Montag, 27. Juni 2016

Was ist Therapie - traditionell und systemisch

Das traditionelle medizinische Therapiemodell hat folgenden Ablauf: Der Patient kommt mit einem Symptom, z.B. Kopfschmerz. Der Arzt diagnostiziert, indem er z.B. feststellt, ob der Kopfschmerz mit Nackenverspannungen oder mit einem Tumor verbunden ist. Dementsprechend wird dann die Therapie verordnet, die zur Heilung führen soll.

In diesem Modell gibt es eine klare hierarchische Rollenverteilung zwischen dem Laien und dem Experten. Entsprechend ist auch die Verantwortung für den Heilungsprozess sowie die soziale und ökonomische Macht verteilt. Der Patient befindet sich in einer unmündigen und abhängigen Position. Er wird oft nicht einmal über Diagnose und Therapieplan unterrichtet, geschweigedenn kann er in irgendeiner Weise mitgestalten. Die "Götter in Weiß" haben ihr spezialisiertes und detailliertes Wissen in mühsamem Studium erworben, und damit stehen sie über allen, die sich dieser Schulung nicht unterzogen haben.

Im Rahmen dieses Modells kann eine vormoderne und eine moderne Position unterschieden werden. Eine der wichtigsten Neuerungen, die zur Entstehung der Moderne geführt haben, liegt im Aufblühen der Wissenschaften, die nicht nur die Legitimität des Erkenntnisgewinns, sondern auch die Deutungshoheit zunehmend für sich monopolisieren konnten. Das moderne Modell überwies sich dem vormodernen überlegen, weil es einerseits eine vorher nie dagewesene oder vorstellbare technologische Entwicklungsdynamik entfesselte und andererseits das demokratische Moment enthält, dass prinzipiell jede Person das wissenschaftliche Wissen erwerben kann. Dazu kommt, dass sie evolutionär ist, d.h. sich ständig weiterentwickelt und verbessert.

Im vormodernen Modell dagegen liegen die Quellen des Heilungswissens nicht offen. Im einen Fall sind es einzelne Individuen, die über besondere Kräfte verfügen, die nicht systematisiert und gelehrt werden können: Wenn der Wunderheiler jemandem die Hand auflegt und dieser aufsteht, sein Bett nimmt und geht, dann ist das zwar eindrucksvoll, kann aber nicht verallgemeinert werden. Jemand anderer, der auf diese Weise sein Glück versucht, wird vermutlich kläglich scheitern. Und der Wunderheiler wird ihm auch nicht beibringen können, was er verändern müsste, um genauso effektiv zu sein. 

Im anderen Fall handelt es sich um Wissen und Können, das in Zirkeln und geschlossenen Kreisen weitergegeben wird. Wer dazugehören will, um die Heilkünste zu erlernen, muss sich verschiedener esoterischer Praktiken unterziehen und wird oft verpflichtet, diese für sich zu behalten. Es geht also um Wissen, das geheimgehalten wird, damit es "rein" bleibt, das also keiner Evolution und Weiterentwicklung unterliegen soll. Dieses Wissen braucht festgefügte und vordefinierte soziale und kognitive Kontexte, in denen es Sinn macht, und diese Kontexte stehen nicht zur Disposition, d.h. sie können weder überprüft noch kritisiert werden.

Konflikte zwischen Vormoderne und Moderne


Zwischen dem vormodernen und dem modernen Therapiebegriff gibt es aufgrund dieser Unterschiede vielfältige Konflikte. In der mordernen Gesellschaft wird vormodernen Wunderheilern oft das Handwerk mit dem Hinweis auf Quacksalberei und Unwissenschaftlichkeit verboten. Andererseits wenden sich viele Menschen, enttäuscht von der offiziellen Schulmedizin, die ihnen nicht zur erhofften Heilung verholfen hat, vormodernen Heilsversprechern zu. 

