Freitag, 28. April 2023

Vom Gruppenegoismus zur globalen Ethik

Wir Menschen sind keine genetisch programmierten selbstsüchtigen Egoisten, wie der seinerzeitige Bestseller „Das egoistische Gen“ von dem Neo-Darwinisten Richard Dawkins suggeriert. Mittlerweile wissen wir, dass Menschen genetisch auf ein soziales Miteinander angelegt sind, u.a. dadurch, dass sie das Hormon Oxytocin zur Verfügung haben. Dieser Botenstoff sorgt dafür, dass sich Menschen aneinander binden und füreinander sorgen. Menschen können nur als Gruppenwesen wachsen, gedeihen und überleben. Die altruistische Rücksichtnahme und Kooperation in der Gruppe ist eines der Erfolgsgeheimnisse des homo sapiens, der es als einzige Art geschafft hat, zur dominanten Tierart auf diesem Planeten zu werden, mit der Fähigkeit, die Existenz aller anderen Arten zu bedrohen.  

Wir verfügen noch immer über das Gehirn und das Menü an Botenstoffen unserer frühsteinzeitlichen Vorfahren. Allerdings sind wir schon viele Jahrtausende in größeren Verbänden organisiert, für die unsere genetische Ausstattung nur mangelhaft eingestellt ist. Die Ur-Menschengruppen waren überschaubar, die Kommunikation lief unter Bekannten und Vertrauten, meist auch Verwandten. Das ist die Reichweite der Oxytocin-Bindungen, darüber hinaus schlägt der Effekt ins Gegenteil um. Denn das hochgelobte Hormon steckt auch hinter Neid und Schadenfreude. Es beeinflusst die Menschen, die eigene Gruppe gegenüber anderen zu bevorzugen. Deshalb spielt es auch eine Rolle beim Ethnozentrismus, bei der Hochschätzung der eigenen Gruppe oder Großgruppe, verbunden mit dem Misstrauen gegen andere Gruppen. Die Binnenbindungen werden verstärkt, und die Abneigung gegen das Außen, gegen alle, die nicht zur Gruppe gehören, wird gesteigert.

Wir können also auf keine genetische Hilfe zurückgreifen, wenn es darum geht, soziale Beziehungen über die eigene Vertrauensgruppe hinaus zu stiften. Solche Beziehungen sind allerdings für das Funktionieren von größeren sozialen Gruppen, geschweige denn für Formen der globalen Kooperation unerlässlich. Wir müssen die Einstellungen, Fähigkeiten und Kompetenzen dafür aus anderen Quellen schöpfen. Wir haben gewissermaßen keine Wahl darin, die Nächsten, das heißt die vertrauten Menschen um uns herum, zu lieben, und das ist auch keine besondere Leistung und erfordert kein Lernen. Wir wissen, dass grausame SS-Schlächter liebevolle Familienväter waren, und das ist kein Widerspruch, sondern ein Beweis für die Mächtigkeit von Botenstoffen und von deren Grenzen. Es zeigt den eklatanten Mangel an der Ausbildung von Mitmenschlichkeit über den Rahmen der familialen Kleingruppe hinaus, der in weiten Bereichen der Gesellschaft verbreitet ist.

Der Hass auf das Fremde

Der Hass auf das Fremde und Andersartige, an dem viele Menschen leiden und häufig dieses Leiden in Aggression ummünzen, ist aus der Angst vor etwas Unbekanntem gespeist, vor etwas oder jemandem, dessen Reaktion nicht vorhersehbar ist. Denn außerhalb der engen Bezugsgruppe ist das Netz an Erwartungen und an der Bereitschaft, Erwartungen zu entsprechen, viel gröber beschaffen. Deshalb steigt die Unsicherheit darin, wie andere auf einen selber reagieren, je weiter man sich von der Ursprungsgruppe entfernt. Die Gesichter, Minen, Gesten der bekannten Menschen haben wir verinnerlicht und können ihre verbalen und nonverbalen Sprachsignale lesen und übersetzen. Wir wissen, woran wir sind. Kaum redet jemand in einer anderen Sprache oder verwendet andere Gebärden, setzt die Unsicherheit ein, und ängstliche Naturen wittern sogleich Gefahren und geraten in Stress. 

Das Einfachste ist es dann eben, den Gebrauch einer fremden Sprache oder das Praktizieren fremder Gebräuche im eigenen Bereich zu verbieten. Aber das ist der feige Weg in die Isolation, in die engen Grenzen der Herkunftsgruppe. Es ist das Verharren im Immergleichen, in den Gewohnheiten und Gepflogenheiten, wie in einer Freundesgruppe, in der immer die gleichen Witze erzählt werden. Es ist der Rückzug auf vermeintliche Inseln der Seligkeit.

Fremdenliebe ist eine Lernaufgabe

Der größere Horizont der Menschlichkeit beginnt an den Grenzen der Menschen, die uns bekannt und vertraut sind. Der Respekt vor dem Fremden ist uns nicht in die Wiege gelegt, sondern ist eine Lernaufgabe, eine höhere Stufe der moralischen Einstellung. Es geht um eine Haltung, die nicht selbstverständlich ist und die nicht einfach zur Verfügung steht, sondern erworben werden muss. Sie stellt vor eine Wahl: Zwischen einer eingeschränkten, bedingten und einer allumfassenden Menschenliebe.  Es geht um die Entscheidung für das Wachstum in der Humanität, also dafür, dass das Gute allen Menschen zukommen soll und dass wir uns dafür einsetzen. 

Um es noch tiefer zu formulieren: Wir sprechen hier von einer Liebe, die keine prinzipiellen Grenzen hat, sondern alle Menschen umfasst, darüber hinaus alle Lebewesen und noch einmal darüber hinaus alles, was überhaupt existiert.  Die Fremden-, Fernen- und Feindesliebe gehört nicht zu unserer Grundausstattung, vielmehr können wir sie als Teil der Lebensaufgabe begreifen. Sie ist eine Stufe der moralischen Entwicklung, die uns von dem Gruppenegoismus zur allgemeinen Menschlichkeit führt. 

