Donnerstag, 29. November 2018

Fremdschämen - ein eigentümliches Gefühl

Wenn Kinder sich daneben benehmen, können sich Eltern für sie schämen, vielleicht weil sie meinen, dass sie schlechte Eltern sind und die Mitmenschen mit verstecktem Zeigefinger auf sie zeigen. Wenn Kinder sich für ihre Eltern schämen (meist erst in der Pubertät), dann meinen sie vielleicht, dass ihre Eltern verzopft und altmodisch sind und bei ihren Freunden als uncool ankommen. Beim Fremdschämen sind wir mit den betreffenden Personen über-identifiziert oder von ihnen mangelhaft abgegrenzt.

Das Phänomen des Fremdschämens hat deshalb eine ganz besondere Stellung, weil es das einzige Gefühl ist, das wir für jemand anderen, also stellvertretend empfinden. Wir sind nicht für jemand anderen traurig, wütend oder eifersüchtig; das geht nur bei der Scham, auch ein Grund, warum sie ein derartig komplexes Gefühl ist. Dazu kommt, dass wir das Gefühl für vollkommen fremde Personen empfinden können, z.B. für jemandem im Fernsehen, dem ein blödes Missgeschick passiert oder der bei einer gestellten Aufgabe versagt oder während der Sendung völlig den Faden verliert. Forscher haben außerdem herausgefunden, dass das Gefühl des Fremdschämens genauso stark sein kann, wenn der peinliche Fehler absichtlich oder unabsichtlich passiert und unabhängig davon, ob die Person überhaupt bemerkt, was geschieht.

Laut Gehirnstudien werden bei dieser Art der Scham die gleichen Areale aktiviert, die bei körperlichem Schmerz und beim Beobachten von schmerzhaften Situationen von Mitmenschen (Spiegelneurone) reagieren. Es tut also buchstäblich weh, jemand anderen in einer peinlichen Situation zu beobachten. Es geht, genauer gesagt, um den vorderen zingulären Kortex und die anteriore Insula. Das sind die Gehirnareale, die aktiv sind, wenn man Mitleid mit Menschen hat, die eine körperliche Verletzung erlitten haben, und dabei den Schmerz des anderen in sich selber spürt.

Die Forschungen haben auch gezeigt, dass es individuelle Unterschiede beim Ausmaß des Fremdschämens gibt. Es reagieren nicht alle Menschen gleich stark und gleich oft. Offenbar gibt es einen Zusammenhang mit der Fähigkeit zur Empathie, die unter den Menschen verschieden ausgeprägt ist. Das könnte der Grund sein, warum diese Form der Scham bei Frauen stärker ausgeprägt ist als bei Männer, denn Frauen sind durchschnittlich besser in der empathischen Kommunikation als Männer. Autisten dagegen, die sich mit Empathie schwer tun, haben auch schwächere Tendenzen zum Schämen für andere. 

Empathie sollte in diesem Zusammenhang allerdings klar von der Identifikation unterschieden werden, die eine wichtige Rolle beim Fremdschämen spielt. Empathie ist die Fähigkeit, die Gefühle anderer Menschen „lesen“ zu können und dafür Verständnis aufzubringen. Identifikation, ein Abwehrmechanismus in der Theorie der Psychoanalyse, geschieht dagegen, wenn die Gefühle eines anderen Menschen zu den eigenen werden und nicht mehr davon unterschieden werden können. Diese Unterscheidung wird weiter unten noch genauer besprochen.

Ähnlich wie die Scham von kulturellen Trends und Standards abhängig ist, gilt das auch für das Fremdschämen. Kleidungsstile, die vor einigen Jahrzehnten peinlich und unmöglich empfunden wurden, können heutzutage Teil der Mode sein, an der sich niemand stößt. Es scheint so, als würde die Schamabhängigkeit der Kunden vom Modemarketing ausgenutzt, um sie davon zu überzeugen, die Garderobe regelmäßig zu erneuern, nach dem Motto: „Sie wollen doch nicht das Objekt des Fremdschämens Ihrer Mitmenschen werden, also ziehen Sie an, was gerade die Mode diktiert!“


Fremdschämen fürs Kollektiv


Die Kultur, in der wir leben, prägt nicht nur die Schamthemen, sondern bietet auch reichlich den Anlass für den Aufbau von Identifikationen bei ihren Mitgliedern. Wenn andere Mitglieder aus dem kulturellen Konsens ausscheren, meldet sich schnell das Fremdschämen. Im Jahr 2014 gewann die österreichische Sängerin Conchita Wurst den Europäischen Songcontest, und vielen ihrer Landsleute war es äußerst peinlich, bis hinauf zum damaligen Vizekanzler, auf eine transsexuelle Kunstfigur und einen besonderen Menschen wegen einer ausgezeichneten künstlerischen Leistung stolz sein zu sollen.

Ein anderes Fremdschäm-Thema liefert in vielen Ländern der Sport, insbesondere der Fußball: Die Nationalmannschaft des eigenen Landes hat eine blamable Vorstellung abgegeben und das wichtige Spiel kläglich verloren – wie konnte „uns“ das nur passieren? Wie stehen „wir“ jetzt da vor allen anderen, die uns ab jetzt nur mehr abschätzig bemitleiden? Die Identifikation mit der Nation über das Vehikel Sport spielt eine zentrale Rolle im Seelenleben vieler Menschen.

Auch andere, vom Mainstream abweichende Kulturproduktionen können Fremdschäm-Reaktionen hervorrufen – abstrakte Denkmäler, atonale Musikstücke, unkonventionelle Inszenierungen, provokante Filme usw. bieten Anlass für peinliches Berührtsein bei Menschen, die nur Äußerlichkeiten oder Nebensächlichkeiten wahrnehmen und den Kontext und die künstlerische Aussage nicht verstehen. Um solche Schamreaktionen zu vermeiden, tendieren autoritäre Staaten dazu, solche Werke einfach zu verbieten und aus der Öffentlichkeit zu verbannen, vgl. die  Bücherverbrennungen und die Brandmarkung von „entarteter Kunst“ im Nationalsozialismus.


Die psychologischen Hintergründe 


Wir vollziehen die Schamreaktion an der Stelle der anderen Person, wir nehmen ihr gewissermaßen ab, was sein soll, damit die soziale Ordnung nach der Störung wieder ins Gleichgewicht kommt. Es ist etwas Blamables geschehen, das muss mit Scham zur Kenntnis genommen und entschuldigt werden und dann kann das Leben nach den gewohnten Regeln weitergehen. Wir wollen für die andere Person ausbessern, was durch deren Fehlverhalten, Unachtsamkeit oder Missgeschick aus dem Lot geraten ist. 

Solche stellvertretende Manöver, die ja vom Unbewussten unseres Seelenlebens gesteuert sind, wirken ein wenig schräg und tragen zu dem zwiespältigen Bild bei, das wir vom Fremdschämen haben. Einesteils trägt es den Anschein des Altruismus, einfühlend mit einer Person in einer Notlage zu sympathisieren und ihr ein Stück der Last abnehmen zu wollen. Allerdings passiert das Ganze nur in der Vorstellungs- und Gefühlswelt der nichtbeteiligten Person. Die vom Fremdschämen betroffene Person hat nichts davon, im Gegenteil, es kann ihre Notlage sogar noch verstärken. Jemand stolpert vor laufenden Kameras auf die Bühne; sofort meldet sich die eigene Scham, aber das Wissen, dass alle sehen, was geschehen ist, und dass sich alle für einen schämen, erschwert die Situation zusätzlich. Die Peinlichkeit erleichtern würde es, wenn alle Zuseher einfach über das Missgeschick hinwegsähen und nicht davon Kenntnis nähmen, geschweige denn selber beschämt wären. Jeder Akt des Fremdschämens belastet die eigene Scham zusätzlich.

