Samstag, 23. Dezember 2023

Die pubertären Wurzeln der Ideologien

Die Zwischenzeit der Adoleszenz besteht darin, eine Antithese zur Kindheit zu bilden. Adoleszente wollen keine Kinder mehr sein und lehnen deshalb alles Kindliche ab. Sie orientieren sich an Werten, die sie absolut setzen. Sie fordern die Erwachsenen und ihre Ansichten heraus. Sie treten mit neuen Ideen und neuen Programmen auf, die die Gesellschaft verändern und vorantreiben sollen. Sie kritisieren die Widersprüche der von den Erwachsenen eingerichteten Welt und fordern die Widerspruchsfreiheit ein. Sie vertreten ihre Ideale bedingungslos, und sie können das auch, weil sie noch keine Handlungen setzen können und noch keine Verantwortung tragen müssen. Oft werden sie deshalb von den Erwachsenen als Träumer oder als weltfremde Idealisten belächelt. Die Jugendlichen wiederum sehen in den Erwachsenen in ihren Haltungen festgefahren und stur im Festhalten an alten Strukturen und an ihrer Macht. Sie betrachten das Bestehende als Hemmschuh für ihr Fortkommen und bekämpfen es, um Freiräume für eine Neugestaltung zu gewinnen. Die Adoleszenten treten mit vielen Forderungen auf, die sie leicht stellen können, weil sie nicht die Verantwortung für deren Verwirklichung tragen können.

Offenbar dient es dem gesellschaftlichen Fortschritt, dass jede junge Generation mit einem Elan zur Erneuerung und zur Überwindung von alten Verkrustungen antritt. Sie zeigt die Widersprüche zwischen Moral und Praxis, zwischen Idealen und Realität auf und fordert oft radikal eine Kehrwende ein, zurück zu mehr Gerechtigkeit und Offenheit. Denn die Jugend braucht eine offene Welt, in der es viele Chancen gibt, nicht nur für wenige Privilegierte, sondern für alle. Sie wissen noch zu wenig über sich selbst und sind unsicher, ob sie ihren Platz in der Welt finden können. Deshalb neigen sie zu radikaleren Vorstellungen über die notwendigen Veränderungen als viele Erwachsene, die sich eine pragmatischere Sicht auf die Wirklichkeit erworben haben. 

Widersprüchliche Realität

Die Realität ist geprägt von Gegensätzen und Widersprüchen, und das Erwachsenenleben gelingt in dem Maß, in dem diese Widersprüchlichkeit sein darf, ausgehalten wird und den Rahmen für das Handeln bildet. Viele Vorkommnisse sind weder gut noch böse, oder beides, keinesfalls aber eindeutig zuordenbar. Wir täten uns leichter mit der Wirklichkeit, wenn es immer die Täter (die Bösen) auf der einen und die Opfer (die Guten) auf der anderen Seite gäbe. Aber Vereinfachungen haben immer ihren Preis, während die Fähigkeit, Mehrdeutigkeiten bestehen lassen zu können, die Handlungsfähigkeit erweitert. Wir können besser auf die Wirklichkeit und ihre Erfordernisse eingehen, wenn wir sie in ihrer Ambiguität tolerieren. Je mehr Sichtweisen wir entwickeln, desto mehr Optionen haben wir. 

Ideologien sind pubertäre Erlösungsfantasien 

Jede Ideologie stellt einen Versuch dar, Widersprüche auf Kosten der Realität zu harmonisieren. Das scheinbar eindeutige Benennen von einfachen Ursachen für Missstände begeistert viele Anhänger und Parteigänger. Vereinfachungen vermitteln Illusionen der Handlungsfähigkeit, weil sie vorgaukeln, dass mit der Beseitigung des so-genannten Bösen die Probleme gelöst werden und sang- und klanglos verschwinden. Die gesellschaftlichen Probleme sind allerdings immer komplex und können nicht durch ein einfaches Dreinhauen gelöst werden. Meist verstärken einfache Lösungsansätze die Probleme zusätzlich. Ein Beispiel bilden die ökonomischen Maßnahmen, die von vielen rechtspopulistischen Regierungen durchgeführt werden. Sie geben aus dem gesellschaftlichen Füllhorn gern Geschenke für ihre Klientel, die den Staatshaushalt belasten; und den kleinen Leuten wird dann auf andere Weise wieder das Geld aus der Tasche gezogen. Oft reduzieren diese Politiker die Steuern für die Reichen, was den Schlechterverdienern mehr Lasten aufbürdet, aber Geld von den Reicheren in die Parteikassen der Rechtsparteien spült, die damit ihre Propagandamaschinen betreiben können. 