Zum einen herrscht eine Art von lauernder Kriegszustand zwischen beiden Lagern. Wenn auf einer Seite ein Missgeschick oder ein Versagen auftritt, z.B. jemand knapp nach einer  Wunderheilung verstirbt oder jemand anderer an den Folgen einer wissenschaftlich abgesicherten Heilung umkommt, ist das Wasser auf die Mühlen der jeweiligen Gegenposition, die dann das Eingreifen der staatlichen Ordnungsmacht fordert, um solchen Schaden in Zukunft zu verhindern.

Andererseits gibt es Praktiker, die beide Ansätze ungeniert kombinieren, mal  vormodern und mal modern vorgehen, wie es von Fall zu Fall passt. Damit werden die festgefahrenen Konfliktlinien unterlaufen und sinnlose Streitigkeiten über Heilungsmonopole vermieden.

Was beiden Ansätzen gemeinsam ist, ist das Autoritätsgefälle und die Verbindung von Verantwortung und Expertenwissen. Der Heiler weiß besser als der Kranke, was für ihn gut ist. Er erkennt den eigentlichen Grund des Leidens und verfügt über das untrügliche Wissen über den richtigen Weg zur Heilung. Diagnose und Therapie sind fest im Besitz der Experten, und der Patient darf sich glücklich schätzen, daran teilhaben zu dürfen.

Therapie und Ökonomie


Der moderne Therapiebegriff unterliegt einem starken Einfluss der kapitalistischen Zwänge. Störungen bei den Individuen sind Störungen im Wirtschaftsablauf, die der Maximierung des Gewinns und dem Wachstum des Bruttosozialprodukts im Weg stehen. Sie sollen möglichst rasch und billig behoben werden. Dem passt sich die symptomorientierte moderne Behandlungsweise an. Sie will die Menschen möglichst schnell wieder soweit herstellen, dass sie ihre Funktionen im Produktionsprozess ausüben können. Da dem Kapitalismus jede Form der Nachhaltigkeit wesensfremd ist - Zeit ist ihm Geld, und Effizienz wird mit Schnelligkeit gleichgesetzt -, werden dauerhafte Heilungen, die der Störung auf den Grund gehen und sie dort beheben, nicht angestrebt und bilden die Ausnahme. Die Menschen werden solange mit Symptomheilungen abgespeist, bis die erschöpften Körper nicht mehr zum Funktionieren gebracht werden können und sie aus dem Arbeitsprozess aussscheiden müssen oder ausgeschieden werden, je nach Sichtweise. Es werden die Ressourcen der Individuen aufgezehrt, indem ihre Innenperspektive vernachlässigt und ignoriert wird.

Die Kostenspirale, die überall im modernen Gesundheitswesen beobachtet werden kann, hängt mit der Fixierung auf kurzfristige Wirksamkeit zusammen. Unsere Körper leben nicht nach diesen Prinzipien, sondern es häufen sich die Störungen aufeinander, wenn die Wurzel nicht behandelt wird. In meinem Buch "Kohärentes Atmen" gehe ich auf diesen Zusammenhang ein, indem ich dort von der zentralen Rolle des autonomen Nervensystems für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden berichte. Gerät dieses aus dem Gleichgewicht, äußert sich das in den verschiedensten Symptombildern, die sich je nach Konstitution ausformen. Werden nur sie behandelt, ohne dass das Nervensystem sein Gleichgewicht findet, kommt es immer wieder zu symptomhaften Störungen. 

Doch bevor das moderne Gesundheitswesen in nachhaltige und tiefgreifende Heilung investiert, wird die Serie der Symptomheilungen in Gang gesetzt, die dann zu den steigenden Kosten führt. Ähnlich wie im Umweltbereich, wo kurzfristig wirksame ökonomische Erfolge zu langfristig massiven und kostenintensiven Problemen führen, schaufelt sich auch im Gesundheitsbereich der Kapitalismus sein eigenes Grab.

Der systemische Therapiebegriff


Die Beschränkungen und inneren Widersprüche des modernen Konzepts von Heilung führten zur Weiterentwicklung des Therapiebegriffs. Im systemischen, postmodernen Begriff der Therapie werden diese Voraussetzungen überwunden. Hier geht es um drei gleichberechtigte Positionen und deren Interaktion. Es gibt den Patienten, den Heiler und das Heilwissen. Die Verantwortung für den Heilungsprozess ist auf zwei Personen verteilt, Klient und Heiler sehen sich als Partner, fokussiert auf den Heilungsprozess, für den die beiden Perspektiven, die Erste-Person und die Dritte-Person miteinander verbunden werden. 