Und das ist die andere Seite: Je stärker das Fremdschämen wirkt, desto wirksamer sind wir mit der Person, für die wir uns schämen, identifiziert. Wir schaffen es nicht, ihr zuzutrauen, aus dem Schlamassel herauszufinden und die Situation aus eigenen Kräften zu meistern. Wir nehmen ihr einen Teil der Verantwortung ab, ohne Rücksicht darauf, ob sie den nicht ohnehin selber tragen könnte. Dazu kommt: Wir nutzen unsere sichere Position des Außenstehenden, um uns ein Stück besser zu fühlen als die in ihrer Peinlichkeit bloßgestellte Person. Denn unsere Fremdscham tut uns zwar weh, aber wir spüren diesen Schamschmerz im Rahmen einer moralischen Rechtschaffenheit, dem Objekt unseres Schämens scheinbar das Leben zu erleichtern und nach dem Fehltritt die Rückkehr in die Gesellschaft der Normalos zu beschleunigen.

Die Identifikation liefert uns die Brücke: Wären wir selber in der Situation, würden wir uns schämen. Wir versetzen uns in die Person und in deren peinliche Situation, leiden mit, aber genießen zugleich die Gewissheit, tatsächlich auf der sicheren, unbetroffenen Seite zu sein, ähnlich wie wir uns mit dem Opfer eines Verbrechens in einem Krimi identifizieren, aber immer auch wissen, dass uns nichts geschehen kann, weil wir sicher im Lehnstuhl vor dem Fernseher sitzen.

Darin liegt offenbar der Gewinn beim Fremdschämen: Wir fühlen uns als Mensch, der Gutes geleistet hat und sozial eingestellt ist, als jemand, der sich um andere kümmert und stets bereit ist, ihnen eine Last abzunehmen. Dafür verdienen wir Anerkennung und Wertschätzung. Wir nehmen das Schicksal anderer Menschen ernst und bleiben deshalb im sozialen Netz verbunden. Ob die Form des Ernstnehmens und Gutes Tuns beim Fremdschämen tatsächlich hilfreich ist, ist allerdings zweifelhaft.

Die Spiegelneuronen sind der Schlüssel zur Fremdscham. Studien konnten zeigen, dass das bloße Beobachten von jemandem, der gerade in einer peinlichen Situation feststeckt, in unserem Hirn die gleichen Areale anspringen lässt, als wenn wir selbst in der Situation wären. Dafür ist es aber nötig, dass der andere sich auch selbst darüber bewusst ist, dass er sich gerade die Blöße gibt.

Ist dem nicht der Fall, können wir uns natürlich trotzdem fremdschämen. Nur spiegeln wir jetzt eben nicht die Scham des anderen, sondern schämen uns an seiner statt – dafür vielleicht manchmal auch doppelt so stark.


Die Schadenfreude


Die Schadenfreude ist gewissermaßen das Gegenteil des Fremdschämens. Statt den anderen Menschen, der sich gerade eine Blöße gegeben hat (manchmal sogar im wörtlichen Sinn), zu verstehen und ihm helfen zu wollen, vergönnen wir ihm das Problem. Schadenfreude ist eine Form der Rache und setzt voraus, dass uns die andere Person bereits Böses angetan hat. Wir mögen z.B. bestimmte politische Parteien nicht, weil wir den Eindruck haben, dass sie mit ihrer Politik uns und uns nahestehenden Menschen Lebenschancen beschneiden und Möglichkeiten einschränken. Wenn solchen Parteien oder deren Protagonisten Missgeschicke (schlechte Wahlergebnisse, imageschädigende Korruptionsfälle, Gerichtsverurteilungen usw.) widerfahren, freuen wir uns, weil wir hoffen, dass damit die Bedrohung für uns und unsere Ziele und Ideale verringert wird. 

Bei der Schadenfreude geben wir uns nicht den Anschein der altruistischen Menschenliebe wie beim Fremdschämen, sondern überlassen unserem Egoismus das Feld. Wir fühlen uns als Sieger in einem Kampf, zumindest auf Zeit, und können unsere Racheimpulse befriedigen. 


Empathie oder Identifikation?


Das Fremdschämen ist ein ambivalentes Gefühl. Es hängt auch mit der eigenen Beschämungsgeschichte zusammen, denn in ihr liegt der Schlüssel, ob wir dazu neigen, Empathie und Identifikation zu vermischen oder klar unterscheiden zu können. Identifikation ist in der Psychoanalyse der reifste der Abwehrmechanismen, der bis zu einem gewissen Grad notwendig für eine gesunde seelische Entwicklung ist (kleine Kinder identifizieren sich mit ihren Eltern, um deren Fähigkeiten, Einstellungen und Werte zu übernehmen und darauf die eigene Identität aufzubauen). Aber unbewusst wirkende Identifikationsvorgänge hindern die eigene Entwicklung, vor allem, wenn sie auf Scham gegründet sind.

Um also erkennen zu können, dass wir uns in einer Identifikation und nicht in der Empathie befinden, müssen wir in der Kindheit gelernt haben, klar zwischen eigenen und fremden Gefühlen zu unterscheiden. Wenn die eigenen Eltern keine oder zu wenig Verantwortung für die eigenen Gefühle übernommen haben, also den Kindern ihre Gefühlsreaktionen unbefragt und unreflektiert überstülpen, dann lernen die Kinder, sich vorrangig mit den Gefühlen der Eltern zu identifizieren statt selber zu spüren, was in ihnen vorgeht. Es kommt dann leicht zur Vermengung von eigenen Gefühlen und den Gefühlen der anderen, die oft auch nur vermutet werden. Auf dieser Basis steigt die Empfänglichkeit für das Fremdschämen.

Eine zweite Grundlage für eine verstärkte Ausprägung der Neigung zum Fremdschämen liegt in der eigenen Kindheitsgeschichte mit ihrem Ausmaß an Beschämungen. Eltern oder später andere Autoritäten, die besonders erpicht auf Ungeschicklichkeiten, Fehler und Peinlichkeiten der Kinder sind, sorgen dafür, dass die Kinder ein spezielles Sensorium für beschämende und peinliche Situationen entwickeln. In der Folge bildet sich eine starke Neigung zum Selbst- wie zum Fremdschämen. Hier kann auch der Grund dafür liegen, warum Millionen Menschen Youtube-Videos anschauen, in denen alle möglichen Peinlichkeiten dargestellt werden, von Prominenten wie von Normalsterblichen.  


