweise führen, die in die gegenteilige Richtung weist. Sie sitzen im Fernstreckenflug nach ihrer Urlaubsdestination in einem weit entfernten tropischen Land und alterieren sich über die Politiker, die es zulassen, dass Menschen neben dem Hotel verhungern, in welchem sie sich am Swimming Pool entspannen wollen. Sie erkennen die Hintergründe von Wetterkapriolen und Naturkatastrophen, suchen aber die Ursachen in chinesischen Hochöfen statt im eigenen so unbedeutenden Verhalten. Erst mit der konsequenten Änderung unserer Handlungen nehmen wir unsere Verantwortung wahr und setzen die Unterschiede, mit denen wir uns von der Zone der Zerstörung in die Zone der Bewahrung bewegen.

Konkret bedeutet das zu beginnen, zumindest einmal für uns selber unseren Wohlstand zurückzufahren, indem wir auf überflüssigen und neurotischen Konsum verzichten, indem wir unsere Bedürfnisse reflektieren und unsere Notwendigkeiten neu definieren.

Es heißt nicht, dass wir uns asketischen Zwängen unterwerfen müssen, indem wir auf alle Freuden, Schönheiten und Genüsse verzichten und uns mittels Schuldgefühlen und schlechtem Gewissen einschränken und kasteien. Vielmehr geht es darum, unsere durch die Konsum- und Werbewirtschaft konditionierten Gewohnheiten in Relation zu unseren genuinen inneren Bedürfnissen und zu den Perspektiven einer Welt mit endlichen und schrumpfenden Ressourcen zu setzen. Wir halten also der blinden und profitgierigen Propaganda des ungehemmten Verbrauchens, die sich tief in unsere unbewussten Motivationsmechanismen eingefressen hat, unsere Vernunft und unsere achtsame Innensicht entgegen und 
wählen diese zu den Regenten unseres Tuns.

Damit bereiten uns darauf vor, uns in einer Welt einzurichten, in der jeder genug hat, um ein gutes Leben zu leben, ohne dass der Umwelt mehr entnommen wird als in sie zurückfließt. Den Maßstab für die Güte des Lebens müssen wir dafür von außen nach innen zurückverlegen, Fremdbestimmung in Selbstbestimmung verwandeln und dabei in unserer Wertewelt materiellen Besitz und gutes Leben entkoppeln. Bescheidenheit bekommt einen neuen Geschmack: Statt dem Verzicht auf die Überfülle geht es um die Verfeinerung des Einfachen.

Freitag, 27. Oktober 2017

Absolute Wahrheiten existieren im Moment

Carsten Rachow schreibt: "Wahrheit existiert stets kontextual. Wahrheit kann deshalb mal dieses und mal jenes sein, doch niemals kann sie ohne Kontext sein. Ohne Kontext gäbe es nirgendwo Wahrheit."

Sobald Erkenntnisse, Einsichten und Ideen in irgendeiner Situation geäußert werden, nehmen sie eine relative Position zu den anderen Gegebenheiten dieser Situation ein. Dazu zählt z.B. die Meinung anderer anwesender Personen, die Qualitäten der Beziehung zu diesen Personen usw. Sie sind auch relativ zu den eigenen inneren Gegebenheiten, z.B. Gemütslagen, Denkprozessen, Aktivierungsgrad usw. Verallgemeinernd bezeichnet Carsten Rachow diese Gegebenheiten als Kontexte. Das Gegenteil wären Wahrheiten, die im freien Raum schweben, bezugslos sowohl zum Sprecher wie zum Empfänger. Sie wären gar nicht existent, denn Existenz selber ist ein Kontext.

Ein weiterer allgemeiner Kontext ist die Sprache. Wahrheit kann nur in einer Sprache geäußert werden, und diese ermöglicht und schränkt zugleich ein, wie eine Wahrheit, die innen einleuchtet, nach außen, in die Kommunikation eingebracht werden kann. Wahrheiten klingen anders, wenn sie in einer anderen Sprache ausgedrückt werden. Allein aus der einfachen Struktur von Kommunikation, nach der jede Mitteilung vom Sender codiert und vom Empfänger decodiert werden muss, geht hervor, dass es im Rahmen der Kommunikation keine kontextunabhängige, also keine absolute Wahrheit geben kann. Allerdings wird durch diese Struktur die Möglichkeit einer absoluten Wahrheit nicht prinzipiell ausgeschlossen. Die Struktur der Kommunikation verhindert allerdings, dass absolute Wahrheiten im kommunikativen Raum als solche auftreten können.

Insofern ist die Aussage, dass jede Wahrheit einen Kontext hat, trivial: Jedes Medium sperrt jede Äußerung in einen kontextuellen Kasten, und ohne vermittelndes Medium existiert keine Wahrheit. Das haben wir auf der Ebene des systemischen Bewusstseins erkannt. Freilich ist diese Bewusstseinsstufe noch viel zu wenig in unser Alltagserleben vorgedrungen, und deshalb sind diese trivialen Einsichten wenig bekannt und können leicht übersehen werden. Unser Verhaftetsein in egozentrischen Sichtweisen macht es notwendig, die relativistische Welterfahrung immer wieder in den Vordergrund zu rücken. Denn sie enthält weitreichende Konsequenzen, die immer mitbedacht gehören: Jeder Kontext relativiert die Wahrheit, folglich gibt es keine absolute Wahrheit, zumindest im Rahmen der zwischenmenschlichen Kommunikation. Sobald eine Wahrheit als Wahrheit ausgesprochen wird, trägt sie den impliziten Zusatz: „aus meiner Perspektive“, „in diesem oder jenem Kontext“. Zu Aussagen, die der Sprecher für absolut hält, kommt es, wenn dieser Zusatz übersehen, verschwiegen oder unbekannt ist, wenn also der Sprecher die Stufe des systemischen Bewusstseins nicht mitbedenkt.


Meinung und Wahrheit


Nun gibt es auch den Kontext „Meinung“ gegen „Wahrheit“, also den Unterschied zwischen einer Einsicht, die wir als unsicher und vorläufig erachten, und einer anderen, die wir für sicher, klar und allgemeingültig erachten. Die erstere erscheint uns subjektiver, die zweitere objektiver. Meinungen entstehen aus der momentanen emotionalen und kognitiven Gestimmtheit und situativen Wahrnehmung einer Person. Wahrheit erfordert einen Prüfungsprozess, in dem neben dem Subjekt noch andere Instanzen eingebunden sind, z.B. eine Abgleichung mit der äußeren Realität und eine Rückblende auf die Entstehungsbedingungen der Aussage, die sozialen Standards einer Bezugsgruppe usw.

Jemand behauptet z.B., dass es keinen menschenverursachten Klimawandel gibt. Um zu unterscheiden, ob es sich bei der Aussage um eine bloße Meinungsäußerung oder um eine Aussage mit Wahrheitsanspruch handelt, ist es notwendig, die argumentative Abstützung der Aussage zu überprüfen: Welche Quellen dienen zur Erhärtung dieser Position, welche sprechen dagegen? Welche Methoden verwenden die einen Quellen, um der Wirklichkeit nahe zu kommen, welche die anderen? Welche Motive leiten die Person, die die Aussage tätigt?