Die Religionen und die Menschenliebe

Die großen Religionen, die lange nach den großen Staatsgründungen entstanden sind, haben diese Erweiterung der Liebe in ihre zentralen ethischen Anliegen aufgenommen, eben weil sie nicht aus dem Grundrepertoire des Menschseins entspringt und weil sie für die Organisation des Zusammenlebens in größeren Staatsgebilden notwendig sind. Die meisten Religionen wollen die Menschen motivieren, ihren ethischen Horizont zu erweitern, über die eigenen Bedürfnisse und die der unmittelbaren Bezugsgruppen hinaus. Da die Impulse zu dieser Orientierung aufgrund der fehlenden hormonellen Ausstattung immer wieder versiegen, appellieren die Religionen mittels Geboten und Weisungen und motivieren mit Lohn- und Strafe-Versprechungen: Wer sich in seiner Haltung und in seinen Handlungen über den Gruppenegoismus hinaus entwickelt, kann mit einem bevorzugten Platz im Jenseits rechnen.

Im Christentum ist es die Nächstenliebe, die eben nicht auf die engsten Familienmitglieder und Freunde beschränkt ist, sondern sich auf jeden bezieht, der gerade in der Nähe ist und Not leidet. Das universelle Mitgefühl mit allen Wesen ist ein wichtiger Teil des buddhistischen Weges, ohne den niemand zur Erleuchtung gelangt. Die soziale Wohltätigkeit ist eine der Grundtugenden des Islams. Zumindest was die Mitmenschlichkeit und die Solidarität unter den Muslimen anbetrifft, geht diese Religion über den Tribalismus, also über die sozialen Verpflichtungen den eigenen Angehörigen gegenüber hinaus. Die Mitzwa ist ein Brauch im Judentum, bei dem regelmäßig die Mildtätigkeit gegenüber Bedürftigen praktiziert wird.  

Am weitesten geht wohl Jesus in der Bergpredigt: „Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Wenn ihr nämlich nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten?“ 

Die zu lieben, die einen selber lieben und die einem sympathisch sind, ist einfach und selbstverständlich und erfordert keine ethische Anstrengung oder Selbstüberwindung. Die ethische Herausforderung beginnt bei den Menschen, bei denen es uns schwer fällt, in der Liebe zu bleiben. Das sind Andersdenkende, Fremde, Angehörige anderer Rassen, Menschen, die wir aus moralischen Gründen verachten, 

Die Kraft der ethischen Evolution

Die globalen Krisenphänomene im Verhältnis von Mensch und Natur, mit denen wir allerorts zu tun haben, sind – ohne jede Hysterie – schon viel zu weit fortgeschritten als dass wir in den nächsten Generationen zu den Werten von früher zurückkommen könnten. Sie stellen uns vor die Wahl: Den Kopf in den Sand stecken, wie das das Gros der Politiker mit Zustimmung des Gros der Bevölkerungen tut, oder eine Schritt in der Bewusstseinsevolution riskieren. Im Rahmen dieser Diskussion bedeutet es, den Schritt vom Gruppenegoismus zu einer ökologischen Ethik zu gehen, die die Interessen der Menschen mit den Belangen der Natur ausgleicht. Dieser Schritt gelingt nur, wenn wir unsere Liebesfähigkeit von den gewohnten Kleingruppen auf alle Mitglieder der Menschheit und auf die Natur ausweiten.

Die Evolution des moralischen Bewusstseins verläuft  nicht beliebig, sondern sie führt mit logischer Notwendigkeit vom Einzelnen zum Allgemeinen. Sie befindet sich in Einklang mit der Evolution der anderen Bereiche der Gesellschafts- und Bewusstseinsentwicklung. Die Ethik, wie wir schon lange wissen, muss ihren Bezugsrahmen von der Kleinräumigkeit auf die Globalität ausweiten, so wie sich Wirtschafts- und Rechtssysteme global ausgeweitet haben. Sie muss darüber hinaus die Natur mit umfassen, die schon immer Gegenstand der Ausbeutung war und nun in den Status eines Rechtssubjekts und eines ethischen Partners gehoben werden muss. Dieser Schritt ergibt sich aus den Anforderungen, vor denen wir stehen. Er wird nur dann geschehen, wenn sich immer mehr Menschen zu ihm entschließen, bis die notwendige kritische Masse erreicht ist. 

Zum Weiterlesen:
Die Schwachen und die Nächstenliebe
Keine Nachhaltigkeit ohne soziale Konfliktlösung
Erstspracheverbote und Zweitsprachgebote
Wann ist das Boot voll?


Sonntag, 23. April 2023

Erstsprachverbote und Zweitsprachgebote

In den niederösterreichischen Schulen soll es Kindern hinkünftig verboten werden, in den Pausen ihre Muttersprache zu sprechen, wenn diese nicht die deutsche ist. In Oberösterreich gibt es diese Bestimmung schon seit 2015, also seit es dort eine Koalition zwischen ÖVP und FPÖ in der Landesregierung gibt.

Was ist die offizielle Begründung für diese Maßnahme? Die Kinder sollen sich verstehen und nicht wegen unterschiedlicher Sprachen aneinander vorbeireden. Es wird befürchtet, dass in der fremden Sprache schlecht über andere geredet wird, ohne dass es von den anderen verstanden wird. Schließlich sei es „unhöflich“, nicht Deutsch zu reden.

Beschämung als Mittel zur Durchsetzung der Kulturdominanz

Außerdem wird behauptet, dass Kinder mit anderer Muttersprache dadurch besser die deutsche Sprache lernen. Sie brauchen ja in unserem Land nur die deutsche Sprache, und darum sollen sie sich in dieser so viel ausdrücken wie nur möglich. Diese Argumente sind allerdings unbegründet. Die Erkenntnisse der linguistischen und pädagogischen Wissenschaften sind eindeutig: Erstsprachverbote und Deutschsprechgebote erreichen keine positiven Ziele. Sie verbessern nicht die Sprachkompetenz in der deutschen Sprache. Vielmehr wirken sie auf der sozialen Ebene katastrophal. Statt zu „integrieren“, wie behauptet wird, wird die Segregation verstärkt und vertieft. Es wird so getan, als gäbe es eine gute und eine schlechte Sprache, eine Sprache, die alle sprechen müssen, und eine, die verboten ist, weil sie weniger wert ist. Wer Deutsch nicht als Muttersprache hat, spricht eine schlechte Sprache und sollte sich dafür schämen. Das ist die Botschaft, die mit dem Sprach-Ge- und Verbot an Kinder vermittelt wird.