Vertrauen statt Fremdscham


Welche Möglichkeiten haben wir, um unsere Tendenzen zum Fremdschämen zu verringern?
  • Bei sich selber bleiben und die Identifikation unterbrechen: Dieser ganz einfache Satz kann oft Wunder wirken: „Ich hier, du dort.“ „Ich bin in meiner Situation, du in einer anderen. Ich bin im Zuschauerraum, du auf der Bühne.“ 
  • Mitgefühl für den Menschen entwickeln, der gerade in einer peinlichen Situation steckt: „Es tut mir leid für dich, dass du in diese Situation geraten bist, ich kann nachvollziehen, wie es dir geht.“ 
  • Entscheiden über den Handlungsspielraum: „Kann ich in irgendeiner Weise hilfreich eingreifen oder nicht? Wenn ja, was ist zu tun?“ Wenn nein, geht es darum, sich herauszuhalten und auf Distanz zu gehen. Es genügt, beim Mitgefühl zu bleiben, das sich mit dem Vertrauen verbinden kann, dass es immer einen guten Ausweg aus einer misslichen Situation gibt.
  • Die Verantwortung bei der Person lassen: Wo es nichts zu tun gibt, besteht auch keine Verantwortung. Die Person muss und wird die blamable Situation bewältigen und überwinden.
  • Auf positive Eigenschaften fokussieren: Meist ist die peinliche Angelegenheit nur eine Kleinigkeit im Vergleich zu dem, was alles an der Person, die in die Situation kam, anerkennens- und bewundernswert ist, was sie gut kann und was sie als Mensch wert ist.

Zum Weiterlesen:
Empathie

P.S. in eigener Sache: Diese Blogseite hat dieser Tage den 200 000sten Aufruf zu verzeichnen.

Montag, 26. November 2018

Die Rückkehr aus der Scham

Die Scham ist nicht nur das schwierigste, sondern auch das unangenehmste Gefühl. Wir wollen ihm so schnell wie möglich entrinnen, manchmal wünschen wir uns, in der Erde zu versinken – Mutter Erde soll uns gnädig in ihr Reich aufnehmen, in dem alle Fehler, die wir jemals begangen haben, keine Rolle mehr spielen. In ihrem Schoß kann es nichts Peinliches mehr geben, weil sie alles schon kennt, was Menschen falsch machen können.

Soweit unsere Errettungsfantasie in den Momenten der Pein, in denen es scheinbar kein Entkommen vor der Missbilligung unserer Mitmenschen und dem Verlust unserer Selbstachtung gibt. Wir stehen auf der Rednerbühne und merken plötzlich, dass der Hosenzipp offen ist, wir erzählen in der Runde etwas, was alle schon längst wissen, wir haben einen wichtigen Termin vergessen oder die Blumen liegengelassen, die wir schenken wollten, wir bringen bei einem Witz die Pointe nicht rüber, wir stellen eine Bekannte mit einem falschen Namen vor… Anlässe zum Schämen gibt es Sonderzahl. 

Wir können zwar den bekannten, fälschlicherweise Wilhelm Busch zugeschriebenen Rat beherzigen: „Ist der Ruf erst ruiniert, lebt’s sich gänzlich ungeniert“, doch müssten wir dazu erst einmal unseren Ruf riskieren. Denn dieser definiert unsere Stellung in der Gemeinschaft, und daran hängen unsere Chancen, angenommen zu sein und sicher dazu zu gehören. Wir wollen, dass uns die anderen vertrauen können, so wie wir ihnen vertrauen wollen. Mit einem ruinierten Ruf riskieren wir das Misstrauen unserer Mitmenschen und damit unsere Sicherheit in der Gesellschaft und Öffentlichkeit.

Andererseits stehen wir in Zusammenhängen des Schämens und des Beschämtwerdens, sobald wir uns auf den Marktplatz der Gesellschaft begeben. Die Gesellschaften, die wir als Menschen bilden, sind so komplex und von unterschiedlichsten Werten und Normen durchzogen, dass wir uns nicht aus dem Haus bewegen sollten, wollten wir der Scham entgehen. Allzu leicht können wir die Grenzen bei anderen verletzen, was uns zur Scham führt, sobald wir das merken. Deshalb haben wir immer wieder versucht, uns all die Regeln und Normen einzuprägen, damit unser Navigieren durch die menschliche Gesellschaft ohne Peinlichkeiten und Scham ablaufen kann. Doch all das Lernen und Verbessern in unseren sozialen Kompetenzen hat uns nicht davor gefeit, doch immer wieder mal in ein Fettnäpfchen zu tappen. 

Der Narr


Die archetypische Gestalt des Narren bezeichnet einen Menschen, der sich nicht schämt, weil er nichts weiß oder vorgibt, nichts zu wissen über das, was sich gehört und was sich nicht gehört. Narren und Kinder sprechen die Wahrheit, so heißt es, und damit ist gemeint, dass wir unangenehme Dinge nur ansprechen können, wenn wir bestimmte soziale Konventionen überwinden. Und das können wir, wenn wir uns in einen Bereich jenseits der Scham begeben. Dem Narren wurde zugebilligt, sogar die Majestät zu beleidigen, weil er eben ohne Rücksicht auf die Normen und Gesetze sagt, was er sich denkt und was er sieht. 

In diesem Sinn wurde auch zu bestimmten Zeiten die Narrenfreiheit ausgerufen, um für die Leute einen zeitlich begrenzten Erfahrungsraum zu öffnen, in dem niemand etwas falsch machen konnte und alles erlaubt war. Jeder sollte sich einmal als Narr aufführen können, um sich dann wieder leichter in die Zwängen der Gesellschaft einfügen.

Der Narr ist frei von Abhängigkeiten, auch von der Abhängigkeit von einem bestimmten Selbstbild. Er ist ein Meister der Widersprüche und des Paradoxen. Er kann einmal so sein und dann wieder ganz anders. Er lässt sich nicht auf ein bestimmtes Image festnageln, sondern wirkt durch seine Unberechenbarkeit. Da er nichts hat, hat er nichts zu verlieren, also gibt es nichts, wofür er sich schämen könnte oder müsste.

Mehr Narrenfreiheit


Wir müssen nicht alle zu Narren werden, das könnte anstrengend werden, wenn wir nicht über das entsprechende Naturell verfügen, aber wir können uns selbst mehr Narrenfreiheit schenken. Was könnten wir uns vom archetypischen Narren abschauen?

Der Narr kümmert sich nicht um Gewohnheiten, Regeln und Vorschriften. Die einzige Regel, der er folgt, verpflichtet ihn zum Aussprechen der ungeschminkten Wahrheit. Kompromisslos steht er dazu, ohne Rücksicht auf das eigene Risiko. Er hält anderen den Spiegel vor, weil er selber leer ist von Eitelkeit und Rechthaberei. Er ist die Symbolfigur für die Verweigerung jeder Anpassung. 

Wir haben von früh an gelernt, die Erwartungen der anderen wichtiger zu nehmen als was wir selber spüren, brauchen und wollen. Der Preis für unsere Anpassungsleistung war die Imprägnierung mit Scham. Indem wir unsere eigene Narretei und die mit ihr verbundene Kreativität, Sinnlichkeit und Lustigkeit einladen und zulassen, finden wir zurück zu dieser Unbefangenheit und Lockerheit, die das Eigene behaupten kann, ohne sich dafür zu schämen. Sie hat auch keinen Impuls, das Andere abzuwerten, abzuwehren oder zu beschämen.

Mit Archetyp ist gemeint, dass wir alle einen närrischen Persönlichkeitsanteil in uns tragen. Er ist bei manchen Menschen stärker ausgeprägt als bei anderen. Wo auch immer wir uns selber auf dieser Skala befinden, können wir die Energie des Narren nutzen, wenn wir uns unserer ursprünglichen Unbefangenheit und Unschuld besinnen. Wir kommen aus dem Reich der Freiheit von Scham und Schuld, und es steht uns zu, immer wieder dort zurückzukehren und in spielerischer Freude herumzutoben. So wandelt sich die Schwere der Scham in die Leichtigkeit des Narren, der sich, auf gut Wienerisch, einfach „nix scheißt“.  