Das Subjekt, das eine Wahrheit äußert, erhebt den Anspruch, dass die Aussage auf eine äußere Wirklichkeit zutrifft und/oder auch für andere Subjekte zutreffend und sinnvoll ist. Der Wahrheitsanspruch geht also substanziell über das Äußern von Meinungen hinaus und bezieht sich auf eine nicht-subjektive Form von Wirklichkeit (z.B. die Welt der Dinge oder die Welt der sozialen Ereignisse).

Dass Aussagen, die von sich aus den Gehalt von Wahrheit beanspruchen, immer einen Kontext haben, nimmt ihnen nichts von diesem Anspruch auf Wahrheit. Zur Prüfung dieses Anspruchs gehört die Identifizierung des Kontexts der Aussage, also die Umstände ihres Zustandekommens, und vor allem der Inhalt und die Form der Wirklichkeit, auf die er sich bezieht. Es geht also um die Untersuchung der Gültigkeit des Wahrheitsanspruches angesichts der evidenten Kontexte.

Soweit so gut, das Ende aller Streitigkeiten um die Wahrheit ist eingeläutet. Weil sinnlos, können wir uns solche Auseinandersetzungen in Hinkunft sparen und uns an der unendlichen Vielfalt der Wahrheiten freuen.


Die Angelegenheit der absoluten Wahrheit


Allerdings ist mit dieser Feststellung die Angelegenheit der absoluten Wahrheit noch nicht erledigt. Zwar können wir als vielfach kontextgebundene Subjekte den Anspruch, von einer absoluten Position, gewissermaßen ex cathedra zu sprechen, nie und nimmer einlösen. Wohl aber können wir den Anspruch, Absolutes in relativer Form, weil kontextabhängig, auszudrücken, aufrechterhalten. Wir verfügen freilich über keine zwingende Autorität dabei, sondern überlassen es ganz den Adressaten der Botschaft, ob sie das Absolute der Aussage übernehmen oder nicht. Sie sind also prinzipiell völlig frei, sich der Aussage anzuschließen, sie abzuändern oder sie abzulehnen. Das Absolute leuchtet ein oder eben nicht; das hängt sowohl von der Art der Mitteilung, also dem Kontext des Senders, als auch von der Bereitschaft und Offenheit des Empfängers, also dessen Kontext, ab. Das Absolute, um als solches erkannt zu werden und kommunikative Realität zu erlangen, benötigt also einen speziellen Kontext, einen besonderen, nicht alltäglichen „Geist“. Dieser Geist erst macht die absolute Wahrheit zu einer solchen, enthebt sie also den Bedingtheiten des Relativen.

Das Zitat aus dem Neuen Testament: „Wenn zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, bin ich mitten unter ihnen“ (Mt 18,20) könnte für diesen Zusammenhang so verstanden werden: „Wenn zwei oder drei offen sind für das Absolute, erscheint es als kommunikative Wirklichkeit.“ Wie bei solchen Wirklichkeiten üblich, hat auch das Absolute keine Zeitdauer, es zerfällt unmittelbar, nachdem es aufgetreten ist. Aber es hinterlässt Wirkungen, sonst wäre es nicht absolut. Um diese Wirkungen geht es, nicht um das Rechthaben, Sich-Durchsetzen, Besser-Sein usw. Die Wirkungen betreffen also nicht das Ego, das jede Wahrheit in Frage stellen und anders sehen oder ausdrücken kann. Sie betreffen das tiefere Wesen, das Selbst.

Absolute Wahrheiten sind also solche, die unabhängig von den Kontexten, in denen sie existieren, prinzipiell in allen Empfängern ihre Wirkungen entfalten können. Der Adressatenkreis kann und soll nicht eingeschränkt werden. Sie gelten auch unabhängig vom Sender, sind also nicht durch seine Person, seinen Status, seine Bildung usw. bestimmt. Auf dieser Basis können absolute Wahrheiten absolute Wirkungen und damit auch absolute Gültigkeit erlangen. Zum Unterschied allerdings von Dogmen und anderen Lehrsätzen, die von Institutionen und Autoritäten aufgestellt werden, hat diese Gültigkeit keine räumliche und zeitliche Dauer, sie gilt also nur im Moment, in dem sie gilt. Menschen können an Wahrheiten, die sie zu einem bestimmten Zeitpunkt für absolut gültig erachten, zu anderen Zeitpunkten zweifeln, und sie können Aussagen, die sie einmal kritisiert haben, ein andermal voll annehmen.


Die Wirkung der absoluten Wahrheit


Eine absolute Wahrheit wird in ihrer Wirkung wirklich, und diese besteht in einer inneren Wandlung bei der Person, die die Wahrheit empfängt. Eine solche Wandlung kann als Weitung und als Hinausgehen über eine vorher geltende Weltsicht angesehen werden. Bisher wichtige Kontexte können ihre Bedeutung verlieren, Ängste können zurücktreten, Vorurteile verschwinden.

Jemand sagt z.B.: „Ich schaue mich um und sehe, das Glück ist immer genau da, wo ich gerade bin.“ Damit werden alle Konzepte vom Glück und vom Glücklichwerden überflüssig. Es braucht keinen Stress mehr, um etwas zu erreichen, was gerade nicht da ist. Es kann sich innerer Friede ausbreiten. Auf diese Weise wirkt eine absolute Wahrheit.

Sie kann jedoch nicht wie eine Pille eingenommen werden, die jeden Tag die gleiche Wirkung haben sollte. Die obige Aussage kann an einem anderen Tag leer und nichtssagend erscheinen. Es kann wirkungslos sein, wenn jemand anderer daran erinnert: „Neulich hast du doch gesagt… Was ist jetzt damit?“ Absolute Wahrheiten wirken aus einem absoluten Moment heraus, der sich nicht reproduzieren lässt. Es gibt keinen Knopf, auf den man drücken könnte, wenn man sich glücklich fühlen möchte oder voll von Liebe oder frei von allen Einschränkungen.

Alles, was wir aktiv tun können, ist, uns immer wieder für das Absolute in jeder relativen Situation zu öffnen. Denn das Absolute wartet nur darauf, gehört und empfangen zu werden. Wir brauchen uns nicht gewohnheitsmäßig auf eines unserer beschränkten Konzepte über die Welt und die Menschen festlegen und können uns statt dessen von der Fülle des Lebens überraschen lassen, was immer sie uns schenken will.