Kinder mit Migrationshintergrund leiden ohnehin an vielfachen Schambelastungen. Sie befinden sich in einem fremden Land mit einer fremden Kultur, zu der sie in den meisten Fällen gehören wollen, es aber nie ganz schaffen, weil sie eben aus einer anderen Kultur stammen. Viele Angehörige der Mehrheitskultur kehren immer wieder hervor, oft in kleinen oder kaum wahrnehmbaren Dosen, dass sie „das Sagen“ haben und dass sie das Fremde als minderwertig oder als bedrohlich einschätzen. Diese Ressentiments sind der Treibstoff hinter den Forderungen, die dann von politischen Parteien aufgegriffen werden. Denen geht es nicht um Verbesserungen im Schulalltag oder um die Verständigung unter den Kindern – die können sich das schon unter sich ausmachen. Es geht ihnen darum, Vorurteile und Ängste zu schüren und damit Wählerstimmen zu gewinnen.

Was durch solche Maßnahmen passiert ist, dass das Sprechen in der Muttersprache mit Scham beladen wird. Damit geraten die betroffenen Kinder in eine Zwickmühle. Ihre grundlegende kulturelle Identität ist durch ihre Herkunftskultur geprägt. Sie passen sich an die neue Kultur an und leben sich in sie ein. Wird aber die ursprüngliche Kultur abgelehnt oder als minderwertig eingestuft, entsteht ein innerer Konflikt, der mit Scham behaftet ist. Das, was einem immer am nächsten liegt und am tiefsten prägt, die eigene Wurzelkultur, muss zurückgestuft werden, um in der neuen Kultur akzeptiert zu werden und einen sicheren Platz zu bekommen. Wird die Forderung der Mehrheitskultur, die eigene Herkunftskultur abzuwerten, übernommen, so kommt es zur Selbstverleugnung, zum Abschneiden von den eigenen Wurzeln.

Anpassung durch Beschämung und das Fördern von Aggressionen

Durch solche politische Interventionen wird bei den Betroffenen eine innere Zwietracht gesät. Statt Integration kommt es zur erzwungenen Anpassung mit Hilfe von Beschämung. Es werden Spannungsfelder in den pädagogischen Bereich hineingetragen, an denen dann alle leiden, die Deutsch-Erstsprachlicher wie die Deutsch-Zweitsprachler, sowie die Pädagoginnen und Pädagogen, die die Ge- und Verbote umsetzen sollen. Irgendwo anders reiben sich Politiker die Hände, weil ihre Umfragewerte steigen.

In solchen Dynamiken, die mit Unterdrückung und Beschämung zu tun haben, ist immer auch ein Wut- und Aggressionspotenzial enthalten. Es kann bei den Betroffenen nach innen gehen und zu Selbstaggressionen oder Depressionen führen, es kann sich im Schulalltag entladen oder später in die Aggression gegen Zuzügler münden, von denen man befürchtet, dass sie einem wegnehmen, was man selber mühsam an Anpassung und Einpassung in die Mehrheitskultur errungen hat.

Das verordnete Abschneiden der Wurzeln

Wenn zwei Kinder in der Pause, während sie ihre Jause essen, miteinander in der gemeinsamen Muttersprache reden, beleben sie ein Stück Heimat und erinnern an die eigene Herkunft. Meist ist es so, dass es in der Muttersprache leichter fällt, über Gefühle zu reden, also über das, was einen im Inneren bewegt. Diese wichtigen Elemente der emotionalen Kommunikation sollen verpönt und verboten werden.

Man stelle sich die Lehrperson vor, die zu zwei Kindern geht, die gerade miteinander Türkisch oder Bosnisch oder Englisch reden, und sie zum Deutschreden ermahnt. Die Kinder werden aus ihrer Welt herausgerissen, in der sie gerade eine emotionale Brücke zueinander und zur eigenen Herkunft geschlagen haben. Die Beziehung zu den Wurzeln, die in der Muttersprache angelegt sind, wird gewaltsam unterbrochen. Eine Schamschranke entsteht, die das Verwenden des ureigensten Ausdrucksmittel, der Sprache der Mutter, mit einem Makel behaftet. Klarerweise ist damit auch die eigene Herkunft, die Kultur der Eltern, Großeltern und Urgroßeltern mit einem Makel und einem Schamgefühl behaftet.

Statt beide Kulturen, die Herkunftskultur und die Ankunftskultur, miteinander zu verbinden und zu integrieren, entsteht ein Spalt zwischen zwei unversöhnlichen Polen im eigenen Inneren. Die Herkunft zu verleugnen, wie es im Sprechverbot verlangt wird, bewirkt eine innere Spaltung. Denn die Herkunft bleibt die Herkunft, gleich ob sie akzeptiert und geschätzt wird oder abgelehnt und abgewertet werden muss. Die eigenen Wurzeln sind immer wirksam und prägen die tiefste Schicht der eigenen Existenz.

Jede Form einer befohlenen Entwurzelung kann nur auf einer Oberfläche erfolgreich sein, als bewusst vollzogene und erzwungene Anpassung auf der Grundlage der Selbstverleugnung. Mit Maßnahmen wie der oben erwähnten werden bei einer großen Gruppe von Menschen Schamgefühle, Unsicherheiten und Verletzungen erzeugt (betroffen sind ja nicht nur die Kinder, sondern auch ihre Eltern und Verwandten und dazu noch die anderen Kinder, die indirekt an der Ausgrenzung und Stigmatisierung leiden, die sie mitverfolgen). Es sind Maßnahmen, die Probleme erzeugen und nicht lösen.