Die Rückkehr aus der Scham


Was hilft uns noch, uns aus den Fängen eines quälenden und hartnäckigen Schamgefühls zu befreien? Der Narr repräsentiert das Gegenbild zum schamerfüllten angepassten und unterdrückten Mitglied der Gesellschaft. Meistens bewegen wir uns zwischen diesen Extremen, mal melden sich kleine, mal größere Schamgefühle. Wie können wir uns von den alltäglich auftauchenden und den längerfristig bedrückenden Schamerfahrungen entlasten?

Der erste Schritt besteht darin, das Gefühl im Moment zu spüren und anzunehmen, auch wenn es lästig und unangenehm ist. Vor allem Schamgefühle lösen sich nicht, wenn wir sie beiseite schieben und verdrängen. Im Akzeptieren des Gefühls erkennen wir es als das, was es ist, nämlich nur ein Gefühl, das nichts mit unserem Persönlichkeitskern und unserer Identität zu tun hat.
  • Im nächsten Schritt können wir uns klarmachen, dass wir Menschen sind, und das heißt, dass wir Fehler machen können und immer wieder Fehler machen werden. Wir sind wie alle anderen, auch wie die, vor denen wir uns schämen. Wir begehen auch den Fehler, perfekt sein zu wollen, der zusätzlich dazu beiträgt, dass wir uns öfter schämen, als es notwendig ist.
  • Weiters sollten wir unser Verhalten von unserer Person unterscheiden. Wir sind keine unhöflichen oder unachtsamen Menschen, wenn wir einmal unhöflich oder unachtsam reagiert haben. Wir sind immer in der Lage, für unser Verhalten die Verantwortung zu übernehmen und dort, wo es notwendig, ist, den Schaden wieder reparieren.
  • Hilfreich ist es auch, wenn wir unser Selbstmitgefühl vertiefen, allerdings sollten wir darauf achten, nicht in ein Selbstmitleid, das uns in einer Opferrolle festhalten will, zu verfallen. Mitgefühl heißt, dass wir uns nicht als unbarmherzigen Richter über uns selbst aufbauen, sondern uns selbst gegenüber das Verständnis aufbringen, dass wir unsere Schwächen und Mängel haben und dass wir als Menschen nie fertig sind. Wir werden immer wieder da und dort straucheln und unsere Sicherheit verlieren, und dann wieder festen Boden unter den Füßen gewinnen. So ist unser Leben und das der anderen auch.
  • Die Scham will uns einreden, dass wir die einzigen sind, die fehlerhaft sind und die immer wieder was falsch machen. Doch stimmt das überhaupt nicht, im Gegenteil: Wir sind in bester Gesellschaft – mit all den anderen menschlichen Wesen. Wenn wir glauben, jemand anderen wegen seiner Vollkommenheit bewundern und beneiden zu müssen, haben wir nur nicht genau genug hingeschaut und deshalb die Unvollkommenheiten dieser Person übersehen.
  • Wir reden mit anderen aus vielerlei Gründen. Einer ist immer mit dabei: Wir vergewissern uns, dass uns die andere Person wohlgesonnen ist. Denn dann können wir entspannen, weil wir uns nicht schämen müssen. Wir können so sein, wie wir sind, und wenn Fehler passieren, passieren eben Fehler und nicht mehr.
  • Wenn es uns gelingt, mit vertrauten Menschen über Erlebnisse zu sprechen, die uns beschämt haben, ist das ein weiterer Schritt zur Auflösung eines Schamgefühls. Wir erhalten die Bestätigung von der anderen Person, dass wir in Ordnung sind, auch wenn – oder sogar: gerade weil – wir etwas Beschämendes erlebt haben. Wir brauchen keine Angst mehr zu haben, dass wir nicht dazugehören. Vielmehr gehören wir ganz besonders dazu, wie alle, die sich ihre Scham eingestehen und sich damit von ihrer Last befreien können.

Das Reich der Würde


Sobald wir den Bann der Scham verlassen, treten wir voll in den integren Raum unserer Würde ein. Wir nehmen unsere aufrechte und gerade Haltung ein und begegnen auf diese Weise der Welt. Es gibt nichts, was wir zu verbergen hätten und es gibt nichts, was uns einschüchtert. Es gibt nichts, was in diesem Raum der Würde keinen Platz hätte. Wir zeigen uns in unserer Kraft und in unserer Verletzlichkeit, in unserer Anfälligkeit für die Scham. Je mehr wir mit ihr Freundschaft schließen, desto weniger wird sie sich hinterrücks einschleichen und unseren Lebensfluss blockieren. Und wenn es doch passiert, treffen wir auf ein befreundetes Gefühl und können es nutzen, mehr Bewusstheit in unser Inneres zu bringen. 

Zum Weiterlesen:
Scham - unser schwierigstes Gefühl
Unterschiedliche Reaktionsweisen auf die Scham
Das Vergleichen und der Selbstwert

Donnerstag, 22. November 2018

Scham – unser schwierigstes Gefühl

In einem Text über die Scham ist die Rede von einer der dominantesten Emotionen, die es überhaupt gibt – und die das Verhalten aller Menschen von Kindesbeinen an prägt. Ein anderer Autor bezeichnet die Scham als einen alles überflutenden Affekt mit einer Gewalt, die alles mitreißen kann. Das ist nicht verwunderlich, wenn man bedenkt, dass das Schamgefühl die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft reguliert. Auf einer tiefen Ebene empfinden wir diese soziale Zugehörigkeit als existenziell. Denn die Menschengattung konnte nur durch die Gruppenbildung und den sozialen Zusammenhalt überleben. Einzelne, die aus diesen Verbänden ausgeschlossen wurden, waren dem Tod geweiht. Diese Bedeutung der sozialen Mitgliedschaft tragen wir alle noch in uns und sie wirkt in die Macht des Schamgefühls hinein.

Scham ist also ein Gefühl, das nur in Verbindung mit anderen Menschen auftaucht. Angst können wir auch bei einem Gewitter bekommen, oder Ekel vor bestimmten grauslichen Tieren. Ärgern können wir uns über Gegenstände, z.B. ein Auto, das nicht starten will. Aber die Scham entsteht erst, wenn andere Menschen involviert sind. Wir schämen uns immer vor anderen, die uns für etwas abwerten oder verurteilen – oder bloß, von denen wir uns vorstellen, dass sie uns abwerten oder verurteilen. Die Scham ist also stark von unseren eigenen Bewertungen abhängig: wie wir andere und ihre Reaktionen einschätzen.
    
Aus der subjektiven Perspektive ist die Scham aus mehreren Gründen ein schwieriges Gefühl. Es ist nicht so eindeutig spürbar und verfügt über keinen so deutlichen Ausdruck wie etwa Wut oder Schmerz. Es hat auch keinen klaren Verlauf wie diese Gefühle, die kommen, stärker werden und dann wieder vergehen. Die Scham kann durch eine auslösende Situation bewirkt werden und dann über längere Zeit andauern, ohne sich irgendwann völlig zu entspannen. Die Situation taucht immer wieder aus dem Gedächtnis auf und ruft sofort das Gefühl wieder wach. Die Schamreaktion kann sich leicht chronifizieren und irgendwann in depressive Stimmungen einmünden. Es gibt kleine Schamgefühle und größere, manche sind uns so in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie uns gar nicht mehr auffallen. Manche sind ritualisiert, wie das Senken des Blicks bei einer Begrüßung, manche überspielen wir durch Verlegenheitshandlungen.