Zum Weiterlesen:
Das Absolute im Beschränkten 
Die zwei Wahrheiten 
Die zwei Wahrheiten und die Konfliktkultur
Die zwei Wahrheiten und die Religionen
Die zwei Wahrheiten und der Alltag 
Die zwei Wahrheiten und das Ego 
Die zwei Wahrheiten und die Sprache

Montag, 23. Oktober 2017

Krankhafter Konsum

Krankhafter Konsum ist so normal geworden, dass wir es kaum mehr bemerken, schrieb der englische Journalist George Monbiot vor einigen Jahren im Guardian. Der Trend hat sich seither sicher verschärft statt umgekehrt. Viele Menschen in unseren Kulturen haben alles, was sie brauchen. Deshalb schenkt man ihnen sonnenkraftbetriebene winkende Prinzessinen, Bürsten für den Bauchnabel, versilberte Eisbecherhalter, aufblasbare Rollatoren usw.

Solche Geschenke erfreuen am Heiligen Abend, sind am ersten Weihnachtstag öd und am zweiten peinlich, und bald darauf landet alles im Müll. Für ein paar Sekunden von zweifelhafter Unterhaltung tragen wir dazu bei, dass wertvolle Materialen auf Kosten künftiger Generationen verschwendet werden. Die US-Umweltaktivistin Annie Leonard hat für ihren Film „The Story of Stuff“ recherchiert, dass nur 1% der Materialien, die durch die Konsumwirtschaft fließen, nach sechs Monaten noch in Gebrauch sind. Selbst Dinge, die wir für langlebig halten, werden entweder durch geplante Obsolenz (eingebaute Schwächen, die ein Produkt nach einer bestimmten Nutzungsdauer ruinieren) oder wahrgenommene Obsolenz (etwas kommt aus der Mode oder gefällt uns nicht mehr).

Und daneben gibt es eine Menge von Dingen, die gar nicht obsoleszent werden können, weil sie nie nützlich waren. Sie sind dafür gemacht, ein wenig Dankbarkeit zu erzeugen und dann weggeworfen zu werden. Oft enthalten diese Dinge seltene Materialien, komplexe Elektronik und eine Menge an Umweltkosten in der Produktion und im Transport. In Afrika werden die Nashörner ausgerottet, weil Wilderer von Jahr zu Jahr mehr Tiere abschießen, damit Konsumenten in Ostasien mit dem zermahlenen Horn, das angeblich potenzsteigernd ist, angeben können. Im berühmten Pilanesberg-Resort in Südafrika gibt man den Rhinozerossen nur noch ein paar Jahre.

So absurd und zugleich fatal diese Form des Konsums erscheint, unterscheidet sie sich nicht in der Art und Weise, wie wir in unseren Breiten nutzlose Dinge einkaufen. Und dann freut sich die Politik über den steigenden Konsum, der die Wirtschaft ankurbelt. Unsere neue Regierung tritt an mit dem Versprechen, diese Wirtschaft, also die Unternehmen, steuerlich zu entlasten, damit sie billiger produzieren können. Das Geld dafür soll dem Vernehmen nach dem Sozialsystem und der Staatsverwaltung entzogen werden.

Produzieren um des Produzierens willen, Konsumieren um des Konsumierens willens, Wachstum um des Wachstums willen, so simpel ist der Teufelskreis unseres Wirtschaftssystems gestrickt. Wer draufzahlt, sind die am unteren Ende der sozialen Skala, bzw. die am unteren Ende der Weltökonomie, und dahinter der Planet mit seinen Ressourcen, die endlich sind, also mit weitergehendem Wachstum schlicht und einfach irgendwann, in nicht allzu ferner Zeit, erschöpft sind.

Wenn wir beim Wahnsinn des sinnlosen Konsums mitmachen wollen, hindert uns niemand daran. Die "Verantwortlichen" des Landes applaudieren. Es hindert uns aber auch niemand daran, zumindest aus diesem Teufelskreis auszusteigen und nicht mehr mitzuspielen. Geschenke lassen sich einfacher selbst herstellen, und vielleicht freut sich jemand mehr über ein gesungenes Lied oder ein beglückendes Lächeln als über irgendeinen halblustigen Schnickschnack, der globale Verwüstungsspuren in sich trägt, wenn sie auch scheinbar so winzig sind.

Dienstag, 17. Oktober 2017

Nachhaltigkeit in der Demokratie

Die Entsorgung der Nachhaltigkeit


Soeben wurde in Österreich die einzige Partei, die sich „nachhaltig“ für die Nachhaltigkeit einsetzt, auf demokratischem Weg aus dem Parlament entfernt. Viele Gründe mögen bei diesem Vorgang eine Rolle spielen. Interessant erscheint mir die Frage, warum mit dem Thema „Klimaschutz“ kein Erfolg bei Wahlen möglich ist – und was das für den Klimaschutz bedeutet.

Wie im vorangehenden Blogartikel beschrieben, orientiert sich die Wahlpropaganda stark an den Ängsten der Wähler. Sie sollen sich in ihrer Notlage verstanden und von den Politikern beschützt fühlen. Die meisten Stimmgewinne konnten die Politiker verbuchen, die entweder versprochen haben, alle Zuwanderungsrouten zu sperren oder die Absicht bekundet haben, die schon angekommenen Wirtschaftsflüchtlinge samt und sonders außer Landes zu weisen und den noch verbleibenden „Asylanten“ das Existenzminimum zu halbieren. Die Wähler erhoffen sich, auf solche Weise vor dem Fremden geschützt zu werden und sich hinkünftig sicherer fühlen zu können.

Ein Freund hat zu meinem letzten Blogbeitrag geschrieben: „Eigentlich ein kindliches Verhalten, dass sich wer Anderer um die eigenen Ängste kümmern soll ... So frage ich mich, warum gibt es so wenig Erwachsene?“ Wenn wir Angst haben, regredieren wir, und je irrealer die Angst ist, desto weiter rutschen wir zurück in die Infantilität.

Erwachsen sein heißt nicht nur, Verantwortung für die eigenen Ängste zu übernehmen, sondern auch, die Folgen des eigenen Verhaltens über den Horizont des unmittelbaren Nutzens oder Schadens hinaus abschätzen zu können. Wir alle tragen mit unseren alltäglichen Handlungen dazu bei, dass unserem Planeten in absehbarer Zeit „die Luft ausgeht“ – siehe hier. Die meisten Menschen wissen Bescheid über die vielfältigen Gefahren, die von einer Klimaveränderung ausgeht. Sie wissen auch, welche Handlungen klimaschädlich sind. Aber ähnlich wie ein Raucher, der weiß, dass er sich mit seiner Gewohnheit Krebs einhandeln kann, jedoch den unmittelbaren Genuss und die kurzfristige Entspannung dem Verzicht, der längerfristigen Gewinn verspricht, vorzieht, wollen wir unser Konsumniveau halten und weiter steigen, obwohl klar ist, dass jede Steigerung von Produktion und Konsum langfristig das Tempo der Zerstörung der Lebensgrundlagen steigert.