Dazu kommt das Säen von Misstrauen. Wer Kindern unterstellt, dass sie schlecht über andere reden, bloß weil man sie nicht versteht, vertritt keine pädagogische Haltung und ist im Lehrberuf am falschen Platz. Lehren und Lernen kann nur in einer Atmosphäre von Vertrauen und gegenseitigem Respekt gedeihen. Schlecht geredet wird nur dort, wo Schlechtes geschieht.

Ein Armutszeugnis für die Mehrheitskultur

Es ist ein geistiges und moralisches Armutszeugnis für eine Mehrheitskultur, wenn sie den Minderheitenkulturen solche unsinnige und grundlose Verbote auferlegt. Die Regie dabei führen Ideologien, die wiederum auf irrationalen Ängsten beruhen. Wieviel Angst und Misstrauen wird durch solche Vorhaben öffentlich von denen, die sie propagieren, einbekannt, wieviel Kleingeist und wieviel Boshaftigkeit wird in solchen Maßnahmen offenbar – eine Schande für eine europäische Demokratie im 21. Jahrhundert, insbesondere angesichts der wirklichen Probleme und Herausforderungen, die gemeistert werden müssen.

Der Reichtum, der in jeder Zweisprachigkeit liegt, die sprachliche Intelligenz, die von früh an geübt wird und später das Erlernen weiterer Fremdsprachen erleichtert, kann nicht überschätzt werden. Jeder, der als Erwachsener eine Sprache lernt, weiß, wie schwierig und zeitaufwändig es ist und bewundert die Kleinen, die in Sprachen hineinwachsen, ohne jede Lernanstrengung. Jeder, der versucht, in eine andere Kultur hineinzuwachsen, weiß, wie mühsam das ist. Kinder mit einem intuitiven Verständnis für unterschiedliche Kulturen verfügen über viel mehr Flexibilität und können deshalb kreativer mit Unterschieden umgehen.

Die Aufgaben, vor denen wir heute als Gesellschaft stehen, sind sämtlich globaler Natur. Sie können nur bewältigt werden, wenn die Menschheit zusammenarbeitet. Personen, die über eine Mutter- und eine Zweitsprache verfügen, tragen zwei Kulturen in sich und verfügen damit über wichtige Voraussetzungen nicht nur für die Verständigung zwischen unterschiedlichen Kulturen, sondern auch für einen globaleren Horizont des Wahrnehmens und Denkens. Die Proponenten von Sprechverboten hingegen repräsentieren den Geist der Beschränktheit und Kurzsichtigkeit, der Kontrolle, Besserwisserei und Überwachung. Auch wenn sie für solche Maßnahmen den Applaus und die Wählerstimme von manchen bekommen, stehen sie längerfristig auf verlorenem Posten, denn all die Energie, die in solche Vorhaben geht, fehlt bei der Bewältigung der Klimakrise oder des sozialen Ausgleichs.

Mehr Informationen zu dieser Thematik:
Pausensprache deutsch - ein pädagogischer Unsinn 

Donnerstag, 20. April 2023

Die Zumutung der Wahrheit

„Das ist eine Zumutung!“ rufen wir empört aus, wenn jemand mit überzogenen Ansprüchen unsere Grenzen verletzt (wir machen jemanden auf einen Schaden, den er verursacht hat, aufmerksam, und die Antwort ist, wir sollen ihn doch selber beheben) oder wenn wir mit einer „unzumutbaren“ Situation konfrontiert sind (wir entdecken Kakerlaken im teuren Hotelzimmer). 

In dem Wort steckt allerdings noch mehr drin als der Ausdruck der Empörung, denn in der Zumutung verbirgt sich der Mut. Wenn wir einander etwas zumuten, heißt das, dass wir auf den Mut der anderen Person vertrauen. Wir hoffen, dass sie das annehmen kann, was wir ansprechen wollen. Es kann ein Wunsch sein, von dem wir wissen, dass er nicht leicht oder nicht gerne erfüllt wird. Es kann die Mitteilung einer Kritik am Verhalten sein, die für die betreffende Person unangenehm ist. Es kann sogar eine Liebeserklärung sein, die ausgesprochen wird ohne die Sicherheit, dass sie von der Adressatin wohlwollend oder erfreut angenommen wird. 

Beim Zumuten betreten wir also einen neuen Raum mit noch unbekannten Risiken. Aufgrund von früheren Erfahrungen nehmen jedenfalls an, dass es Gefahren geben wird, bringen aber den Mut auf, dennoch den Schritt zu machen, weil er uns wichtig ist und weil wir spüren, dass wir ihn tun müssen, wenn wir zu uns selber stehen wollen. Manchmal bedarf es der Herausforderung für unsere Mitmenschen, damit wir uns selbst treu bleiben können. Der Preis der Selbstverleugnung ist hoch, den wir bezahlen, wenn wir uns von unseren eigenen Erwartungen, die durch alte Erfahrungen entstanden sind, einschüchtern lassen und unseren Angstfantasien die Herrschaft überlassen. 

Wir haben als Kinder gelernt, uns in bestimmten Situationen zurückzunehmen, auf unsere Bedürfnisse zu verzichten und schließlich unser Selbst zu beschneiden. Damals war das Risiko zu groß, die Liebe und Zuwendung unserer wichtigsten Bezugspersonen zu verlieren. Also haben wir den Weg der Anpassung an die Erwartungen und Forderungen der Großen gewählt. 

Es sind die Ängste, die mit den frühen Erfahrungen verbunden sind, die sich dann melden, wenn immer wir vor einer kommunikativen Herausforderung stehen, geleitet von dem Drang, etwas klären, bereinigen oder ausdrücken zu müssen, und wo zugleich ein Risiko der Ablehnung, Zurückweisung oder eines Streites spürbar ist. Wir nehmen gewissermaßen den Vorwurf vorweg, mit unserem Anliegen eine Zumutung zu sein. Wenn es uns gelingt, die Ängste zu überwinden, indem wir erkennen, dass sie in unsere Kindheit gehören und dass wir schon erwachsen sind und deshalb die möglichen schwierigen Konsequenzen unseres Selbstausdrucks bewältigen können, dann ist der Mut in uns wirksam. Er gibt uns die Kraft auszudrücken, was uns am Herzen liegt.