Die physiologischen Begleiterscheinungen sind vielfältig: Herzrasen, Schamröte, Zittern, Schweiß, Räuspern, Blick senken, verlegenes Lachen, Demutshaltung (gesenkter Kopf, hochgezogene Schultern). Ebenso unterschiedliche Reaktionen gibt es auf der Verhaltensebene: Menschen, die gerade von Scham erfasst sind, können nach einer Ausrede suchen, sich selbst verurteilen, sich minderwertig fühlen, zu grübeln beginnen, wütend auf sich sein oder den anderen angreifen oder sich übertrieben entschuldigen. 


Gesunde Scham


Wir können die gesunde Scham von der toxischen unterscheiden. Die erstere bezieht sich auf eine wichtige soziale Fähigkeit, die wir als Reaktion auf Fehler vor allem im sozialen Umgang brauchen. Ich habe die Grenzen einer anderen Person verletzt, deren Bedürfnisse nicht wahrgenommen, und dieser Mensch reagiert beleidigt oder eingeschnappt. Die Schamreaktion signalisiert mir und auch der anderen Person: Ich habe erkannt, dass ich etwas falsch gemacht habe. Das Gefühl motiviert mich auch dazu, den Fehler auszubessern und wieder gut zu machen. Das Gefühl der Scham macht also auf das Übertreten von Regeln im sozialen Zusammenleben aufmerksam und soll dazu beitragen, dass aus der Situation für ähnliche Situationen in der Zukunft ein besseres Verhalten gelernt wird. 

Wer keine Scham empfindet, gilt als schamlos. Es fehlt ihm ein wichtiges soziales Regulativ, und das schafft vielfältige Probleme. Ein schamloser Mensch gilt als egoistisch und muss damit rechnen, ausgegrenzt zu werden. “Schamlose” Menschen sind Menschen, die besonders viel beschämt wurden und die irgendwann einmal beschlossen haben, sich nie wieder beschämen zu lassen. Wir wissen z.B. aus der Biografie von Adolf Hitler, dass er als Kind immer wieder erniedrigt wurde, vor allem von seinem zu Gewaltausbrüchen, aber auch zum Lächerlichmachen der Kinder neigenden Vater. 
Als unverschämt bezeichnen wir dagegen eher jemanden, der zwar über ein Schamgefühl verfügt, sich aber darüber in einer bestimmten Situation hinwegsetzt.


Toxische Scham


Die giftige und vergiftende Scham hat ein anderes Kaliber, denn sie richtet sich vor allem gegen sich selbst. Nicht das eigene Verhalten war daneben, sondern die eigene Person ist als ganze schlecht. Sie kann deshalb nicht durch eine entschuldigende Handlung ausgeglichen werden. Diese Form nagt am Selbstwert und an der Selbstachtung. Sie führt bis zur Selbstverleugnung: „Ich kann nicht so sein, wie ich bin, ich müsste ganz anders sein, um in Ordnung zu sein.“

Toxische Scham entsteht, wenn Eltern (oder später Lehrer und andere Autoritätspersonen) ihre Kinder bei einem Fehlverhalten massiv kritisieren und persönlich abwerten. Auslachen ist dabei eine der schwerwiegendsten Formen der emotionalen Misshandlung. Solche Reaktionen können in dem Kind die Überzeugung einpflanzen, dass es als Mensch nicht ernst zu nehmend, schlecht und fehlerhaft, vielleicht sogar fehl am Platz ist, statt dass es lernen kann, aus Fehlern lernen zu können. Es schämt sich dann also nicht für eine einzelne Tat, sondern dafür, dass es selber nicht in Ordnung ist. 

Solche Über- und Eingriffe können viel an der wichtigen und authentischen Selbstbeziehung zerstören, die einen gesunden Selbstwert aufbaut. Außerdem wird verhindert, dass das Kind aus einer Fehlhandlung lernt, denn es denkt über sich selbst, dass es immer wieder Fehlhandlungen machen wird, weil es eben von Grund auf so fehlerhaft beschaffen ist.

Vielmehr nutzen Eltern und andere Personen, die Macht über andere haben, das Beschämen der ihnen Untergeordneten dafür aus, sie zu Handlungen zu bringen, die diese eigentlich selber nicht wollen. Beschämen ist ein wichtiger Aspekt dessen, was als “Schwarze Pädagogik” zurecht angeprangert wird. Wir können davon ausgehen, dass diese Strategie nicht nur in der Erziehung, sondern auch in der Schule, in beruflichen Lehrverhältnissen, beim Militär und in anderen Über- und Unterordnungsverhältnissen eine wichtige und zerstörerische Rolle innehat.


Trauma und Scham


Traumatische Ereignisse sind Situationen, die für einen Menschen so belastend sind, dass sie nicht bewältigt werden können. Das Überleben kann dann nur durch extreme Reaktionen des Nervensystems gewährleistet werden: Schock, Erstarrung, Dissoziation. Nachdem das Ereignis überstanden wurde, kann es bei von Menschen verursachten Traumatisierungen zu einer Schamreaktion kommen. Die betroffene Person sieht sich als Opfer einer Verletzung oder eines Übergriffs und nimmt an, dass die anderen Menschen sie deshalb nicht mehr achten können. Durch das, was geschehen ist, hat sich das Opfer selber die Hände schmutzig gemacht und alle anderen misstrauen ihr deshalb. 

Die nachträgliche Schamreaktion auf die Traumatisierung geschieht nicht zwangsläufig, sondern hängt davon ab, welche Erfahrungen die Person vor der Traumatisierung hatte und auf welche Ressourcen sie zurückgreifen kann. Wenn es in der Vorgeschichte vor allem in den frühen Phasen wenig Wertschätzung und emotionale Sicherheit gab, wenn vielfältige Erfahrungen mit der Scham gemacht wurden, ohne dass sie verarbeitet werden konnten, ist die Schamreaktion nach der Traumatisierung sehr wahrscheinlich.

Auch hier zeigt sich die Paradoxie der Scham: Sie will die Traumafolgen lindern, indem sie nach Unterstützung verlangt, und schließt sich zugleich von der Außenwelt ab, in der diese Unterstützung gefunden werden könnte. Scham enthält einen Appell und zugleich eine Vermeidung. Dazu kommt, dass sie am stärksten in wichtigen Beziehungen auftritt und andererseits diese Beziehungen zusätzlich behindert und einschränkt.


Erziehung ohne Beschämung


Eltern, die dem Kind mit Liebe, Verständnis und Geduld vermitteln, was es richtig und falsch macht, helfen ihm besser, aus Fehlern klüger zu werden und damit eine stabile Selbstbeziehung aufzubauen. Dann nistet sich die Scham nicht in die eigene Seele ein, um sofort aktiv zu werden, wenn etwas nicht richtig gelaufen ist und Kritik von außen kommt. Andererseits wird die Schamreaktion als solche nicht unterdrückt, wie es der Fall sein kann, wenn ein Kind die Scham als Gefühl gesamt verdrängen muss, weil es an den Wurzeln der eigenen Existenz rütteln würde.