Unsere inneren Kinder schreien: Wir wollen es jetzt und wir wollen es gleich. Der Erwachsene in uns weiß zwar, dass wir unsere Konsumgewohnheiten ändern sollten, aber er ist auch im Rationalisieren geübt: Warum soll ich anfangen, mein Leben zu ändern? Was bewirkt das schon, wenn ich auf dies oder jenes verzichte? Die anderen sind ja viel schlimmer, ich esse ja schon viel weniger Fleisch als vor Jahren, ich lasse doch ab und zu auch das Auto stehen, ich fliege nicht mehr zweimal im Jahr nach Thailand, während die Chinesen mit ihren Kohlekraftwerken und die Amerikaner mit ihren Klimaanlagen und die Inder mit ihrem Motorisierungsboom…. Schließlich setzt sich in der inneren Landschaft durch, wer am lautesten und am bedürftigsten agiert. Und der Erwachsene beschwichtigt, heute kann ja durchgehen, was eigentlich nicht gut ist, morgen werde ich meine Gewohnheit ändern.


Die Kunst, sich mittels Rationalisierung von der Realität abzukoppeln


Jeder Appell zur Einschränkung und zum Verzicht ist schwer zu verkaufen. Unser Emotionalapparat signalisiert eine Bedrohung: Wir müssten unser Leben ändern, das Leben, in dem wir es uns schon so bequem eingerichtet haben – Haus, Garten, Auto, volle Kühlschränke und Tiefkühltruhen, überquellende Kleiderschränke („ach, ich weiß wirklich nicht, was ich heute anziehen soll…“), jeden Tag eine Überfülle an Wahlmöglichkeiten für den Konsum. Die Warenwelt suggeriert uns Unendlichkeiten: Die Waren fließen scheinbar aus unerschöpflichen Quellen („Warum gibt es heute keine Butterkipferl?“ „Sind schon aus, in einer halben Stunde gibt es neue.“ „Oh je, das dauert mir viel zu lange.“ „Dann nehmen’S doch Butterkroissants.“ „Nein, die sind mir zu bröselig.“). Laufend werden neue Produkte kreiert, die uns das Leben noch genuss- und abwechslungsreicher gestalten, und so soll es weiter gehen, so muss es weitergehen, ins Unendliche hinein, für die Dauer meines Lebens, und das meiner Kinder und Enkelkinder, bis in alle Ewigkeit.

Damit diese Perspektive aufrechterhalten werden kann, muss die Endlichkeit, die sich mehr und mehr in unser Bewusstsein drängen will, ausgesperrt bleiben. Die Routen, auf denen solche Gedanken einsickern wollen, müssen gesperrt werden wie der Balkan und das Mittelmeer für Kriegs- und Wirtschaftsflüchtlinge. Wir wollen nicht „dauernd“ daran erinnert werden. Wir wissen ja eh, dass das auch ein Problem ist. Aber das Hemd ist allemal näher als der Rock.

Ein Politiker in dieser emotionalen Landschaft, der den Verzicht auf weiter steigenden Wohlstand, auf stetiges Wirtschaftswachstum zugunsten langfristiger Lebenschancen predigt, muss auf Abwehr stoßen und wird mit Ignoranz bestraft. Der Konkurrent, der mehr verspricht und nur die Steuern und das Sozialsystem bei den Schwächsten einschränken will, kriegt die Zustimmung. Nachhaltigkeit ist nicht demokratiefähig. Parteien, die uns bei der Nase nehmen und uns darauf hinweisen, dass wir Gewohnheiten ändern und Normalitätsvorstellungen adaptieren müssen, die die langfristige Sicherung unserer Existenzgrundlagen über Zuckerl-Genüsse, die uns für einen Moment narkotisieren, stellen, werden versenkt. Das kurzfristige Denken auf infantiler Emotionalgrundlage bekommt die satte Mehrheit. Deren Vertreter können sagen: Das ist der Wählerauftrag: Den steigenden Wohlstand und Konsum bis zur nächsten Wahl abzusichern und zu ignorieren, wie die Welt und ihr Klima in zwanzig oder fünfzig Jahren ausschauen könnte, wenn wir so weitermachen.


Wir können das Klima nur schützen, wenn wir unser Leben ändern


Wir reagieren emotional, wenn wir uns in unserem Eigentum, unserem leiblichen Wohl und unserer Integrität bedroht fühlen und wollen, dass uns der Staat absichert. Auch für den Schutz von manchen Tieren und Tierarten können wir uns emotional engagieren. Da jedoch das Klima keine Person und nicht einmal eine konkret vorstellbare Sache ist, tun wir uns schwer, Emotionen zu entwickeln, die dann unsere Entscheidungen prägen. Es ist leichter, sich von fremd aussehenden Menschen mit unverständlicher Sprache bedroht zu fühlen als vom Anstieg der Temperatur um ein oder zwei Grad. Allenfalls fühlen wir uns von großer Hitze bedroht und schützen uns mittels Klimaanlage und Freibad. Sobald es wieder kühler wird, ist das Bedrohungsgefühl verschwunden. Und nach einem verregneten Sommer wirkt ein neues Narrativ: Der Klimawandel ist ja ganz offensichtlich eine Erfindung von verrückten Wissenschaftlern.

Die Wirklichkeit verläuft nach ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten. Wenn wir einfach so weitermachen, fahren wir früher oder später gegen die Wand. Wir müssten unsere Lebensgewohnheiten ziemlich radikal ändern, um die drastische Verschlechterung der Lebensmöglichkeiten auf unserem Planeten für alle Menschen zu verhindern. Jetzt könnten (und müssten) wir beginnen, unser hohes Niveau an Komfort und Konsumfreiheit langsam zu reduzieren, indem wir unser Leben vereinfachen und unnötigen Verbrauch vermeiden.  Die Unterstützung, die die Politik durch lenkende Maßnahmen dazu beitragen könnte, ist offenbar im Rahmen dieser Demokratie, die stark für emotionale Manipulation anfällig ist, nicht zu bekommen.


Das Hochfahren von Teufelskreisen


Das Flüchtlingsthema, das den vergangenen Wahlkampf über weite Strecken beherrscht hat, ist, bezogen auf die Nachhaltigkeitsfrage, ein Beispiel für eine fehlgeleitete Symptomkur. Es soll bewirkt werden, dass Menschen, statt zu flüchten, dort bleiben, wo sie sind. Durch unsere wohlstandsfixierte Lebensweise sind wir in den reichen Ländern Hauptverursacher für den Klimawandel, den die ärmeren Länder in klimatisch exponierten Zonen besonders belastend abbekommen. Solide Berechnungen ergeben, dass ganze Gebiete in einigen Jahrzehnten nicht mehr bewohnbar sein werden, wo jetzt Millionen von Menschen leben.