Zumutung und Ermutigung

Zugleich steckt in der Zumutung, dass wir der angesprochenen Person den Mut zusprechen, das auszuhalten, was an Herausforderung in unserer Mitteilung steckt. Wir sprechen ihr gewissermaßen den Mut und die Kraft zu, mit dem, was wir zu sagen haben, zurechtzukommen. „Treffen wir uns auf dem Feld des Mutes!“, so lautet unsere Ansage. Messen wir unsere Kräfte, aber nicht, um zu schauen, wer stärker ist, sondern um uns auf Augenhöhe zu begegnen. Ich zeige dir meine Kraft und Klarheit und ich bin bereit für deine Kraft und Klarheit.

Wir nehmen vorweg, dass sich die andere Person nicht gemäß unseren angstgeprägten Erwartungen verhalten wird, und halten die Möglichkeit offen, dass sie andere Seiten zeigt und aus einem bewussten Teil der Seele reagiert. Wir appellieren an das größere Potenzial in ihr, das in der Lage ist, konstruktiv mit dem Thema umzugehen, statt sofort die Abwehr und den Widerstand zu mobilisieren oder gleich ins Streiten zu gehen. Wir muten uns beiden zu, einen guten Weg zu finden, indem wir einander aufmerksam zuhören und die Fähigkeiten der Empathie nutzen. 

In der mutigen Handlung sind uns mehr Ressourcen zugänglich als wenn wir uns im Bann unserer Ängste an die Erwartungen unserer Mitmenschen anpassen. Ängste erzeugen Stress, und Stress reduziert unsere Einsichts- und Handlungsfähigkeiten. Eine mutige Handlung ist immer auch mit Aufregung verbunden, weil es Ängste sind, die überwunden werden. Dazu kommen aber noch die Kräfte der Zuversicht, die mobilisiert werden, sobald wir den Schritt aus der Komfortzone heraus wagen. Manchmal sprechen wir in solchen Situationen davon, dass wir uns zusammenreißen wollen. Damit meinen wir, dass wir unsere Kräfte bündeln und unsere Energie auf ein Ziel hin fokussieren. Es sind das Situationen, in den wir über uns hinauswachsen können, in denen wir die Grenzen unserer Möglichkeiten erweitern und neue Gebiete erschließen. Wir gewinnen eine neue Seite unseres Selbst und schaffen einen neuen Begegnungsraum mit den anderen.

Jedes Stück an Zuwachs für den Mut, bei uns, indem wir anderen etwas zumuten, und bei anderen, indem wir ihnen zumuten, den Mut dafür aufzubringen, indem wir sie also zu ihrem Mut ermutigen, macht die Menschheit ein wenig stärker und klarer. Die menschlichen Gesellschaften sind voll von Missständen und Problemzonen, von Intoleranz, Egoismen und Korruption, von Gier und Neid, sodass es viele mutige Menschen braucht, die ihre Stimme erheben, dagegen auftreten und allen Risiken zum Trotz Verbesserungen einfordern.

Die zugemutete Wahrheit (Ingeborg Bachmann)

In ihrer Rede zur Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden 1959 sagte die Schriftstellerin: „Wie der Schriftsteller die anderen zur Wahrheit zu ermutigen versucht durch Darstellung, so ermutigen ihn die anderen, wenn sie ihm, durch Lob und Tadel, zu verstehen geben, dass sie die Wahrheit von ihm fordern und in den Stand kommen wollen, wo ihnen die Augen aufgehen. Die Wahrheit nämlich ist dem Menschen zumutbar.“ 

Es erfordert also eine wechselseitige Ermutigung, sich der Wahrheit anzunähern, die die Künstlerin mit ihrem Publikum verbindet. Die Aufgabe der Kunst liegt in der Öffnung für neue Zugänge zur Wahrheit, sie ist also die Avantgarde. Das Publikum hat die Aufgabe, sich auf diese Zugänge einzulassen und darauf mit dem Zumuten zu reagieren: Noch mehr von der Wahrheit einzufordern. Auf diese Weise wächst der Mut bei der Künstlerin und bei den Rezipienten, und damit entsteht bei beiden die Bereitschaft, sich stärker auf die zugemutete Wahrheit einzulassen und sie mehr und mehr in der Gesellschaft zur Wirkung bringen.

Dieses Verhältnis ist ein Spezialfall für die allgemeineren menschlichen Beziehungen, in denen es ebenso um die Wahrheit und ihre Zumutbarkeit geht. Jeder Zugewinn an Wahrheit ist ein Zugewinn an Menschlichkeit. Und diese Zugewinne haben wir bitter nötig, von ihnen hängt unsere Zukunft ab.

Zum Weiterlesen:
Die Zumutung


Donnerstag, 6. April 2023

Über das Schreiben

Schreiben bedeutet, Erfahrungen und Gedanken in Worte zu kleiden, sodass sie von den Mitmenschen gelesen und über das Lesen in die eigene Welt übersetzt werden können. Dort werden sie zu neuen inneren Wirklichkeiten.

Zum Unterschied vom Reden hat das Geschriebene eine materielle Form und ist dauerhaft und kann oft nachträglich nicht mehr geändert werden. Geschrieben ist geschrieben, Subjektives ist zu  einer objektiven Realität geworden. Z.B. wenn ein Vertrag unterzeichnet ist, gilt er. Über Geredetes lässt sich immer streiten, Geschriebenes hat eine gewichtigere Beweiskraft.

Alles, was veröffentlicht wird, ist eine Gabe an alle, die es lesen. Auf diesen Seiten ist jede Veröffentlichung ein Geschenk, weil die Texte nichts kosten, sondern für alle frei zugänglich sind.