Wenn wir Kinder kritisieren, sollten wir uns bewusst sein, dass es nur um Handlungen oder Verhaltensweisen geht und nicht um sie als Person. Indem wir Verständnis dafür zeigen, dass Fehler geschehen können und dass sie ausgebessert werden können, zeigen wir ihnen, dass wir ihnen vertrauen und sie genauso lieben wie immer. 

Und wenn wir einander als Erwachsene kritisieren, sollten wir uns das Gleiche bewusst machen. Auf diese Weise leisten wir einen wichtigen Beitrag zu einer konfliktfreieren Gesellschaft und einem liebevolleren Zusammenleben. 

Zum Weiterlesen:
Das Vergleichen und der Selbstwert
Die Rückkehr aus der Scham

Samstag, 17. November 2018

Das Vergleichen und der Selbstwert

Unser Denken ist immer wieder mit dem Vergleichen beschäftigt: Steht mir dieser Pullover besser als der andere? Habe ich die tolleren Urlaubspläne als mein Nachbar? Was kann ich besser als mein Konkurrent? Der Vergleich macht sicher – ohne ihn herrscht Unsicherheit im eigenen Inneren: Wie stehe ich da vor den kritischen Augen der Außenwelt? Die Unsicherheit besteht also in Bezug auf den eigenen Selbstwert.

Es gibt zwei Typen von Vergleichern, die sich auch je nach Gelegenheit in einer Person finden können: die Gewinner und die Verlierer. Beide leiden unter dem gleichen Selbstwertproblem, gehen aber unterschiedlich damit um. Ein Gewinner sucht sich die Objekte für sein Vergleichen bei denen, die etwas weniger gut können als er selbst, sodass er beim Vergleichen immer als der bessere abschneidet: „Die können mir alle nicht das Wasser reichen.“ Ein Verlierer sieht vor allem Menschen um sich, die besser sind: „So gut wie diese Person werde ich nie.“


Vergleichen und Scham


Im Hintergrund der Gewohnheit des Vergleichens werkt die Scham. Wir fühlen uns nicht in Ordnung so, wie wir sind, wir stellen uns in Frage, indem wir uns mit anderen vergleichen. Mit dieser Aktion wollen wir das unangenehme Schamgefühl vermeiden. Indem wir jemand anderen, der es besser kann als wir, beneiden oder anhimmeln, verschiebt sich der Fokus von uns selbst auf die andere Person. Wir identifizieren uns mit ihr, und schon ist die Scham verschwunden. Gehen wir nach der anderen Strategie vor, beweisen wir uns mit dem Vergleichen, dass wir die besseren sind und sagen uns damit selber, dass es keinen Grund für die Scham gibt; vielmehr sollten sich die anderen schämen, weil sie schlechter sind. Wir überwinden unsere Scham nur mit Hilfe anderer, die uns zu dem Gefühl der Überlegenheit verhelfen.


Die Beliebigkeit der Maßstäbe 


Wenn wir vergleichen, suchen wir im Außen nach einem Maßstab, um einschätzen zu können, wer wir sind. Wir brauchen also eine äußere Bestätigung für die eigene Identität und deren Qualitäten. Diese Strategie kann allerdings nicht zum Ziel führen, weil wir den Vergleichsmaßstab immer willkürlich suchen und wählen, nämlich unseren inneren Selbstwertvoraussetzungen entsprechend. Fühlen wir uns sicherer auf der Verliererseite, wählen wir Vergleichsmaßstäbe, nach denen wir schlechter abschneiden; sind wir vertrauter mit der Gewinnerseite, so sehen wir lauter minderbegabtere, unattraktivere und unintelligentere Menschen um uns herum. 


Ersatz für die eigenen Werte


Wir tragen Vorbilder und Ideale in uns, wie ein optimaler Mensch sein sollte. Wir wissen zwar auf einer Ebene, dass es solche ideale Menschen nicht gibt, aber wir suchen in unserem Unbewussten nach ihnen, damit wir unsere Unsicherheiten uns selbst gegenüber abdecken können. Denn die Orientierung an einem Vorbild entbindet uns von der Aufgabe, die Maßstäbe für unser eigenes Leben und für die Werte, nach denen es sich ausrichten soll, in uns selbst zu finden und zu stärken. Vorbilder haben nur so weit einen Sinn, als wir sie als symbolische Orientierungspunkte nehmen für eine Richtung, in die wir uns entwickeln wollen und dabei nicht vergessen, dass wir unsere ganz eigene Form der Verwirklichung der Werte, die wir in einem Vorbild verkörpert sehen, finden müssen.

Wie bei vielen unserer selbstschädigenden Verhaltens- und Denkmuster liegt auch hier der Ursprung in der Kindheit. Kinder vergleichen sich, sobald sie auf der Welt sind, mit den Eltern, um zu lernen, wie das Leben zu bewältigen ist. Sie wollen so werden wie sie. Erst langsam klären sich die Unterschiede, vor allem, wenn wir immer wieder bestätigende Rückmeldungen von den Eltern bekommen, dass „uns unsere Entwicklung gehört“, d.h. dass wir uns in unserer Weise entfalten sollen und nicht zu Abziehbildern unserer Eltern oder deren Wunschvorstellungen werden sollen. Auf dieser Grundlage beginnt der Weg zur eigenen Autonomie, die beinhaltet, zur eigenen Individualität in allen Facetten zu stehen und sie als einzigartigen Beitrag zur Welt zu entwickeln und uns darin zu würdigen.

Nur so ist der Weg aus der narzisstischen Fixierung zu finden, die in jedem Vergleich Regie führt. Die bedingungslose Annahme der eigenen Individualität umfasst die Annahme der eigenen Stärken und Schwächen, Erfolge und Misserfolge, Begabungen und Problemzonen. Die Selbstakzeptanz ermöglicht auch die Annahme aller anderen in ihrer Individualität und Besonderheit; solange wir das nicht hinkriegen, fehlt ein Stück der Selbstannahme und wir werden uns dabei ertappen, uns mit dem Vergleichen mit anderen selber zu quälen.


Rollenfixierung


Das Vergleichen mit anderen ist notwendig für die soziale Einordnung in Gruppen, wo wir unsere Rolle finden müssen. Es ist aber immer hinderlich für die Selbstfindung. Je mehr wir uns mit einer Rolle identifizieren, desto anfälliger sind wir für das Vergleichen. Denn wir wollen besser sein als andere in der Rolle, wie ein Schauspieler, der den besten Hamlet spielen möchte. Im Leben geht es aber darum, die ganz eigene Rolle zu entwickeln, die niemand sonst in der ganzen Menschheit spielen kann, wie eine Melodie, die noch nie gesungen wurde und nur erklingen kann, wenn wir sie singen.

Vergleichen macht abhängig. Es lenkt ab von sich, spaltet ab von sich selbst; es ist entweder eine Selbstherabsetzung oder Hinaufsetzung, im einen Fall eine explizite Selbstkränkung, im anderen Fall eine explizite Kränkung anderer – und eine implizite Selbstkränkung, die in jedem Fall des Vergleichens geschieht.

Jeder Vergleich pickt einen Aspekt aus der Ganzheit heraus, die wir sind, und fördert damit die Fragmentierung des Selbst, die wir schon aus unserer Kindheit mitnehmen und der wir fortwährend unterliegen. Im Vergleichen trennen wir uns von uns selbst, ohne uns mehr mit anderen zu verbinden. 