Wir können erkennen, dass die Neigung zu Ideologien pubertäre Wurzeln hat. Jugendliche neigen zu radikalen Sichtweisen und einfachen Lösungswegen, wie sie von Ideologien angeboten werden. Z.B. wird gefordert, riesige Zäune zu bauen, um das Flüchtlingsproblem für das eigene Land zu lösen. Das Problem wird damit in andere Länder exportiert und im eigenen Land kann man sich selbstzufrieden abputzen. Das Problem wurde also nur von den eigenen Leuten und Anhängern weggeschoben, aber nicht gelöst. Echte Lösungsschritte müssen in den Herkunftsländern ansetzen, damit die Bedingungen dort so verbessert werden, dass niemand mehr flüchten will. Aber das sind langwierige und komplexe Bemühungen, die zwar nachhaltig wirken, aber in den Zielländern der Fluchtbewegungen nicht populär sind, weil sie keine unmittelbare Entlastung von den Ängsten bewirken, die durch die Migrationen ausgelöst werden. 

Ideologen und Ideologieanhänger sind in ihrer Weltsicht nicht erwachsen geworden. Sie befinden sich in einer Fundamentalopposition zur Realität, die die objektive Entsprechung der Erwachsenenwelt darstellt. Sie wollen eine Gegenwelt, nicht die Weiterentwicklung der bestehenden. Sie erhoffen sich schnelle Lösungen und übersehen die Vielschichtigkeit der Wirklichkeit, indem sie die Komplexitäten auf Einfachheit reduzieren und damit alle Details und Zusammenhänge, die dem eigenen Weltbild widersprechen, ausblenden. Deshalb bringen sie im besten Fall Scheinlösungen oder nur kurzfristig wirksame Verbesserungen zustande. Der Verantwortungshorizont reicht nicht aus, um nachhaltige oder langfristig haltbare Maßnahmen zu verwirklichen.

Verantwortungsbewusstes politisches Handeln trägt der Komplexität Rechnung und versucht, verschiedene Interessenslagen zu bedienen. Im 21. Jahrhundert bedeutet das immer auch, dass die Perspektive des gesellschaftlichen Handelns immer auch die Bedürfnisse der Natur und der künftigen Generation mit einschließt – Bereichen, denen sonst nachhaltiger Schaden zugefügt wird. Viele rechtsextreme Politiker vermeiden diese wichtige Sicht, indem sie den Klimawandel leugnen und damit Raubbau an den Ressourcen des Planeten fördern, die auch die Lebensmöglichkeiten künftiger Generationen einschränken. 

Reifes Erwachsensein

Das reife Erwachsensein besteht nicht in der Negation der Adoleszenz, sondern in einer Integration von Kindheit, Jugend und Erwachsenem. Im Sinn von Georg Wilhelm Friedrich Hegel geht es beim Fortschritt immer um eine Synthese aus These und Antithese, aber nicht um eine reine Negation der Negation. Die Pubertierenden neigen zwar zur Negation von Kindheit und Erwachsenenwelt, aber die Weiterentwicklung führt zur Synthese, zur Verbindung der Kräfte und Energien.

Erwachsene dürfen immer wieder mal kindlich und pubertär sein. Es sind Aspekte der Lebendigkeit, die unterschiedliche kreative Impulse enthalten, die in jedem Erwachsenenleben mitwirken sollten. Das Erwachsensein, das sich nur als Abkehr und Überwindung von Kindheit und Jugendzeit versteht, neigt zur emotionalen Trockenheit und schöpferischen Farblosigkeit. Die Hauptausrichtung der Erwachsenen ist der produktive Umgang mit der Realität und ihren Herausforderungen mit den Mitteln der Rationalität und Pragmatik. „Reine“ Erwachsene sind nur Verwalter der Realität und keine Gestalter. Die Impulse zur Gestaltung kommen aus der Kreativität des Kindes und des Jugendlichen. Sie erfordern die Fähigkeit, die Welt immer wieder ganz anders sehen zu können, als sie ist.  