Dies geschieht in einem kommunikativen Prozess der Zweiten-Person-Perspektive, in dessen Verlauf der Heilungsprozess entwickelt wird. Damit werden drei Ebenen der Heilung genutzt: Die Selbstheilung, die der Patient in sich selbst angeht, die Heilung, die in der kommunikativen Beziehung zum Therapeuten liegt, und die Dritte-Person-Perspektive, die der Heiler durch sein Expertenwissen und seine erworbenen Fähigkeiten einbringt. Der Begleiter wechselt dabei zwischen der empathischen Position aus der Zweite-Person-Perspektive und der Dritten-Person-Perspektive, die das Expertenwissen und die externe Sichtweise auf das Problem einbringt. 

Diese Arbeitsform ist komplexer und damit zeitaufwändiger, aber wegen ihrer Multidimensionalität umfassender, effektiver und nachhaltiger. Denn es wirken mehr Kräfte mit, die im günstigen Fall in eine Richtung gebündelt werden. Diese Vorgehensweise ist auch nicht wiederholbar, kennt also nur in Ausnahmefällen Immer-wenn-dann-Beziehungen, denn sie hängt von zwei individuellen Personen ab, die sich in einer jeweils einzigartigen Situation treffen und in einen Prozess einsteigen, dessen Verlauf und Ausgang nicht vorhersehbar ist. 

Jeder Heilungsprozess in diesem Feld ist einmalig und kann deshalb auch nicht wie technisches Wissen gelehrt werden. Die Ausbildung erfordert neben dem Studium von Wissen eine Menge an kommunikativer Praxis. Der Therapeut braucht nicht nur Wissen, das von außen übernommen werden kann, sondern auch innere Kompetenzen, die nur mit Hilfe von kommunikativer Selbsterfahrung und Reflexion erworben werden können. Damit ist die therapeutische Ausbildung ebenso ein Vorgang nach dem Modell der systemischen Heilung, und der Therapeut arbeitet mit Kompetenzen, die er in einem multidimensionalen Heilungsprozess gewonnen hat. Nur mit diesem Verständnis von Heilung, das auf eigener heilsamer Erfahrung beruht, kann die systemische Therapie wirken.

Hier liegt die emanzipatorische Kraft des psychotherapeutischen Heilungsmodells, das der Philosoph Jürgen Habermas ("Erkenntnis und Interesse", 1968) bei Sigmund Freud entdeckt hat: Heilung bedeutet nicht mehr die Behebung eines Schadens, um die Handlungsfähigkeit im Sinn des ökonomischen Systems wiederherzustellen, sondern bedeutet das Zu-sich-selbst-Kommen des betroffenen Menschen, das Freilegen seiner eigenen Heilungskompetenzen und damit das Heraustreten aus Abhängigkeitsbeziehungen. Der "mündige Patient" ist Partner und Mitgestalter im eigenen Heilungsprozess. Dieses Modell hat sich zuerst in der Psychotherapie entwickelt, und es scheint jetzt an der Zeit, es in weiteren Bereichen des Gesundheitswesens anzuwenden. Und es ist Zeit, politisch und gesellschaftlich anzuerkennen, welchen Beitrag die Psychotherapie, die in diesem Verständnis zu einer Leitmethode in den Heilmodellen werden sollte, zur Gesundung und Gesunderhaltung der Gesellschaft leistet.

Dienstag, 21. Juni 2016

Sportlicher Nationalismus und die Globalisierung

Fußballturniere sind Feierstunden des sportlichen Nationalismus. Und der sportliche Nationalismus ist einer der hartnäckigsten Unterarten dieses Phänomens. Schon bei den Erfindern des Sports, den antiken Griechen, war der Wettkampf zwischen den Athleten zugleich ein Wettkampf der Stadtstaaten, aus denen sie stammten.