Deshalb verlieren wir immer, wenn wir vergleichen, gleich ob wir uns besser oder schlechter sehen als die anderen. Wir verlieren uns selbst. Vielleicht mag sich ein Aspekt unseres Selbst, ein Anteil unserer Persönlichkeit besser fühlen, sicherer oder beruhigter. Aber die Gesamtheit unseres Seins, unsere innere Zusammenstimmung, unsere Einheit und Identität wird geschwächt. Den Zugang zu dem, was wir in unserer Totalität sind, verlieren wir noch mehr.


Das Leben der Anderen


Wenn ich durch den Vergleich feststelle, dass ich besser bin als andere, muss ich mich anstrengen, den Vorsprung zu halten. Wenn ich durch den Vergleich draufkommen, dass ich schlechter bin als andere, muss ich mich anstrengen, aufzuschließen. In beiden Fällen führt das Vergleichen zu Anstrengung und Stress, vor allem dann, wenn sich tiefere Ängste und Überlebensprogramme einmischen: Ich muss gut dastehen im Vergleich, sonst verliere ich meinen sozialen Rückhalt, sonst mag mich keiner mehr, sonst kann ich mich selber nicht mehr achten usw.

Statt uns unnötig anzustrengen, gilt es, herauszufinden, was unser Eigenes ist, das, was wir im Leben wollen, wohin wir uns entwickeln wollen, was wir beitragen möchten, was uns am Herzen liegt. Wenn wir das nicht schaffen, bleiben wir im Neid und in der Eifersucht stecken. Wir schielen nach dem, wie es die anderen machen und strengen uns an, es ihnen gleichzutun, können es aber nie schaffen, weil wir zu dem, was andere auf ihre Art schaffen, selber nicht geschaffen sind. So leben wir das „Leben der Anderen“ statt unser eigenes. Als Maßstab für unser Leben nehmen wir die Normen und Werte anderer, weil wir gar nicht auf die Idee kommen, die eigenen für uns selber auszuarbeiten. 


Mitfreude statt Vergleichen und Beneiden


Sobald es uns gelingt, uns mit den Schätzen unseres eigenen Lebens – den großen und den kleinen – anzufreunden, sobald wir das, was daran gut läuft und noch besser werden kann, mehr in den Vordergrund stellen, kommen wir zunehmend bei uns selber an. Zugleich schwindet der Neid, der hinter dem Vergleichen steckt, und weicht der Mitfreude. Sie gründet auf der Fähigkeit, uns an unserem eigenen Leben zu freuen.

In dem Maß, wie sich unsere Selbstakzeptanz verstärkt, die uns von Vergleichen unabhängig und autonom macht, verstärkt sich unsere innere Neigung zur Demut. Wir lassen jede Anmaßung sein, so wie andere sein zu wollen, und finden uns ganz in dem, was und wie wir selber sind, wachsend in unseren Stärken und barmherziger mit unseren Schwächen.

Samstag, 10. November 2018

Die Demut und das Ego

Wie jede innere Bewegung, die zur Befreiung führen kann, steht auch die Öffnung für die Demut in der Gefahr und Verlockung, von unserem Ego für seine Zwecke genutzt zu werden. Wann immer wir Schritte setzen, um uns seiner Macht zu entziehen, können wir mit Gegenmaßnahmen auf der unbewussten Ebene rechnen, in denen sich unaufgelöste Ängste auf subtilere Weise Geltung verschaffen und die innere Veränderung abschwächen oder sogar ins Gegenteil verkehren wollen.   

Beim Thema Demut begegnen wir dabei einem interessanten Erfahrungsfeld. Ich habe schon in einigen früheren Beiträgen auf die zentrale Bedeutung dieser Haltung für den inneren Weg hingewiesen. An der aktiven, frei gewählten Haltung der Demut bricht das Ego. Sobald wir erkannt haben, dass wir weder größer noch kleiner sind, als wir sind, sondern genau so groß, wie wir eben sind – in jeder Hinsicht –, und dass das auch gut so ist; sobald wir aufhören, uns mit anderen zu vergleichen, muss das Ego seine Ansprüche und Erwartungen aufgeben, die entweder von Größenfantasien oder Minderwertigkeitsgefühlen gefüttert sind. Unser Ego will uns immer anders haben als wir sind. Es nörgelt und kritisiert an uns herum, bewertet und vergleicht uns und ist nie zufrieden. Es zweifelt und macht uns Vorwürfe. Wenn es etwas von Demut hört, kriegt es Angst und bewirkt, dass jeder Schritt in diese Richtung unterlaufen wird. 

Auf diese Weise entstehen Demutsposen, die sich selbst widersprechen, oft ohne dass es den betreffenden Personen auffällt. Es sind Kompromisse zwischen einem mentalen Konzept, in dem klar geworden ist, dass Demut eine gute Sache ist, und den Bedürfnissen des Egos, das sich gegen seine Entmachtung sträubt.  

Die hochmütige Demut 


Manchmal begegnen wir einer großspurigen Demut, die jeden direkt oder indirekt wissen oder spüren lässt, wie wichtig und vorbildhaft sie ist. Jemand, der diese Einstellung pflegt, fühlt sich besser als die anderen, die noch weniger demütig sind, und schaut auf sie herab. Die echte Demut hingegen ist bescheiden, ohne sich zu beschneiden. Sie weiß, dass sie nur durch Handlungen und nicht durch zur Schau getragen Posen wirken kann. Denn sie hat nichts, was sie sich auf irgendeine Fahne heften könnte, nichts, was sie vor sich hertragen könnte mit der Aufforderung: „Sieh mal, was ich da Tolles habe, sieh mal, wer ich bin!“

Demut, die zur Schau getragen wird wie ein neues prächtiges Kleid, das alle bewundern sollen, kommt als hochmütige Überheblichkeit an und ist unglaubhaft, weil sie nur den Narzissmus füttert. Häufig verbindet sich diese Haltung mit dem Drang, andere manipulativ zu beeinflussen, damit sie die Selbstbestätigung liefern, die jemand braucht, der sich selbst in seiner Demutshaltung idealisiert.

Die unsichere Demut 


Das Gegenteil ist die selbstunsichere Demut. Sie will Verständnis und Mitgefühl dafür, dass sie gerne noch demütiger wäre, aber noch lange nicht so weit ist. Wenn wir diese Tendenz in uns entdecken, können wir uns darüber klar werden, dass sich die echte Demut nicht klein macht, sondern zu sich steht; nicht, weil es nach irgendeinem Maßstab so sein sollte, sondern weil es sich für einen selber genau so richtig und stimmig anfühlt. Demut ist erst dann verwirklicht, wenn sie einfach da ist, und nicht dann, wenn sie sich als Ergebnis eines Übungsprogramms oder einer Erbauungsbelehrung wie ein Ideal im Kopf eingenistet hat. 

Wir verwechseln also gerne einen schwachen Selbstwert mit Demut. Jemand gibt sich schüchtern und zurückhaltend, weil sie über sich denkt, dass sie nichts wert ist oder nichts zu bieten hat. Das hat nichts mit Demut zu tun, sondern mit einem blockierten Zugang zur eigenen Kraft. Die echte Demut erwächst aus der inneren Stärke, die es sich erlauben kann, sich selber nicht so wichtig zu nehmen.

Die geheuchelte Demut 


Die geheuchelte Demut macht sich und anderen eine Haltung vor, die gar nicht gelebt wird. Sie will ein Ziel erreichen, um z.B. nach einem Misserfolg wieder Sympathie zu bekommen. Da die Haltung der Demut bei anderen Menschen Vertrauen erweckt, weil sie sich nicht vor einem Angriff fürchten müssen, kann sie auch strategisch eingesetzt werden, um als fairer Verlierer gut anzukommen. 