Das Geschenk im Schenken 

Wie jedes Geschenk bringt es dem Schenkenden so viel wie der Beschenkten. Schreiben ist in sich ein kreativer Prozess. Meistens gehen dem Schreiben Gedanken voraus und das Schreiben spinnt sie weiter. Im Prozess des Schreiben „schreibt es sich“, d.h. es entspringt das Weitere des Texts aus der Tätigkeit des Schreibens.

Das Geschenk des Textes ist selber etwas, das geschenkt wurde. Denn kein Gedanke, der in einen Text einfließt, ist das Eigentum des Denkers. Er ist zwar scheinbar irgendwo in ihm entstanden, es ist aber meistens völlig unklar, woher er kommt. Manchmal erscheint mir ein Gedanke völlig originell, bis ich draufkomme oder mir jemand sagt, dass die Idee schon da oder dort geschrieben worden ist. Es gibt vielleicht irgendwo einen riesigen Speicher an Informationen, den wir anzapfen können, wenn wir uns auf einen kreativen Prozess einlassen. Wenn wir in schöpferischer Laune sind, sprudelt es aus dieser Quelle; zu anderen Zeiten tröpfelt es und der Text wächst langsam oder verliert sich in einem Dickicht, in dem es kein Weitergehen mehr gibt.

Immer wieder braucht es schöpferische Pausen, ein Abstandnehmen zum Text, damit deutlich wird, wo er sich verirrt hat und wie er wieder in die Spur kommt. Beim Brotbacken muss der Teig eine Zeitlang ruhen, bevor der Backvorgang beginnt. Es ist, als ob sich der Text sich selber zurechtbringen würde, wenn ich ihm seine Zeit lasse. Er muss zu seiner Form finden, und wenn das geschehen ist, stellt sich ein Gefühl der Stimmigkeit ein.

Jeder Schreibvorgang enthält ein Element der inneren Klärung. Wenn der Kopf bei einem Thema verwirrt ist und sich nicht auskennt, hilft es oft, mit dem Schreiben zu beginnen. Aus einer Fragestellung entwickeln sich Sätze, bis sie ein Ganzes ergeben und die Frage ihre Antwort gefunden hat. Das Schreiben selber bringt den Inhalt Schritt für Schritt hervor. Ich lausche ihm und lasse mich von ihm überraschen. Ich greife die Impulse auf, die sich melden, und gebe ihnen eine sprachliche Form, so gut es gerade geht. Allmählich klärt sich das auf, was vorher unklar und verschwommen war. Wie eine Gestalt, die aus dem Nebel hervortritt, langsam sichtbar wird und erkannt werden kann, entpuppt sich der Sinn dessen, worüber ich schreibe, im und durch das Schreiben selber.

In der Erfahrung des Schreibens bestätigt sich immer wieder der Satz, dass jede Frage ihre Antwort in sich enthält. Alles, was es braucht, ist der Frage ihren Raum zu geben, sie stehen und wirken zu lassen. Irgendwann taucht die Antwort auf, und die Spannung, die in der Frage liegt, löst sich. Ein neues Stück Wirklichkeit ist entstanden.

Der Kampf mit dem Drachen des Perfektionismus

Der Perfektionismus ist einer der Hauptfeinde des kreativen Prozesses. Er mahnt jede wirkliche, aber auch jede scheinbare Fehlerhaftigkeit, Beschränktheit oder Unsinnigkeit eines Textes ein. Wichtig ist es, ein paar Korrekturschleifen durchlaufen zu lassen, damit offensichtliche und verborgene Fehler im Text ausgebessert werden können, der Textfluss geglättet und der Sinnzusammenhang durchgängig nachvollzogen werden kann.

Aber ein strenger Perfektionismus ist damit nicht zufrieden. Er erfindet Gründe, damit es ja nicht zum Abschluss des kreativen Prozesses kommt. Er vertritt die Angst und die Scham vor der Bloßstellung, die durch eine Veröffentlichung des fertigen Produkts erfolgen könnte. Er imaginiert die indignierten, abwertenden und feindlichen Blicke, die angewidert ausgestreckten Zeigefinger, die spöttischen Stimmen, das verächtliche Schulterzucken, das heimliche boshafte Tuscheln, das von den möglichen Empfängern kommen könnte und wie heftige Nadelstiche schmerzhaft erlebt werden würde.

Der Perfektionismus will uns vor solchen Schmerzen und Erniedrigungen bewahren. Er ist aber kein gütiger und starker Beschützer, als der er sich gebärdet, sondern ein ängstlicher und schamhafter Anteil unserer Seele, der seine Rechthaberei aus der Kindheit und aus Schulerfahrungen begründet. Er ist ein altes Gespenst, das in einer Fantasiewelt lebt und immer wieder den Unterschied zur Realität verwischt. Er bläht sich auf und macht sich wichtig, auf Kosten unseres kreativen Ausdrucks, den er beständig zu sabotieren versucht.

Erwachsensein heißt, zu sich zu stehen und aus sich heraus zu gehen, auf das Risiko hin, abgelehnt, missachtet oder missverstanden zu werden. Als Erwachsene kennen wir unsere Beschränktheit und Fehlerhaftigkeit und stehen zu ihr, ohne deshalb unsere Schaffenskraft zu amputieren. Wir wissen auch, dass wir alles aushalten und überstehen können, was uns Angst macht und beschämen will. Wir können und müssen unser Selbst leben und ausdrücken; das ist unser Beitrag zur Welt und das, was unserem Leben Sinn gibt. Sobald wir als Erwachsene unseren Mut und unsere Risikobereitschaft mobilisiert haben, wird der Perfektionismus zurücktreten und seine Sabotageaktionen beenden.

Die Veröffentlichung

Wenn der Text seine Gestalt und Form gefunden hat und sich ein Gefühl der Ganzheit eingestellt hat, kommt der Zeitpunkt der Veröffentlichung. Das Geschriebene wird der Öffentlichkeit überantwortet. Es ist wie das Loslassen einer reifen Frucht durch den Baum oder wie ein Geburtsprozess, in dem sich ein neues Lebewesen seine Bahn bricht und seinen selbständigen Weg beginnt. Wir geben her, was in und durch uns entstanden ist, und überreichen es der Welt. Was durch den Erschaffensprozess hindurch als unser Eigenes erschienen ist, darf nun in seiner Eigenständigkeit seine Wirkung entfalten. Wir haben ihm alles mitgegeben, was wir uns möglich war, alles Weitere ist nicht mehr in unserer Macht.