Dazu kommt, dass die starre Koppelung von Wohlstand und fossilen Brennstoffen ein wichtiger Mitverursacher, wenn nicht das Wurzelübel all der desaströsen Kriegen im Nahen Osten, einschließlich des daraus entstandenen Terrorismus darstellt. Die Kriegsflüchtlinge, die nach Europa und Nordamerika drängen, flüchten vor den Folgen der Erdölgier der Länder, in die sie wollen. Und wo sonst noch auf der Welt Kriege geführt, Massaker stattfinden, ethnische Säuberungen aufgezwungen werden, die zu massiven Fluchtbewegungen führen, stammen mit großer Wahrscheinlichkeit die todbringenden Waffen aus den Zielländern der Flüchtlingswellen. Und diese stecken die Steuergelder, die aus der Waffenproduktion in die Steuersäckel fließen, in die Errichtung von Barrieren gegen alle, die in die Wohlstandoasen einwandern wollen, um ihr Überleben zu sichern. Sollen die doch bleiben, wo sie sind, solange wir unseren Wohlstand steigern können.

All diese im wahrsten Sinn des Wortes teuflischen Kreise nehmen wir wieder nur als Gelegenheit, kurz und traurig zu nicken und dann den überlasteten Kopf gleich wieder in den vertrauten Sand zu stecken. Jeder, der uns aus dieser Versunkenheit aufschreckt, ist uns zuwider.

Gibt es da noch irgendwo Hoffnung, einen Silberstreifen am düsteren Horizont?

Was die österreichische Politik anbetrifft, können wir wohl die nächsten fünf Jahre abschreiben. Es gibt keinen Grund für die Annahme, dass unpopuläre staatliche Lenkungsmechanismen wie die Erhöhung der Diesel- oder Kerosinbesteuerung ergriffen werden. Fast absurd erscheint die Erwartung, dass eine künftige Regierung Maßnahmen zur Reduktion des Fleischkonsums als eines Hauptfaktors des Klimawandels setzen könnte. Vielmehr steht zu befürchten, dass Leugner des menschengemachten Klimawandels in hohe und höchste Ämter dieser Republik einziehen, um dort nachhaltig abzublocken, was an Nachhaltigkeit erinnert.

Wir sind auf uns selber als Staatsbürger/innen und als Bewohner dieser Erde angewiesen. Wenn wir unsere Gruppen- und Nationalegoismen auf die Menschheit mitsamt den künftigen Generationen und die Natur ausdehnen, können wir die notwendige Motivation für die Verhaltensänderungen, die es braucht, aufbringen. Der Ökonom und Nachhaltigkeitsforscher Felix Ekardt schreibt in seinem lesenswerten Buch „Wir können uns ändern“:

„Ferner kann in puncto Normalitätsvorstellungen jeder selbst das bisher Unhinterfragte im eigenen Lebensentwurf zumindest mit einer gewissen Mühe zu hinterfragen beginnen. Und was noch wichtiger ist: andere Lebenspraktiken ausprobieren, mit anderen darüber reden, sich Bündnispartner suchen und sich gegenseitig ein Vorbild sein, sich von Rückschlägen nicht entmutigen lassen. Hilfreich sein können Allianzen wie Umweltverbände oder Graswurzelinitiativen, die Druck aufbauen, geänderte Lebens- und Wirtschaftsweisen vorleben, positive Visionen … aufzeigen, gleichzeitig aber auch die möglichen katastrophalen Folgen eines Nichthandelns verdeutlichen. Ebenso wichtig ist es, die Verdrängung des schleichenden Wandels von Normalitäten etwa hin zu immer mehr Wohlstand aufzuheben. Ferner spielen konsequent handelnde Vorbilder für Normalitätsvorstellungen eine Rolle, seien es Politiker, Showstars, Unternehmer oder andere öffentlich sichtbare Personen.“ (Seite 114)


Zum Weiterlesen:
Ängste und Wahlverhalten
Erderwärmung lange nach zwölf

Freitag, 13. Oktober 2017

Ängste und das Wahlverhalten

Auch bei der ins Haus stehenden Wahl spielen Ängste eine zentrale Rolle. Die drei stärksten Parteien streiten darum, wer mehr auf die Ängste vieler Menschen vor den Fremden, Ausländern, Asylanten, Flüchtlingen usw. hört und wer besser dagegen Abhilfe schaffen kann. Die meisten Wähler werden sich offensichtlich nach diesen emotionalen Motiven entscheiden: Wer schützt mich mehr vor den vielen fremden Menschen, die mir Angst machen?

Und dann gibt es Wähler, die haben Angst, dass die Angstmacher an die Macht kommen, und wählen deshalb die Parteien, die gegen die Angstmacher sind. Also auch hier spielen Angstmotive eine zentrale Rolle im Wahlverhalten.

Populismus wird häufig so erklärt, dass der Populist Ängste schürt und die eigene Politik dann als Abhilfe vor diesen zuvor produzierten Ängsten verkauft, ähnlich einem Versicherungsmakler, der mögliche Katastrophen an die Wand malt, damit er einen möglichst hohen Versicherungsvertrag abschließen kann. Eine solche Masche ist relativ leicht zu durchschauen. Wieso aber bekommen die Populisten immer mehr Zulauf, wenn zugleich der Wohlstand steigt und steigt, die Sicherheitslage objektiv besser wird, der Bildungsgrad in allen Schichten angehoben wird und das Sozialsystem laufend weiter ausgebaut wird? Folgen die Menschen blind ihren Rattenfängern?

Vielleicht verhält es sich so: Menschen haben im Allgemeinen immer vor etwas Angst, da es so vieles gibt, was unsicher ist. Je komplexer die Welt wird, in der wir leben – und sie wird laufend komplexer, und wir alle arbeiten und konsumieren dafür –, desto mehr Risiken und Gefahrenquellen tun sich auf. Wer ein Smartphone sein Eigen nennt, hat das Risiko, dass es kaputt geht. Ich frage mich z.B. manchmal, was ein Fluggast macht, der seine Boarding-Karte auf dem Handy hat, wenn sein Gerät eingeht, bevor er ins Flugzeug kommt. Dieses Risiko hat es vor der Einführung von elektronischen Tickets nicht gegeben. Ein massiveres, recht unheimliches Thema ist die Frage, welche Auswirkungen die Einführung von komplexen Maschinen (Robotern) auf das Arbeitsleben haben wird – welche Jobs werden da übrig bleiben? Noch drastischer ist die Ungewissheit, wie sich der stetige Wandel des Klimas auf die elementaren Lebensverhältnisse der Menschheit auswirken wird.

All diese und noch viel mehr andere Unsicherheiten sind Quellen von Ängsten. Wir wissen vieles nicht, was unsere Zukunft anbetrifft, und all das ist Anlass für Besorgnis. Warum also sollten diese Ängste nicht in die Wahlentscheidung einfließen? Und da die Welt nicht überschaubarer oder kalkulierbarer wird, ist es wahrscheinlicher, dass Wahlen immer mehr von Ängsten dominiert werden, ob sie nun manipulativ erzeugt und verstärkt wurden oder nicht.