Die frühkindlichen Wurzeln der Ideologien
Verschwörungstheorien und Normalitätsscham

Donnerstag, 21. Dezember 2023

Über das Leben mit Ungewissheiten

Eine Klientin hat endlich einen Abnehmer für ihr Geschäft, das sie schon lange verkaufen will, weil es ihr viel Anstrengung abverlangt und sie neue Perspektiven für ihr Leben sucht. Der neue Übernehmer ist sehr interessiert, aber die legalen Prozesse brauchen noch Zeit, und erst dann ist der Verkauf sicher. Da immer wieder Interessenten aufgetaucht sind, die dann nach einiger Zeit der Überlegung abgesprungen sind, bleibt sie auch jetzt in einer dauernden Anspannung, solange der Vertrag nicht unterschrieben ist.

Eine andere Klientin sucht schon länger einen Nachmieter für sich und denkt, dass sie niemanden finden wird. Das Problem beschäftigt sie und lässt ihr keine Ruhe. Auch wenn es nicht wirklich dringend ist, braucht sie doch das Geld und fürchtet, dass es viel zu lange dauern wird, bis jemand, der auch passen muss, auftaucht.

Ungewissheit ist ein Zustand, den Menschen schlecht aushalten können. Sie wollen die Zukunft unter Kontrolle haben, um sich in der Gegenwart sicher zu fühlen. Diesem Bedürfnis nach Kontrolle steht die Einsicht gegenüber, dass wir prinzipiell nichts über die Zukunft wissen können. Wir verfügen einzig über Wahrscheinlichkeiten, die uns erlauben, die Zukunft zu planen. Der sprichwörtliche Ziegel fällt vom Dach, während wir gerade vorbeikommen, und alle unsere Planungen sind über den Haufen geworfen. Mit vielem können wir rechnen, eben mit dem, was sich im Wahrscheinlichkeitsspektrum aufhält, aber jenseits dieser Bereiche gibt es immer Räume für Ungewissheiten und Überraschungen. Ungewisses führt zu Unsicherheit, und Unsicherheit löst Angst aus. Diese Angst entsteht schon, wenn unsere Fantasie in die Zukunft schweift und dort eine verschwommene Leerstelle vorfindet. Sobald die Aufmerksamkeit in die Gegenwart zurückkehrt, schwindet diese Angst. 

Aber unsere Gewohnheiten halten oft die Aufmerksamkeit gerade auf dem, was Angst macht, denn da könnte ja eine Gefahr drohen, auf die wir uns einstellen müssen. Lieber mit dem Schlimmsten rechnen, ist die Devise vieler Leute, mit dem Vorteil, dass es meistens doch nicht so arg kommt und damit eine positive Überraschung geschieht, aber mit dem Nachteil, dass die Zukunft mit Sorgen und Ängsten überladen wird und damit die Gegenwart andauernd überschattet und belastet ist. 

Die Schwierigkeiten, mit Ungewissheiten umgehen zu können, stammen oft aus einem mangelhaften Vertrauen ins Leben. Im Moment scheint alles ja ganz gut zu sein, aber es könnte sich schnell verschlechtern. Um die nächste Ecke schon könnte eine Unannehmlichkeit lauern. Also gehe ich lieber vorsichtig um die Ecke, eingestellt auf jedwede unliebsame Überraschung. 

Die Wurzel dafür liegt oft darin, dass die eigenen Eltern eine Unsicherheit in sich getragen haben, die sie auf das Kind übertragen haben. Sie konnten dem neuen Leben nicht vertrauen, das ihnen geschenkt wurde. Ein Kind, das mit dieser Unsicherheit empfangen wird, ist ebenfalls in seinem Lebensvertrauen erschüttert und trägt diese Ängstlichkeit weiter mit sich herum. Sie passt sich an die jeweiligen Umstände an, aber befürchtet leicht, dass leicht etwas Unerwartetes passieren könnte. Es reagiert klammernd und ängstlich, wenn die Mutter weggehen will oder gerät in Panik, wenn sie nicht gleich wieder kommt. Es ist im Kindergarten und in der Schule eher schüchtern und zurückhaltend. Auch im späteren Leben werden oft Gefahren gesehen, wo gar keine sind.