So wie das Baby, das eine Mutter gebiert, in ihr zeitweilig wie ihr Eigenes erschienen ist, durch die Geburt als selbständiges Wesen mit eigener Individualität offenbart, löst sich das kreative Produkt im Vollendungsschritt von seiner Schöpferin. Es nimmt nun seinen eigenen Weg durch die Welt. Es wird Menschen finden, die es mögen und lieben, und andere, die es ablehnen, und es wird viele andere geben, die es ignorieren oder nie von ihm erfahren. Die Schöpferin kann sich zurückziehen und ab und zu einen Blick auf die Spur werfen, die das Produkt durch die Welt zieht. Sie kann ihren Stolz spüren, der die Anerkennung über die eigene Leistung enthält, und sie kann die Demut spüren, in der sich ausdrückt, dass alles, was wir geben können, etwas ist, das wir vorher empfangen haben. 

All unser Schaffen ist nichts als das Verarbeiten und Neugestalten von Empfangenem. Unser kleiner Beitrag am Schaffensprozess, die wir begonnen und abgeschlossen haben, darf uns stolz machen, und der große Beitrag, den das unendliche Netz des Universums geleistet hat, führt uns zur Dankbarkeit. Denn es gehört zu den schönsten Erfahrungen des Lebens, der Ausdruckskraft der eigenen Kreativität Raum zu geben und sie zur Entfaltung zu bringen. Daran teilhaben zu dürfen, ist ein Privileg und ein unschätzbares Geschenk.

Das ist der 700. Artikel auf dieser Blogseite. Zur Feier ein paar Daten:
Aufrufe seit Bestehen (2011): ca. 345 000
Beliebtester Artikel: Psoas-Muskeln und Traumaheilung (56 000 Aufrufe)
Beliebtester Artikel im letzten Monat: Die Langsamkeit der Natur (155 Aufrufe)

Mittwoch, 5. April 2023

Demokratie in der Krise?

In diesen Zeiten ist häufig von der Krise der Demokratie die Rede. In immer mehr Staaten oder Teilstaaten werden rechtsgerichtete Regierungen installiert, denen der Erhalt und die Förderung der Demokratie kein Anliegen ist, die vielmehr die demokratischen Institutionen und Errungenschaften schwächen wollen, um ihren Machterhalt zu sichern. Diese Gruppierungen gebärden sich zwar als die Garanten für Sicherheit, aber untergraben gleichzeitig den Hauptgaranten der politischen und sozialen Sicherheit, die moderne Demokratie mit ihren beständig verbesserten Mechanismen der Kontrolle der Macht und des inneren Ausgleichs zwischen verschiedenen Interessensgruppen.

Die Zustimmungswerte zur Demokratie gehen zurück (in Österreich stärker als in Deutschland), auch wenn diese Regierungsform noch immer weit vor allen anderen bevorzugt wird. Die Zustimmung zu autoritären Regierungsformen liegt in Österreich je nach Fragestellung zwischen 10%, die strikt eine autoritäre Führung wollen, und 43%, die einen “starken Mann” an der Spitze attraktiv finden. Mit 10 % an rechtsgerichteten Wählergruppen kann jede Demokratie zurande kommen; doch je höher dieser Prozentsatz steigt, desto größer ist die Gefahr für eine autoritäre Wende.

Das Modell mit den Institutionen der Gewaltentrennung und des Interessenausgleichs in Zusammenhang mit unabhängigen und kritischen öffentlichen Medien hat sich über die letzten beiden Jahrhunderte ausgebildet und ständig verbessert. Es hat wesentlich zur stabilen und friedlichen Entwicklung in der überwiegenden Zahl der westlichen Länder beigetragen. Ein Charakteristikum der Demokratie besteht darin, dass sie selber der Gegenstand demokratischer Diskussion ist, denn sie muss beständig an die sich veränderten Bedingungen der Gesellschaft angepasst werden. Ihre Grundlagen, die Rechtsgleichheit, die Verfassungstreue und die allgemeine politische Willensbildung, dürfen dabei nie außer Acht gelassen werden. Damit soll verhindert werden, dass eine demokratisch gewählte Regierung die Demokratie selber aus den Angeln heben kann, ähnlich wie es 1933 in Deutschland und Österreich passiert ist.

Krisenstimmung und Demokratieskepsis

Das bekannte Modell der Führungsstile besagt, dass autoritäre Führungen effektiver sind, wenn akute Krisen bewältigt werden müssen. Ein Haus brennt, und der Hauptmann der Feuerwehr gibt die Befehle, die sofort befolgt werden. Eine demokratische Willensabstimmung braucht viel Zeit, die im Notfall nicht gegeben ist. Es muss schnell gehandelt werden, um eine Katastrophe abzuwenden, und lange Beratungen, bei denen jedes Für und Wider abgewogen wird, verzögern das Handeln, unter Umständen, bis es zu spät ist.

Soweit die Theorie. In der demokratischen Praxis ist für Notfälle die gewählte Regierung zuständig, die dann ad hoc Maßnahmen beschließen kann. Reichen dafür Verordnungen nicht aus, braucht es also Gesetze, so muss die Volksvertretung mit einbezogen werden, aber auch alle anderen Maßnahmen unterliegen der demokratischen Kontrolle, die manchmal erst nachträglich schlagend wird wie z.B. bei den Corona-Maßnahmen.

Bei vielen Menschen entsteht dennoch der Eindruck, dass die demokratischen Institutionen zu schwach sind, um Krisen effektiv zu bewältigen. Sie verallgemeinern die Einsichten aus dem Modell der Führungsstile, die aus überschaubaren Krisensituationen gewonnen wurde, und wenden es auf komplexe Krisen an. Deshalb verbreitet sich in Zeiten, die als krisenhaft erlebt werden, der Wunsch nach einer starken und autoritären Führung, mit der Hoffnung, dass diese den Krisen eine schnelle Abhilfe verschaffen könne.