Wir wissen, dass Ängste nicht naturgesetzmäßig durch komplizierte äußere Bedingungen hervorgerufen werden. Wir „müssen“ also nicht Angst kriegen angesichts der Unübersichtlichkeit der gesellschaftlichen Entwicklung. Wir können auch den Moment wahrnehmen und darauf vertrauen, dass uns der nächste Schritt im Leben die Lösung für das Problem zeigt, das uns jetzt gerade plagt. Wir können die Wurzeln unserer Ängste erforschen und befrieden und auf diese Weise immer mehr Gelassenheit und Achtsamkeit kultivieren. Wir haben diese Optionen, sie erfordern aber auch unser Engagement und unseren Mut. Wir müssen den Hang zu Gewohnheiten und Bequemlichkeiten überwinden, denn selbst und gerade mit halbbewussten Ängsten lässt es sich ganz angenehm leben.

Alle hingegen, die diese Option nicht wählen, bleiben weniger Marionetten der Politiker, die ihre Ängste für die eigenen Machtzwecke ausnutzen, als viel mehr noch Marionetten ihrer inneren Grenzen, in denen die Ängste genährt, wenn nicht sogar gemästet werden.

Vielleicht liegt das „Gute“ (im Sinn der Bewusstseinsevolution) am Erfolg der Populisten darin, dass sie irrationale Ängste, Zorn, Hass in den Diskurs einbringen, Gefühle, die bislang keine Stimme hatten, obwohl sie in den Tiefenschichten vieler Menschen angelegt sind. Es macht keinen Sinn, mit Statistiken zu belegen, dass die Angst vor Ausländern unberechtigt ist; der Ängstliche will in seiner Angst gesehen und verstanden werden. So weit, so gut. Der nächste Schritt ist entscheidend: Erwächst aus dem Verständnis der Ängste eine Botschaft, die zur eigenen Kraft ermutigt oder eine, die zum Abtreten der Eigenmacht auffordert? Heißt es also im Diskurs: Ja, ich verstehe die Angst und ich vertraue, dass wir Lösungen finden, um die Ängste zu verringern – oder: Ja, ich verstehe die Angst, und du musst mir vertrauen, dass ich die Ursachen deiner Ängste beseitige.

Aus Ängsten kann Kraft und Autonomie erwachsen. Wir müssen dazu unsere Ängste ernstnehmen, in uns selbst und mit-einander, und sie in uns annehmen. Dann bestimmen sie nicht mehr unsere Entscheidungen und Handlungen. An die Stelle von Ängsten tritt die Freiheit, die uns erlaubt, unsere Menschlichkeit und Liebesfähigkeit zu erweitern und zu vertiefen.

Mittwoch, 11. Oktober 2017

Emotionale Erpressung und der Ausweg

Die US-Psychologin Susan Forward hat den Begriff der emotionalen Erpressung geprägt, um ein Muster dysfunktionaler Beziehungen zu beschreiben, in dem die eine Person versucht, das Verhalten der anderen durch das Auslösen von Ängsten und durch die Erzeugung von Schuldgefühlen zu kontrollieren, um auf diese Weise den eigenen Willen durchzusetzen.

Emotionale Erpressung kommt in allen Formen von Beziehungen vor: in Liebesbeziehungen ebenso wie in Arbeitsverhältnissen, in Eltern-Kind-Beziehungen, Freundschaften usw. Auch wenn es zunächst so ausschaut, als wäre der Erpresser der Bösewicht, funktioniert emotionale Erpressung nur, wenn das Opfer mitspielt. Bei beiden Seiten sind es frühkindliche Erfahrungen, die die jeweiligen Verhaltensweisen prägen, also nur in den seltensten Fällen ist es einem Erpresser bewusst, was er macht, vielmehr nimmt er an, dass er gar keine andere Wahl hat, als Druck auszuüben. Ebenso meint das Opfer, dass es keine andere Möglichkeit hat, als dem Druck nachzugeben, um Schlimmeres zu verhindern.

Vier Typen von emotionalen Erpressern


Der Bestrafer
: Er lässt sein Opfer genau wissen, was er will und mit welchen Konsequenzen es zu rechnen hat, wenn es sich nicht fügt. Er kann seine Rolle aggressiv oder still und verschlossen vor sich hin brütend ausüben, doch ist die Wut, wenn die eigenen Forderungen nicht erfüllt werden, direkt auf das Opfer gerichtet.
Der Selbstbestrafer: Er richtet seine Drohungen gegen sich selbst und malt seinem Opfer aus, was er sich alles antun wird, wenn er nicht bekommt, was er will. 

Der Leidende: Er besitzt ein Talent für Schuldzuweisungen und für das Erzeugen von Schuldgefühlen. Er verlangt von seinem Opfer, dass es herausfindet, was er will. Er geht davon aus, dass immer der andere dafür sorgen muss, dass die eigenen Wünsche erfüllt werden.
Der Verführer: Er stellt seinen Beziehungspartner vor Tests und verspricht ihm etwas Wunderbares, wenn er die Aufgaben besteht.

Allen Typen gemeinsam ist die Vorgangsweise, bei der Durchsetzung eigener Bedürfnisse mit Konditionalsätzen zu arbeiten: Wenn du A nicht tust, wird B passieren. Oder: Nur wenn du A tust, wird C passieren. Mit Bedingungen wird der Handlungsspielraum der anderen Person eingeengt, sie hat nur die Möglichkeit, zuzustimmen oder abzulehnen.

Sechs typische Phasen der emotionalen Erpressung


1. Forderung
Ein Beziehungspartner äußert einen Wunsch, von dem er nicht abweicht und dessen Erfüllung er unbedingt erreichen will. Damit wird der Wunsch zu einer Forderung. Meistens wird der Wunsch so dargestellt, dass er auch dem Beziehungspartner entgegenkommt und für die Beziehung unabdingbar ist.

2. Widerstand
Der andere Beziehungspartner reagiert mit Widerstand, weil er sich überrumpelt, übergangen oder missachtet fühlt.

3. Druck
Der erpressende Beziehungspartner erhöht den Druck, indem er z.B. immer wieder mit dem Thema anfängt und darauf insistiert, dass der eigene Wunsch erfüllt werden muss. Es kann zu Abwertungen kommen wie: „Was bist du für ein egoistischer Partner“. Unbewusst wird gehofft, dass damit im Partner Schuldgefühle erweckt werden können, die diesen zur Erfüllung der eigenen Forderung motivieren. Eine weitere Strategie besteht darin, den Partner mit anderen Personen zu vergleichen, die so agieren, wie es der Erpresser von seinem Opfer verlangt, oder die die gleichen Werte und Ziele wie der Erpresser vertreten.

4. Drohungen
Wenn der Widerstand im Sinn des Nicht-Eingehens auf die Forderung weiter besteht, werden Konsequenzen angedroht. Drastisch wird ausgemalt, was passieren könnte, wenn der Wunsch, der zur Forderung geworden ist, nicht erfüllt wird.

5. Unterwerfung
Manche Partner reagieren dann mit Nachgeben, bleiben aber dann in einem häufig unbewussten Ressentiment. Sie nehmen ihre Willenskraft zurück, um Frieden in der Partnerschaft zu haben. Allerdings ist dieser brüchig.