Die Ungewissheiten des Lebens annehmen zu können, weil sie zum Leben gehören, ist eine wichtige Lernaufgabe für jeden Menschen. Sie beinhaltet das Aushalten von Ängsten, verbunden mit der Herausforderung, die eigenen angsterfüllten Fantasien mit der Realität abzugleichen und die Handlungsspielräume auszuloten, die in jeder Situation liegen. Es ist ein kindlicher Anteil, der Ungewissheiten mit Angst verbindet, während der erwachsene Persönlichkeitsteil für die Realitätsprüfung zuständig ist. Kindliche Anteile melden sich oft mit starker emotionaler Ladung, um die ganze Aufmerksamkeit zu bekommen. Erwachsen werden heißt, sich der Macht der Gefühle nicht zu unterwerfen, sondern, ohne sie zu unterdrücken und zu übergehen, den Bezug zur Wirklichkeit aufrechtzuerhalten und aus ihm die innere Sicherheit zu gewinnen.

Das Leben ist ein beständiger Änderungsprozess. Über die Verläufe in der Zukunft können wir nur Vermutungen anstellen. Wir rechnen mit gewissen Wahrscheinlichkeiten, haben aber keine Gewissheit über ihr Eintreten. Wenn wir die Gelassenheit des Erwachsenseins mehr und mehr zulassen können, werden die Ungewissheiten zu Überraschungen und zu Aspekten des Abenteuers, das jedes Leben von Anfang bis Ende ist.

Zum Weiterlesen:
Von der Ungewissheit zur Mystik
Ungewissheit als Chance


Samstag, 16. Dezember 2023

Die individuelle Mobilität und die Klimakrise

Der Motive zum Reisen gibt es viele, und es zählt zu den grundlegenden Sehnsüchten der Menschen, sich von zuhause wegzubewegen und fremde Orte kennenzulernen. Die Reiselust ist eng mit der Abenteuerlust verbunden. Das Reisen führt zur Konfrontation mit anderen Welten, Kulturen und Lebensformen. Es bietet ein Entkommen aus den gewohnten Umständen. Es führt zum Sammeln von Erfahrungen, die mit anderen geteilt werden können. Interessantes aus der Ferne berichten zu können, macht zu einem beliebten Gesellschaftsmenschen. Dazu kommen die Stressmuster aus dem Arbeitsleben, die es schwer machen, die Erholung zuhause zu finden. Die Anforderungen werden nach der Logik des Kapitalismus immer schärfer angezogen, und umso dringender zeigt sich der Wunsch nach einem Kontrastprogramm, das möglichst weit weg gefunden werden soll. 

Die moderne Zeit hat einen enormen Zugewinn an Mobilität erlaubt. Der Erfahrungs- und Lebenshorizont der Menschen in vormodernen Gesellschaften war auf ca. 30 Kilometer im Umkreis beschränkt (die Wegstrecke, die man in einem Tag zu Fuß hin- und retour bewältigen kann). Wer über ein Reitpferd verfügte, kam schon weiter, aber das war das Privileg einer winzigen Minderheit. Und auch diese Reiseform hatte ihre Grenzen. Die grenzenlose Freiheit des Reisens ist also eine Errungenschaft der neuesten Zeit und hat in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg die Massen in den reichsten Ländern erreicht. Im Maß des Wachstums des Wohlstandes in immer mehr Ländern entwickelt sich auch die Reiselust und Reisegier. So leicht und beschwerdefrei wie in unserer Zeit war das Reisen noch nie, die Abenteuer werden immer billiger und uniformer; die Urlaubsdomizilien ähneln sich immer mehr. Mit fortschreitender Vergünstigung des Reisens schwindet der Charakter des Abenteuers kontinuierlich. Die Suche nach der „einzigartigen Erfahrung“ in der Fremde wird deshalb immer aufwändiger.