Nahezu alle Krisen unserer Zeit können freilich gar nicht von einzelnen Personen abgewendet werden, weil sie aus einer Unmenge von Ursachen und Zusammenhängen entstanden sind. Es gibt keine noch so geniale Führungspersönlichkeit, die dafür nachhaltige Lösungen umsetzen könnte. Selbst nationale Regierungen sind überfordert, weil sie nur Maßnahme für das eigene Staatsgebiet treffen können, die Probleme aber oft länderübergreifend sind und isolierte Maßnahmen die Schwierigkeiten in übergeordneten Systemen verschärfen können. Auch wenn viele Führungspersönlichkeiten für sich reklamieren, gewissermaßen die ultimativen Retter für alle Nöte zu sein, produzieren sie als Folge wenig durchdachter Maßnahmen in der Regel mehr zusätzliche Krisen. Oft versuchen sie, kurzfristig wirksame Lösungsversuche durchpeitschen, deren Konsequenzen nicht mitbedacht werden.

Küchenphilosophie

Wir unterliegen als Menschen immer wieder der Tendenz, einfache Alltagssituationen mit Situationen zu vergleichen, die eine hohe Komplexität aufweisen, und Lösungsansätze, die im überschaubaren Raum der kleinen Welt funktionieren, eins zu eins auf Großgebilde zu übertragen, mit der Erwartung, dass sie dort genauso effektiv sind. Komplexität verunsichert, Vereinfachung gibt uns eine scheinbare Sicherheit. Das ist ein häufiger Fehlschluss. Bei komplexen Themen finden wir nur zu den sinnvollen Lösungen, wenn wir uns in die Komplexität vertiefen und für Lösungsansätze die “Schwarmintelligenz” nutzen, also das Zusammenwirken verschiedener Personen (Experten und Laien) und Institutionen. Solche Vorgänge brauchen mehr Zeit, die aber sinnvoll genutzt ist, weil sie profunde, abgesicherte und nachhaltig wirksame Lösungsschritte ermöglicht. Solche Vorgänge sind nur in einem demokratischen Rahmen möglich.

Es ist wiederum dem Beschleunigungsmodus, der die moderne Gesellschaft prägt, geschuldet, dass demokratische Entscheidungsprozesse in Misskredit geraten. Wir erwarten, dass Probleme, die auftreten, möglichst schnell gelöst werden, und wir werden ungeduldig, wenn die Entscheidungen lange Zeit brauchen. Meistens glauben wir, sofort besser zu wissen, was gut ist, und verstehen nicht, was das lange Palavern soll. Auch hier überschätzen wir häufig unsere eigenen Fähigkeiten im komplexen Denken und wir glauben, wir bräuchten nur die Einsichten unseres Hausverstandes auf übergreifende Zusammenhänge anwenden, ohne dass wir es für nötig erachten, die Unterschiede an Komplexität zu berücksichtigen. Es ist, als ob wir mit einem Rezept aus einem Kochbuch das Hungerproblem in der Welt lösen wollten.

Der Nationalismus als Trumpfkarte

Verschärft wird die Demokratieuntergrabung durch die nationalistische Karte. Viele Politiker, die ursprünglich aus einer liberalen Richtung kommen (z.B. V. Orban oder D. Trump), haben erkannt, dass der Nationalismus eine Trumpfkarte liefert, mit der es relativ leicht ist, an die Macht zu kommen und sie zu behalten. Der Nationalismus appelliert an ein abstraktes Wir-Gefühl, das den Menschen Sicherheit suggeriert; allerdings ein Wir, das in Opposition oder Feindschaft zu einem fremden Wir steht, das als feindlich oder bedrohlich dargestellt wird.

Hereinnahme statt Ausgrenzung

Demokratische Reife besteht dagegen darin, die Andersheit der anderen anerkennen und gelten lassen zu können. Die Diversität der Ansichten, Meinungen, Lebensorientierungen, kulturellen Prägungen usw. hat in einer Demokratie einen Platz und eine wichtige Bedeutung, die dazu führt, dass schwache Positionen gefördert werden. Pluralität und gegenseitige Akzeptanz sind der Nährboden für die Kreativität und Resilienz von Gesellschaften; Ausgrenzungen und Aggressionen gegen Minderheiten oder Schwächere destabilisieren den gesellschaftlichen Zusammenhalt und steigern die allgemeine Unsicherheit und Angst. 

Zur Demokratie gehört die Inklusion, zum Nationalismus die Exklusion, das Ausschließen alles dessen, was bestimmten vordefinierten Kriterien nicht entspricht. Der Nationalismus ist rückwärtsgewandt, weil die Identifikation mit einer Nation kein Lösungspotenzial für irgendeine der aktuellen Krisen liefern kann. Die Zukunft der Menschheit liegt in der Zusammenarbeit über die Grenzen von Nationalstaaten hinaus. Sie kann nur dann in eine gute Richtung führen, wenn diese Kooperation auf demokratischen Grundsätzen beruht, also inklusiv und nicht exklusiv ist. Es sollte uns langsam deutlich werden, dass wir die Zukunft nur meistern, wenn wir alle mitanpacken und uns gemeinsam anstrengen, über alle urtümlichen Grenzen hinweg und jenseits aller Hoffnungen auf einen starken Mann als Erlöser. Jede der Krisen, unter denen wir leiden, ist eine Menschheitskrise; lösen kann sie nur die Menschheit.

Deshalb ist es so wichtig, dass wir alle Möglichkeiten des Zusammenwirkens stärken und all den Bestrebungen, die die Lösungen in veralteten Modellen und rückwärtsgewandten Ideologien suchen, entgegenzutreten und sie an der Machtübernahme zu hindern. Die Demokratie muss streitbar sein, wenn sie weiterbestehen will, und sie muss ihre Gegner benennen und in die Schranken weisen. Die Demokratie ist niemand anderer als wir selber, soweit wir uns zu ihr bekennen.

Zum Weiterlesen:
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