6. Wiederholung
Nach dem Erfolg gibt der erpressende Beziehungspartner Ruhe, und der andere freut sich über die Harmonie, obwohl ein unterschwellig ungutes Gefühl bleibt. Der Erpresser hat gesehen, wie er seine Ziele durchsetzen kann. Sein Partner hat verstanden, wie das Muster aus Forderung, Druck und Drohung schnell beendet werden kann: Durch Unterwerfung und Aufgeben. Damit ist der Wiederholung Tür und Tor geöffnet.

Die emotionale Atmosphäre


Jeder Mensch kennt die emotionalen Zustände von Angst, Verpflichtung und Schuld. Wir haben die unterschiedlichsten Ängste, die aber im Kern mit Beziehungen zu tun haben, weil wir als kleine Kinder von Beziehungen abhängig waren und Ängste entwickelt haben, die uns davor warnen sollten, dass wir diese Beziehungen aufs Spiel setzen. Daraus entwickelt sich später das Pflichtbewusstsein, das seine konstruktiven Seiten hat, weil wir für die Menschen in unserer Umgebung Verantwortung übernehmen müssen. Schuldgefühle erinnern uns an Fehler, die uns unterlaufen sind, an Situationen, die wir gerne rückgängig machen würden.

Im Allgemeinen können wir mit diesen Gefühlen gut umgehen, doch im Fall der emotionalen Erpressung werden diese Gefühle in den Dienst des Beziehungsstreites gestellt. Forward schreibt: „Erpresser drehen die Lautstärke hoch, dröhnen ihr Opfer so zu, dass es wider besseren Wissens fast zu allem bereit ist, um diese Gefühle wieder auf ein normales Maß zurückzuschrauben, so unwohl fühlt es sich. Ihr Nebel aus Angst, Pflicht- und Schuldgefühlen löst Reaktionen aus, die fast so automatisch sind wie das Zuhalten der Ohren mit den Händen, sobald eine Sirene kreischt. Das Opfer hat wenig Gelegenheit nachzudenken und vermag nur zu reagieren – darin liegt der Schlüssel wirkungsvoller emotionaler Erpressung. Wenn Erpresser ihr Opfer unter Druck setzen, dann ist zwischen dem Auftreten des Gefühls von Unbehagen und dem Erleichterung schaffenden Handeln praktisch keine Pause.
Auch wenn es sich nur so anhört, als handle es sich um einen gut durchdachten Prozess, schaffen die meisten Erpresser den Nebel aus Angst, Pflicht- und Schuldgefühlen doch, ohne dass es ihnen selbst bewusst wird.“ (S. 58) 

Anmerkung: Im englischen Original ergeben die Anfangsbuchstaben von fear, obligation und guilt das Wort „fog“.

Wie Erpresser mit Ängsten arbeiten:
Tu die Dinge so, wie ich es will, und ich werde dich nicht verlassen, dich nicht abwerten, dich nicht anschreien, usw. (S. 59)

Sätze, die das Pflichtgefühl ansprechen:
•    Eine gute Tochter sollte Zeit mit ihrer Mutter verbringen.
•    Ich arbeite Tag und Nacht für diese Familie, und das Geringste, was ich von dir erwarten kann, ist, dass du da bist, wenn ich nach Hause komme.
•    Ehre deinen Vater (und gehorche!).
•    Der Chef hat immer Recht. (S. 66)

Ein Beispiel für die Schuldgefühl-Dynamik:
1.    Ich teile einer Freundin mit, dass ich heute Abend nicht mit ihr ins Kino gehen kann.
2.    Sie regt sich auf.
3.    Ich fühle mich schrecklich und bin davon überzeugt, dass es meine Schuld ist, dass sie sich aufregt. Ich fühle mich als schlechter Mensch.
4.    Ich sage meine anderen Verabredungen ab, damit wir zusammen ins Kino gehen können. Sie fühlt sich besser, und ich fühle mich besser, weil sie sich besser fühlt. (S. 72)

Emotionale Erpressung beenden


Das Erpressungsopfer muss in sich den Nebel aus Angst, Verpflichtung und Schuld auflösen. Im Lauf der Kindheit sind diese Gefühlsmuster als Überlebensstrategien entstanden; im Erwachsenenalter führen sie in die Erpressungsfalle. Wenn an die Stelle der Ängste die Kraft der Selbstbehauptung tritt, wenn Pflichtbewusstsein durch Verantwortung und Schuldgefühle durch Selbstannahme ersetzt werden, wenn also der erwachsene Realitätssinn die Oberhand über die Gefühlsmuster aus der Kindheit gewinnt, hat der Erpresser keine Chance mehr. Entweder gibt er seine Strategie auf oder das Opfer beendet die Beziehung.

Literatur: Susan Forward, Donna Frazier: Emotionale Erpressung. Wenn andere mit Gefühlen drohen. München: Goldmann Verlag 2000

Samstag, 7. Oktober 2017

Bewerten: Anmaßung und Beziehungsstörung

Bewertungen schlagen einen Keil in den Beziehungsraum, schreibt Annette Kaiser in ihrem Buch: Erwachende Seele. Die zwölf Phasen des Gebets (München: Kösel 2010). Immer wieder sind wir verletzt, wenn wir von nahestehenden Menschen abgewertet werden. Immer wieder verfallen wir selbst ins Bewerten, wenn wir uns über etwas oder jemanden ärgern, und richten damit in den Beziehungsräumen Schaden an.

Wenn ich eine andere Person oder ihr Verhalten bewerte, stelle ich mich über sie. Ich gebe vor, dass ich über einen Maßstab verfüge, an dem ich Menschen abmesse, und lege diesen Maßstab an, wie ein Schneider an den Anzugsstoff. Ich will über die Messung feststellen, ob die andere Person zu meinen Kriterien passt. Das ist grundsätzlich nicht falsch und etwas, das wir die ganze Zeit automatisiert machen: Was passt zu uns, was unterscheidet sich von uns, was gefällt uns, was nicht, wer ist uns sympathisch, vor wem müssen wir uns in Acht nehmen usw. Diese unbewusst fortwährend ablaufenden Bewertungen dienen ja dazu, dass wir uns in der unübersehbaren Vielgestaltigkeit der Welt zurechtfinden.

Wenn wir die Bewertungen auf die bewusste Ebene bringen und sie in die Kommunikation einbringen, gilt es, ethisch mit ihnen umzugehen. Wir müssen uns klarmachen, dass sowohl unsere Maßstab als auch die Kriterien, der er abbildet, aus unseren eigenen Normen von richtig und falsch abgeleitet sind. Wir nehmen an, dass unsere eigenen Maßstäbe und Kriterien richtig sind und dass sie andere notwendiger Weise und zu ihrem besten Nutzen übernehmen sollten und dass mit ihnen etwas falsch ist, wenn sie das nicht tun.