Reisen und Energie

Die modernen Formen des Reisens beginnen mit den Dampfzügen, betrieben mit Steinkohle aus den Tiefen der Erde. Dann kamen die Autos, und das Erdöl wurde zum flüssigen Gold überall dort, wo es gefördert werden konnte. Später dann wurde mit den Flugreisen die bis dahin ressourcenintensivste Form des individuellen Reisens eingeführt. Heute können sich die Superprivilegierten eine Mondreise leisten, mit der man neue Rekorde im Ressourcenverbrauch und in der klimaschädlichen Gasfreisetzung aufstellen kann. Modernes Reisen ist also ressourcenintensiv und benötigt bislang vor allem fossile Brennstoffe. Reisen zu Pferd oder Segelschiff sind heutzutage nicht mehr als Hobbies von denen, die es sich leisten können. 

Es gab die naiven goldenen Jahren des Schwelgens im grenzenlosen Wachstum, als die Warnungen vor der Begrenztheit der Rohstoffe noch als Spinnereien abgetan werden konnten und der Klimawandel nur einigen Wissenschaftlern aufgefallen war. In diesen Zeiten war das Reisen nur eine Frage des Geldes und nicht auch des Gewissens. Heute wissen wir viel mehr und tun uns immer schwerer damit, dieses Wissen wegzudrücken und so zu tun, als könnten wir weiter unbeschwert tun und lassen, was wir wollen. Wir reden uns gerne ein, dass alles nicht so schlimm ist und dass wir deshalb an unseren Lieblingsgewohnheiten festhalten können. Wir gebärden uns so, als wäre es unser Recht und nicht unser Privileg, in der Art zu reisen, wie wir gerade wollen, solange wir es uns leisten können.

Wir wissen, dass die Ressourcen dieser Erde endlich sind und dass die Verbrennung der fossilen Bodenschätze die Hauptursache für den Klimawandel mit seinen unabsehbaren Folgen ist. Wir wissen, dass wir uns daran beteiligen, wenn wir ressourcenaufwändig reisen. Aber im Zweifelsfall vergessen wir auf unsere moralische Verantwortung und rechtfertigen unsere Reisetätigkeit mit fadenscheinigen Argumenten vor uns selbst und vor anderen. Es gibt keine äußeren Ankläger, die die Verantwortung, die wir der Umwelt und den künftigen Generationen gegenüber haben, einfordern würden. Denn weder die Natur noch zukünftige Erdenbürger gelten als Rechtssubjekte. Unser Rechtsverständnis und unsere Rechtsprechung haben sich noch nicht auf die Gegebenheiten eingestellt, mit denen wir schon seit geraumer Zeit konfrontiert sind. Damit kommen wir ungestraft davon, auch wenn wir anderen Schaden zufügen.

Die moralische Spannung beim Reisen

Es ist deshalb nur ein Anspruch, den wir an uns selber stellen können und müssen, weil wir ja über das Wissen zu den Folgen unseres Handelns verfügen. Jede Reise mit belastender Ökobilanz erzeugt eine moralische Spannung, ob wir das wollen oder nicht, mit der wir umgehen müssen. Die verbreitetste, weil scheinbar einfachste Form, mit der Spannung zurechtzukommen, besteht darin, sie abzuschwächen oder ganz zu leugnen. Aber auch die Bagatellisierung und Verdrängung der Spannung ist belastend erfordert Energie, die oft als Aggression auf jene abgelassen wird, die an die Auswirkungen der Klimakrise erinnern. Es werden diejenigen geprügelt, die einen an das schlechte Gewissen erinnern. Sie sollen zum Schweigen gebracht werden, in der Hoffnung, dass sich dadurch auch das eigene Gewissen beruhigt. Die Überbringer von schlechten Nachrichten hatten nie ein leichtes Los, aber die drastischen Veränderungen des Klimas kümmern sich nicht darum, ob die Menschen Verantwortung übernehmen oder nicht. 