Mit Heucheln wollen wir Eindruck schinden, bei den anderen und auch bei der kritischen Instanz im eigenen Inneren. Auch hier spielt ein Ideal, dem wir entsprechen sollen, aber eigentlich nicht wollen, die tonangebende Rolle. Die Aufgabe, das Ideal zur Realität werden zu lassen, wird gerade durch diese Rolle behindert. Denn das Ideal täuscht und kann mit scheinbaren Gewinnerfahrungen mit der Täuschung zur Gewohnheit werden. 

Authentische Demut beginnt erst dort, wo kein Beweis und keine Bestätigung von außen notwendig ist. In dieser Haltung folgen wir keinem Ideal, sondern dem, was sich für uns selber als stimmig anfühlt. Was aus dieser Haltung heraus geschieht, hat kein Ziel und keinen Zweck und ist nicht von den Reaktionen der anderen Menschen abhängig.Thérèse von Lisieux schrieb: „Wir müssen unsere Unvollkommenheit annehmen und lieben und nicht länger daran arbeiten, Heilige zu werden, sondern nur uns mühen, Gott Freude zu machen."

Die verlegene Demut 


Sie verwechselt Demut mit übertriebener, weil selbstverleugnender Bescheidenheit. Sie tut sich schwer, Lob und Anerkennung anzunehmen. Ihr Ideal erlaubt nicht, herauszuragen und andere zu übertreffen. Wenn sich jemand für eine gute Tat bedankt, wirkt eine Person mit dieser Einstellung verlegen und abwehrend: "Was ich getan habe,  ist ja nicht der Rede wert”. Es handelt sich also um eine Spielart der unsicheren Demut, die es peinlich findet, im Rampenlicht zu stehen, und sei es auch nur in kleiner Runde, wenn jemand lobend erwähnt, was gemacht wurde.  

Zwar ist die echte Demut nicht auf Lob und Anerkennung angewiesen, aber sie kann sich freuen, wenn andere Menschen die eigene Leistung erkennen und bestätigen. Es ehrt Menschen und ist Ausdruck ihrer Demut, wenn sie andere Menschen für ihr Tun bestätigen und loben. Sich zu bedanken für etwas, was man empfangen hat, zeigt von Herzlichkeit und Großmut und erfordert das offene und dankbare Annehmen von der Person, die bedankt wird. Jeder Akt, der aus Demut geschieht, verdient Dank, und jeder Dank, der gegeben wird, verdient seine Annahme und Anerkennung. 

Die belehrende Demut 


Die zumutende Demut will bei anderen die eigene Einsicht einfordern: Nimm dein Schicksal demütig an, dann bist du so glücklich wie ich. Deine Leiden stammen aus deiner Unwilligkeit zur Demut. Also bemühe dich mehr, deinen Hochmut zurückzudrängen. 

Belehrung kommt immer aus einer überlegenen Position. Wer sich in der Haltung der Demut befindet, gibt gerne sein Wissen und seine Erfahrungen weiter, will aber niemanden zum eigenen Weg überzeugen, weil klar ist, dass jeder Weg zur Befreiung individuell ist. Gelehrte Demut baut ein Ideal im Kopf der Belehrten auf und muss von diesen in ihrer Art erst in die Praxis umgesetzt werden. Beim Belehren müssen wir immer mit Widerständen rechnen, so gut auch die Absicht ist.  

Wir alle brauchen Impulse von außen, wenn wir im Inneren weiter wachsen wollen. Am besten lernen wir durch die Vorbildwirkung, die im Fall der Demut dann besonders gut ankommt, wenn sie uns ganz still und unprätentiös begegnet, ohne jede Absicht, uns zu verändern. 

Reue und Demut 


Wenn wir etwas, was wir getan haben, bereuen, weil es jemand anderem geschadet hat oder Verletzungen bewirkt hat, dann kommen wir in die Haltung der Demut. Wir erkennen und anerkennen die Grenzen unseres Gutseins und die Diskrepanz zwischen Absichten und Ergebnissen. Wir gestehen uns ein, dass unser Unbewusstes seine weiterwirkende Macht hat und uns zu Handlungen führt, von denen wir nachher einsehen, dass sie falsch und schädlich waren. Wir erkennen, dass wir unvollkommen und fehleranfällig sind und unsere Schwächen haben, und dass wir aus dieser Mangelhaftigkeit heraus anderen Schaden zufügen können.  

Die Demut nach der Reue steht in einem sozialen Funktionszusammenhang. Sie ist nicht von Dauer, denn sie verschwindet, wenn die betroffene Person eine Entschuldigung annimmt. Aber wir können über die Reue mehr über das Wesen der Demut erfahren und verstehen.  Wir erkennen, dass wir mit dem demütigen Eingestehen unserer Schwachstellen und Persönlichkeitsmängel mit anderen wieder in Gleichklang kommen können und damit Konflikte lösen können.  

Die authentische Demut 


Die wirkliche Demut, die auch die ist, die als einzige Gutes in der Welt schafft, ist selbstbewusst und kräftig, klar und kompetent. Sie steht ganz in der Welt und ist voll aktiv in ihr. Sie ist nur von den eigenen Ambitionen losgelöst. Die authentisch demütige Person braucht sich ihre guten Taten nicht mehr selber zuzuschreiben und sich damit brüsten. Vielmehr kann sie sich als „Handlanger“ einer höheren Macht verstehen und dafür dankbar sein. Sie ist nicht von Anerkennung und Bestätigung abhängig.  

Authentische Demut entsteht, wenn jemand ein gerades Verhältnis zur eigenen Wertigkeit hat und weder einem narzisstischen Hochmut unterliegt noch an sich selbst zweifelt oder verzweifelt. Eine ausgereifte Selbstakzeptanz ist der Schlüssel für eine echte Haltung der Demut, die sich daraus wie von selbst ergibt. Denn man muss niemandem irgendetwas noch beweisen, sondern kann seine Handlungen an der Übereinstimmung mit den eigenen Werten ausrichten. 

Die aktive und authentische Demut ist nicht an vorhergehende Fehler oder an emotionale Schwächen geknüpft. Sie sucht nicht einen Ausweg aus einer verfahrenen Situation, sondern weiß um die grundlegende Unvollkommenheit des Menschseins. Wie schon Immanuel kant gemeint hat: „Aus so krummem Holze, als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts ganz Gerades gezimmert werden.” 

Oft ist diese Demut mit Humor und Selbstironie verbunden, mit einer barmherzigen Einstellung sich selbst und den anderen gegenüber. Ein demütiger Mensch kann über die eigenen Schwächen schmunzeln oder lachen und tut sich deshalb auch leicht mit den Schwächen der Mitmenschen. Fehler und Unachtsamkeiten passieren unter Menschen, Mängel sind unser Wesenszug. Da können wir schon mal über die Unzulänglichkeiten von uns und unseren Mitmenschen lächeln, anstatt uns zu ärgern und uns selber oder andere zu kritisieren und abzuwerten. Wie sagt die Volksweisheit: „Auf Erden lebt kein Menschenkind, an dem man keinen Mangel find’t.”

Zum Weiterlesen:
Passive und aktive Demut
Demut als spirituelle Haltung
Demut und Mitmenschlichkeit
Reich und arm, Demut und Würde
Die Gleichberechtigung des Seins