In der Bewertung gebe ich also vor, eine übergeordnete objektive Position einnehmen zu können, von der ich auf andere herunterschauen kann, die an einem objektiv auffälligen Mangel leiden, nämlich dass sie meine objektiv überlegenen Standards nicht teilen. Mit der Bewertung will ich erreichen, dass sie auf diesen Mangel aufmerksam werden und gebe ihnen die Chance, den „besseren“ Standard zu übernehmen. Dann kann ich von meiner Bewertung lassen; im anderen Fall muss ich sie aufrechterhalten, bis bei der anderen Person eine Besserung, eine Veränderung in meine Richtung eingetreten ist. 


Die Überheblichkeit im Bewerten


Als Bewerter bin ich von der Überzeugung getragen, dass ich der anderen Person etwas Gutes tue, wenn ich sie bewerte, weil ich meine, ich müsse sie auf ihrem Irrtum, der ihr ja schadet, aufmerksam machen. Wenn sie meine Standards übernähme, würde sie von diesem Irrtum genesen, ein besserer Mensch werden –  und mir mein Leben leichter machen.

Das Ego mischt sich beim Bewerter also mehrfach ein: Zum einen will es im ethischen und kognitiven Sinn besser sein als die bewertete Person. Zum zweiten will es vermeintlich Gutes für die Adressatin der Bewertung und zum dritten möchte es ein eigenes Problem aus der Welt schaffen, an dem es leidet, das es sich aber nicht anschauen möchte. Für das Ego ist es immer die Patentlösung, dass andere sich ändern, wenn es Probleme mit ihnen hat.


Die Seite des Empfangens


Aus der Sicht des Empfängers der Bewertung betrachtet, schaut das Bild naturgemäß anders aus. Nur wenn die emotionale Schwingung, mit der die Bewertung ausgesprochen wird, wertschätzend und annehmend ist, also wenn die Bewertung im Rahmen einer gleichrangigen Beziehung ohne Involvierung des Egos geäußert wird, wird sie der Empfänger als Hilfe und Unterstützung annehmen können. Sobald sich auf der emotionalen Ebene Überheblichkeit und Besserwisserei oder sogar aggressive Ablehnung dazumischt, wird die Bewertung als verletzend und beleidigend empfunden. Die Kommunikation erleidet eine Störung und Belastung, und der Beziehungsraum wird in Mitleidenschaft gezogen.

Bewertungen können also schnell zu kommunikativen Waffen werden, mit denen wir andere Menschen in Frage stellen und sie auf diese Weise in ihrem Existenzrecht bedrohen. Sie dienen uns dazu, uns anzumaßen, über andere Macht auszuüben, nämlich die Macht, Wert zu- oder abzusprechen. Eine ethische Einstellung zu anderen Menschen beginnt mit dem Anerkennen des individuellen Wertes jedes Menschen. Das ist die Grundlage für zwischenmenschlichen Respekt: Jeder Mensch ist gleich viel wert. Niemand kann mehr Wert für sich beanspruchen als jemand anderer. Nur wenn diese Ebene sicher und von Vertrauen getragen ist, macht es Sinn, andere Menschen auf ihre Schwächen und Fehler aufmerksam zu machen.


Das ökonomische Werten


Hier trennt sich die ethische von der ökonomischen Einstellung. In der letzteren hat alles einen unterschiedlichen Wert, Dinge sowieso, deren Wert in einem Preis berechnet wird, und Menschen ebenfalls, die mittels der unterschiedlichen Verfügung über Dinge (messbar an der Menge an Geld und Sachwerten, die die betreffende Person besitzt) auf einer unendlichen Skala voneinander unterschieden sind. Für US-Amerikaner ist ihr Jahreseinkommen Teil ihrer Identität. Der ökonomische Wert kann in Zahlen ausgedrückt werden und ist damit eindeutig fixiert. Er wird vom Markt bestimmt und ändert sich gemäß Angebot und Nachfrage.

Auf der ethischen Ebene hingegen lassen sich die Menschen nicht quantitativ (=messbar) voneinander unterscheiden, sondern qualitativ. Diese Unterschiede können nicht mit einer Messlatte verglichen werden, weil jeder Mensch einen eigenen Maßstab bräuchte. Qualitative Unterschiede können nicht eindeutig bewertet werden, wir können sie nur differenziert beschreiben, wie wir die Unterschiede zwischen den Blättern eines Baumes oder den Blüten einer Pflanze verbal oder zeichnerisch darstellen können, aber nicht in Zahlenverhältnissen. Menschen sind unausschöpflich und unausdeutbar, unbegrenzt und unendlich individuell im Sinn von einzigartig. Deshalb gibt es keine ethisch vertretbare Rangfolgen unter den Menschen, keine Rankings, sondern eine grundsätzliche Gleichbewertung der jeweiligen Individualität.

Auf der ethischen Ebene wissen wir, dass die menschliche Gemeinschaft nur auf dieser Grundlage existieren kann, dass sie somit auch die Basis für jede Form von Ökonomie darstellt. Menschliche Gesellschaften können nur einen begrenzten Rahmen von Ungleichheit und Ausgrenzung erlauben, sonst brechen sie zusammen. Und das Bestreben nach Wertgleichheit unter den Menschen wird immer ein mächtiger Impuls zur gesellschaftlichen Änderung sein. Denn im Grund leiden alle Mitglieder der Gesellschaft an bestehenden Ungleichheiten, die auf Abwertungen von Menschen gegründet sind. Die Kerben, die sich durch die Gesellschaft ziehen, betreffen alle, ob sie auf der einen oder auf der anderen Seite stehen. 


Zum Ursprung des Bewertens


Wir verstehen und erkennen leicht, dass das Bewerten ein Reflex ist, der aus unserer Kindheit stammt. Eltern sind oft der Meinung, dass sie ihre Kinder in eine bestimmte Richtung erziehen müssen, die sie für richtig und förderlich erachten, und versuchen das innere Wachstum ihrer Sprösslinge mit positiven wie negativen Bewertungen auf diesen Weg zu lenken. Kleine Kinder nehmen grundsätzlich an, dass die Eltern mit ihren Ansichten und Strategien Recht haben, obwohl sie spüren, dass sie in ihrem Sein und Werden beschnitten werden.

Üblicherweise tun wir unseren Mitmenschen das an, was uns als Kindern angetan wurde, zu einem Zeitpunkt, als wir uns nicht wehren konnten, sodass wir damals schon den unbewussten Glauben entwickelten, dass es normal und sinnvoll ist, andere Menschen abzuwerten. Sobald wir als Erwachsene irgendwie in die Enge kommen und uns etwas Angst bereitet, haben wir die Strategie des Abwertens bei der Hand, um uns zu schützen. Das ist der einfache psychologische Mechanismus hinter der Gewohnheit des Abwertens, den wir erst außer Kraft setzen können, wenn wir uns den Ängsten stellen, die wir als Kind erlebt haben, wenn uns die Erwachsenen abwertend und abschätzig behandelt haben, am besten in der Gegenwart von einer Person, die uns bewertungsfrei und akzeptierend begegnet.


Zum Weiterlesen: Bewerten im bewertungsfreien Raum