Es gibt trotz der überwältigenden wissenschaftlichen Evidenz leider noch immer viele Leugner des menschengemachten Klimawandels, die zum Teil von Firmen finanziert werden, die an der bisherigen Ressourcenverschwendung profitieren und jede Änderung unterminieren wollen, um ihre Gewinne weiterhin zu sichern. Sie halten sich ein Publikum bei denen, die zwar nichts mit der fossilen Industrie zu tun haben und auch nicht an deren Gewinnen mitnaschen, die aber deren Argumente aufgreifen und verbreiten, um mit ihnen die eigene Gewissensspannung zu beruhigen und über jene richten zu können, die immer wieder an die sich anbahnende Katastrophe erinnern. 

Reisen in der Zukunft

Es ist historisch gesehen ein kleines Zeitfenster, in dem das Reisen zum Massenphänomen wurde und unbeschwert genossen werden konnte. Im Lauf der letzten Jahrzehnte wurde klar, dass wir die Verantwortung für diese Erde gemeinsam schultern und als Folge Einschränkungen im Lebensstil und in den Konsumfreiheiten in Kauf nehmen müssen. Sie betreffen auch das Reisen, das seine Selbstverständlichkeit verliert und als komplexes Problem gesehen werden muss.

Das Reisen wird auch in Zukunft nicht verschwinden, aber es wird seinen reinen Konsumcharakter verlieren müssen und wieder auf die ursprünglichen Bedürfnisse und Motive zurückgreifen, die allesamt auch ohne den Verbrauch von fossilen Brennstoffen erfüllt werden können. Das Erleben des Neuen und das Heraussteigen aus dem Alltag geschieht durch das Wegbewegen von den Gewohnheiten, und dafür, dass es gelingt, ist nicht die Anzahl der Kilometer maßgeblich, die bei Reisen zurückgelegt werden, noch die Geschwindigkeit, mit der die Distanzen überwunden werden.

Zum Weiterlesen:
Die Jagd nach Erfahrung


Sonntag, 3. Dezember 2023

Das Ego in der Meditation

Das Ego mischt sich in alle Themen und Aktivitäten unseres Lebens ein, so natürlich auch ins Meditieren. Es äußert sich schon von Beginn an: Was soll das bringen? Wie mühsam ist es doch, nur dazusitzen und nichts zu tun, so viele Ideen hätte ich, aber jetzt soll ich nur still sitzen bleiben ...  

Aber auch, wenn die ersten Hürden überwunden sind und der Entschluss zum Meditieren zu einer Routine geführt hat, melden sich Widerstände, die unser Ego produziert: Ich komme nicht weiter, es ist nur langweilig, ich bin ja sowieso immer nur in Gedanken etc. Manche resignieren wegen dieser hartnäckigen Widerstände und hören irgendwann mit dem Meditieren auf. Oder sie schaffen es nur, dranzubleiben, wenn sie in einer Gruppe sind. Das Aussteigen aus der Meditationspraxis tut dem Ego einen Gefallen, das sich zufrieden zurücklehnen kann und nicht mehr fürchten muss, die Macht im Inneren zu verlieren. So kann alles beim Alten bleiben, die Muster ändern sich nicht und die Gewohnheiten bestimmen weiterhin das Leben mit seinen vielfältigen Ablenkungen. 

Das Ego und der spirituelle Fortschritt

Das Ego meldet sich aber auch dann, wenn eine Meditation eine herausragend positive Erfahrung war. Hurtig brüstet es sich mit dem Fortschritt einer „gelungenen” Meditation, wenn sie z.B. zu tiefer Entspannung geführt, spezielle innere Räume geöffnet und egofreie Zustände ermöglicht hat. Kaum öffnen wir die Augen, drängt sich das Ego in den Vordergrund und reklamiert den „Erfolg“ für sich: Wie weit bin ich doch schon auf meinem inneren Weg fortgeschritten, das Ziel kann nicht mehr weit sein. Vielleicht präsentiert das Ego auch Vergleiche wie: Früher habe ich noch mit so vielen Widerständen kämpfen müssen, gestern konnte ich mich gar nicht konzentrieren, aber heute habe ich einen tollen Schritt vorwärts geschafft. 