Gerühmt wird der friedliche Ablauf der zwischenstaatlichen Konkurrenz, da strenge Regeln über einen fairen Ablauf des Wettkampfes wachen. Die Randalierereien mancher Sportanhänger am Rand der sportlichen Ereignisse machen aber deutlich, dass auch hier eine Nähe zur inhärenten Gewaltbereitschaft des Nationalismus lauert: Die nationalistische Ideologie als Rechtfertigung für die Anwendung von Gewalt gegen die anderen.

Ein anderes Phänomen hingegen karikiert diese Ideologie. Die Sportler als Exponenten des nationalen Stolzes zeigen zunehmend ein globalisiertes Bild der Nationen. Zlatko Junuzović, gebürtiger Serbe und David Olatukunbo Alaba aus einer philippinisch-nigerianischen Familie sind Beispiele aus der österreichischen Nationalmannschaft, noch bunter präsentiert sich die deutsche: Kevin-Prince Boateng, Shkodran Mustafi, Emre Can, Mesut Özil, Sami Khedira, Leroy Sané und Łukasz Józef Podolski hätten wohl unter den strengen rassischen Kriterien des Nationalsozialisten niemals für eine nationale Vertretung des deutschen Volkes getaugt.

So aber zeigt sich die österreichische oder die deutsche Nation in Form ihrer Nationalmannschaft der ganzen Welt als globales Gemisch aus unterschiedlichen Herkunftsländern und Menschentypen, also nicht als nur blond, blauäugig und weißhäutig. Jeder darf mitspielen, wenn er das Können dazu hat, und des sportlichen Nationalismus geht es nur darum. Ihm ist der dunkelhäutigste Österreicher, der einen sportlichen Erfolg erringt, lieber als ein erfolgloser „nordisch-alpiner Typ“. Der sportliche Nationalist wird also unweigerlich zum globalen Nationalisten und damit zum Widerspruch in sich selbst. In dieser Hinsicht hat also der sportliche Nationalismus das Zeug in sich, den Nationalismus selber ad absurdum zu führen.


Diese Widersprüche zeigen sich auch daran, dass rechtsnationalistische Politiker immer wieder Probleme mit ihrem engen Weltbild bekommen, wenn die sportlichen Leistungen mit ihren rassistischen Vorurteilen vergleichen müssen.

So wurde David Alaba vom FPÖ-Politiker Mölzer als „nicht wirklicher Österreicher“ bezeichnet (was immer das sein soll), und der deutsche AfD-Vizechef Gauland äußerte sich beleidigend über Jéromé Boateng. Die strammen Nationalisten stehen diesen Phänomenen hilflos gegenüber und können entweder nur entsetzt ihre Augen verschließen und den Mund halten oder ihre enge Ideologie ein wenig öffnen, wenn sie nicht gegen die überwältigende öffentliche Meinung untergehen wollen, der die Hautfarbe oder der genetische Mix völlig egal ist, wenn der Spieler ein Tor für die eigene Nation geschossen hat.

Immer mehr Menschen sind auf dem Globus unterwegs, finden ihre Gefährten in anderen Ländern und Erdteilen, und manche von deren Kindern werden talentierte Sportler, die dann zu Symbolträgern der Nationen werden, in denen sie dann zufälligerweise aufwachsen. Freuen wir uns also über die bunt gemischten Nationalteams, sie sind die Vorboten für das Verabschieden des Nationalismus als gewalterzeugender Ideologie und für das Feiern der Unterschiede im größeren Gemeinsamen.

Samstag, 18. Juni 2016

Faktizität und Innenerfahrung

Wir können über verschiedene Wege Informationen aus der Geschichte unserer Vorfahren bekommen, die nicht auf ihre Faktizität hin überprüft werden können. Eine Frau hat in einer therapeutischen Übung erlebt, dass eine ihrer Ahninnen fünf Generationen vor ihr dreimal in ihrem Leben abgetrieben hat. Sie war mit der Frage in die Übung eingestiegen, weshalb sie neben drei gesunden Geburten drei Fehlgeburten hatte.