Selbstzufrieden schauen wir auf die Errungenschaft zurück, stolz erzählen wir Freunden davon, um ihre Bewunderung zu ernten. Heimlich reibt sich das Ego seine Hände und freut sich, dass ihm die Meditation nichts anhaben konnte. Denn es sonnt sich in dem Stolz. Plötzlich steht es voll hinter der Meditation, die es als seine Leistung präsentieren kann. Dieses Momentum, wo der Drang nach innerem Vertiefen und das stolzgeprägte Ego zusammenwirken, kann die Meditiererin für sich nutzen und die Konsequenz im Weitermachen stärken. 

Dem Ego geht es zwar nicht um die innere Entwicklung, die tendenziell von seiner Macht wegführt, sondern darum, im sozialen Feld für einen stabilen Stand zu sorgen, an dem die Anerkennung sichergestellt ist. Da es aber erkennt, dass es in seiner Aufgabe, für Sicherheit zu sorgen, durch die Meditation unterstützt wird, verringert es seinen Widerstand dagegen.  

Im Überschwang der „ Fürsorglichkeit” hebt es uns gerne auf ein Podest: Ach, die anderen unbewussten Menschen, die auf den Straßen im Halbschlaf herumlaufen, während ich Bewusstseinsräume kenne und in Sphären unterwegs bin, die sie nicht einmal in den kühnsten Träumen kennenlernen konnten. Sie sind voll in ihren dunklen Prägungen verhaftet und kennen die Freiheit und Glückseligkeit nicht, all die erlesenen Qualitäten, von denen ich schon gekostet habe. 

Wenn allerdings die Meditation nicht „gelungen“ erscheint, wenn zu viele Gedanken oder unangenehme Gefühle den Ablauf bestimmt haben, ist das Ego erst recht in seinem Element. Es sorgt sofort für Kritik und Selbstvorwürfe.  Es vergleicht mit früheren besseren Erfahrungen oder mit anderen Zeitgenossen, die auf diesem Weg viel schneller viel weiter gekommen sind. Statt den Stolz zu füttern, führt es hier zur Scham. 

Stolz und Scham, die Polarität des Egos

Das Ego sucht also in jeder Erfahrung, also auch in jeder meditativen Erfahrung, Anlässe für Stolz, wenn es die Erfahrung positiv bewertet, oder für Scham, wenn es sie negativ eingestuft. Das Ego richtet beständig jede Erfahrung nach seinen gewohnten Maßstäben. Damit verführt es in seine Gefilde, weg von der lebendigen Erfahrung, die in ein lebloses Objekt der Bewertung und Einordnung verwandelt wird. Es überlagert die aktuelle Wirklichkeitswahrnehmung mit seinen konstruierten und rekonstruierten Inhalten aus der Vergangenheit.  

Das Lebenselixier des Egos ist die Angst. Es ist aus Ängsten entstanden und hütet sie im Wunsch, vor ihnen zu bewahren. Es versucht, alle Erfahrungen, die wir machen, mit Angst zu verbinden und aufzuladen. Selbst wenn es sagt: Du brauchst keine Angst zu haben, weil du z.B. so gut meditierst, zeigt es sich als Agent der Ängste: Ich sage dir, wann du Angst haben sollst und wann nicht. Ich mache dich stolz und selbstsicher, aber ich kann dir deine Sicherheit jederzeit wegnehmen. Du verdankst deine Angstfreiheit meiner Umsicht und Wachsamkeit. 

Im Sinn des angstgetriebenen Vermeidens von Ängsten verkauft das Ego jeden Erfolg als eigene Leistung und jeden Misserfolg als persönliches Versagen. Erfolg heißt, dass eine Schonfrist vor der nächsten Angst gewonnen wurde. Misserfolg heißt, dass die Angst vorherrscht. Das demütige Annehmen dessen, was das Leben schenkt, ob es nun angenehm ist oder nicht, ist sein größter Feind oder das, was es am wenigsten verstehen kann. 