Es handelt sich bei diesen Erkenntnissen um Wissen aus der Erste-Person-Perspektive, das also seine Gewissheit aus einer subjektiven Sichtweise schöpft und sein Wahrheitskriterium darin hat, dass die Erkenntnis dafür hilfreich ist, einen vorher belastenden Zustand durch einen entlastenden zu ersetzen, also zu einer integrativen Heilung zu führen.

Viele Ereignisse aus der Vergangenheit können objektiv im Sinn der historischen Faktizität nicht mehr nachgeprüft werden. Wir verfügen über keine Quellen, Zeugen oder verlässliche Erzählungen, sodass die Faktizität von der Furie des Vergessens für alle Zeiten verschlungen wurde. Allerdings verfügen wir offensichtlich über eine Erinnerungsfähigkeit, deren organische Basis, das Zellgedächtnis, vermutlich in epigenetischen Mechanismen besteht. Die Informationen aus dieser Speicherung, die vor allem bedrohliche, verletzende und traumatisierende Erfahrungen enthält, werden zugänglich, wenn wir entsprechend darauf vorbereitet sind und geeignete Methoden der Regression im therapeutischen Rahmen benutzen.

Es wird also bei solchen therapeutisch geleiteten Reisen in die Generationenreihen immer wieder Entdeckungen geben, die sich nicht durch einen Rückgriff auf Fakten absichern lassen, weil es keine ablieferten und erhaltenen Fakten gibt. Es bleibt uns in diesen Fällen nur die Gewissheit der Innenerfahrung ohne die Sicherheit einer historischen Tatsachenbestätigung.

Doch liegt das eigentlich Heilsame einer derartigen Regression nicht in der Feststellung von vergangenen Ereignissen wie in den Auflistungen auf historischen Zeittafeln. Vielmehr wird hier die eigene Lebensgeschichte über den Horizont der individuellen Biografie hinaus erweitert und in einen größeren Rahmen gestellt. Es entsteht durch die Innenentdeckung ein neuer Erzählstrang. Als Frucht der Aufarbeitung der in die Zellerinnerung eingewobenen emotionalen Belastungen gewinnen wir eine neue Ressource für die Gegenwart durch die stärkende Kraft der Erzählung.

Erzählungen wirken nicht dadurch, dass sie faktengetreu wiedergeben, was gewesen ist, sondern dass sie die Geschehnisse nach der weiterwirkenden Bedeutung gewichten und einordnen. Erzählungen stiften einen emotionalen Sinnzusammenhang, für den die Fakten zweitrangig sind.

Anders ausgedrückt, bleiben wir beim Innenerforschen und emotionalen Aufarbeiten auf der analogen Ebene, für welche die Ebene der Tatsachen nicht stichhaltig und sinnstiftend ist. Deshalb muss der digital-logische Verstand in solchen Zusammenhängen zurücktreten und sich mit Lücken in der Welt des Faktischen abfinden, in der es unzählig mehr weiße als bunte Flecken gibt. Wir können aus dieser Ecke unseres Bewusstseins an den Innenerfahrungen zweifeln, doch sollten wir uns dabei klar bleiben, dass es nicht vordringlich um die Faktizität, sondern um die Innenwirkung geht.

Nicht aufgearbeitete Traumatisierungen hinterlassen Lücken und Brüche in der biografischen Lebensgeschichte, die als Ganze immer mit einer Ahnengeschichte verknüpft ist. D.h. die eigene Lebensgeschichte ist unzusammenhängend, wenn in ihrer Vorgeschichte wesentliche Ereignisse verdrängt oder ausgeklammert sind, wie ein Familiensystem daran erkranken kann, dass ein Mitglied ausgeschlossen und totgeschwiegen wird. Weiße Flecken in der Familiengeschichte können, wenn es keine verlässlichen Quellen gibt, nur durch Erzählungen mit Leben gefüllt werden, die aus der Innenerfahrung gespeist sind. Das Vervollständigen der Erzählung stellt eine Kontinuität in der eigenen Lebensgeschichte her, und vor diesem Hintergrund findet die eigene Identität ein breiteres Fundament.