Das Erlernen der Distanz von Ego und Wirklichkeit

Meditieren bedeutet, dem Ego und seinen Spielchen zu begegnen und mehr und mehr Erfahrungen darüber zu sammeln, was es alles anstellt. Manchmal wird es ganz ruhig und zieht sich zurück, manchmal taucht es unvermutet hinter jedem Winkel auf: Eine Klientin meinte: „Ich habe mein Ego schon so satt!“ Und gleich drauf: „Sagt mein Ego.“  

Bei jeder Diskrepanz zwischen dem Selbst und der Realität ist das Ego aktiv. Es kritisiert und bejammert das, was gerade ist und sich nicht den eigenen Vorstellungen fügt. Beim Meditieren versuchen wir, anzunehmen, was gerade ist, ohne etwas daran zu bekritteln. Das Ego sperrt sich gegen diese Versuche und will immer wieder seine Agenda durchbringen: Die Realität soll sich gefälligst danach richten, was wir für richtig halten. 

Mit einiger Meditationspraxis und mit fortgeschrittener Fähigkeit im Durchschauen des Egos wird klar, dass es keine guten oder schlechten Meditationen, keine gelungenen oder misslungenen gibt, sondern nur verschiedenartige Erfahrungen. Jede Meditation, auf die wir uns einlassen, ist anders. Manchmal fällt es uns leichter, uns auf den Moment zu konzentrieren, manchmal geht es schwerer. Beide Erfahrungen sind gleich wertvoll. Es geht ja in der Meditation nicht darum, bestimmte Bewusstseinszustände zu erreichen, sondern eine Zeit darauf zu verwenden, die Aufmerksamkeit nur nach innen zu richten und dort alle, was auftaucht, anzunehmen. Es ist also eine Übung im Akzeptieren dessen, was ist.  Sind viele Gedanken da, so ist es das, was zu akzeptieren ist. Sind viele Gefühle da, so werden diese angenommen. Gelingt es leichter, das, was auftaucht, anzunehmen, ist das zu akzeptieren, ebenso, wenn das schwerer fällt. Was immer ist, sollte angenommen werden. Das ist der Königsweg zur Entmachtung des Egos.  

Denn das Ego will nichts in seinem Sosein annehmen, sondern an allem, was auftaucht, seinen Stempel aufdrücken, der es in etwas anderes verändert. Es ist konsequent im Kritisieren dessen, was ist, und reißt deshalb permanent aus dem Fließen von Erfahrung zu Erfahrung: Es kommt eine Erfahrung und dann eine Unterbrechung, ein Riss, in dem sich das Ego breit macht. 

Die Haltung beim Meditieren ist die gelassene Beobachtung, das Seinlassen dessen, was ist. Es kann der Atem beobachtet werden, aber auch Körperempfindungen, Energiephänomene oder die Atmosphäre in der Umgebung. Dabei ist immer auch und vor allem das eigene Ego Gegenstand des Beobachtens, des Wahrnehmens und Erkennens. Denn es bewirkt, ob die Aufmerksamkeit auf dem aktuellen Moment sein kann, auf der Erfahrung, die ins Bewusstsein tritt, oder auf Phänomenen, die vom Ego präsentiert werden, wie Gedanken und Bilder. Je mehr es gelingt, das Treiben des Egos zu identifizieren und dann die Aufmerksamkeit auf den gegenwärtigen Moment zurücklenken, desto mehr bleiben wir mit der aktuellen Wirklichkeit verbunden und nicht mit jener synthetischen, die das Ego aufdrängt. Denn was aus dem Ego kommt, ist immer ein Stück Wirklichkeit fast ununterscheidbar mit einem Stück Fantasie kombiniert. 

Meditation ist demnach die Übung, der Wirklichkeit, die im momentanen Erleben zu finden ist, immer näher zu kommen, und dazu ist das Erlernen der Unterscheidung des Erlebens und der Ego-Produktionen notwendig.  Fast immer dominiert das Ego die Erfahrung, vor allem in unserem Alltag; manchmal besteht eine Distanz zwischen ihm und der Instanz, die es beobachtet, und in der Meditation bemühen wir uns methodisch, diese Distanz zu stärken. 

Zum Weiterlesen:
Störungen in der Meditation
Selbst- und Außenbeziehung in Therapie und Meditation
Meditation und Langeweile