Außerdem kommt alles an seinen Platz, was verschoben wurde: insbesondere Belastungen, die unbewusst über die Generationenlinie weitergegeben wurden, können dorthin zurückgegeben werden, wo sie ihren Ursprung haben. Damit wird das gegenwärtige Leben frei und kann sich für seine kreativen Aufgaben öffnen.


Vgl. Epigenetische Weitergabe von Traumen

Freitag, 17. Juni 2016

Langeweile, eine Form der Selbsttäuschung

Dieses Gefühl tritt auf, wenn die Verbindung mit dem Moment - mit unserem Inneren und der Realität außer uns - verloren geht und die Kostbarkeit, die sich in jeder Erfahrung verborgen hält, übersehen wird. Häufig liegt der Zusammenhang darin, dass wir bestimmte Erwartungen an die Realität haben, die dann enttäuscht werden. Z.B. warten wir auf einen Zug, der nicht und nicht kommt. Wir beginnen uns zu langweilen und werden zugleich ungeduldig. Beide Gefühle verschwinden, wenn wir uns mit etwas beschäftigen, das uns ablenkt und unser Interesse fesselt.

In der Meditation können wir ganz andere Erfahrungen machen. Die Augen sind geschlossen, das Hauptmaß der Aufmerksamkeit ist nach innen gerichtet, vor allem, wenn das Außen ruhig ist und keinen Anlass für Ablenkungen bietet. In diesen Fällen muss die meditierende Person erst lernen, der Versuchung, akustischen Außenreizen zu folgen und inneren Körperempfindungen Aufmerksamkeit zu geben, nicht nachzugeben. Für manche Anfänger ist es schon eine Hürde, über längere Zeit die Augen geschlossen zu halten. Vor allem Menschen, die in ihrer Geschichte häufig durch Außenreize irritiert und aus dem inneren Rhythmus geworfen wurden, unterliegen einem Kontrollzwang, sodass sie dauernd wachsam sein müssen und mit Ängsten reagieren, wenn sie die Augen geschlossen halten sollen.

Sind wir jedoch einmal geübt im Meditieren, gibt es genug im Inneren zu entdecken, sodass manchmal die Zeit wie im Flug vergeht. Allerdings kennt jeder Meditierer Phasen der Innenversenkung, die sich lange hinziehen, die nicht zu enden scheinen, bis sich irgendwann der Blick auf die Uhr stiehlt. Es ist in solchen Situationen ungemein mühsam, die Aufmerksamkeit im Innen zu halten. Der einzige Weg, dennoch bei sich zu bleiben, besteht darin, die Nervosität und innere Anspannung, die hinter der Schwierigkeit zur inneren Konzentration steckt, genauer zu erforschen, also zu spüren, wie sie sich anfühlt. Diese Übung kann wie Schwerarbeit erscheinen, weil wir gegen unseren Drang zur Ablenkung ankämpfen. Dieser Drang wird aus einem Hintergrundstress genährt.

Natürlich nützen sich wiederholende Reize ab, und im Aktivitätsmodus verlangt das Nervensystem beständig nach neuartigem Kitzel, wenn die immer gleichen Nervenverbindungen durch Übernutzung ausgeleiert werden. Besonders wenn wir uns in Anspannung befinden, wollen wir einen schnellen Wechsel im Reizangebot, das zwar den Stressmodus selber zusätzlich anheizt, aber uns das Gefühl gibt, die Kontrolle zu wahren. Im Entspannungsmodus verlangsamt sich das innere Tempo und die Versorgung mit neuen Reizen wird weniger wichtig. Da können wir die Wolkenformationen oder den Wellenschlag am Ufer, das Wiegen von Blättern im Wind und die Schönheit von Blumen auf einer Wiese betrachten, ohne dass uns fad wird.

Langeweile ist also immer ein Indikator von Anspannung, manchmal nur im Hintergrund bemerkbar. Der Ablenkungsdrang kommt aus einem Kontrollbedürfnis, das wiederum von einer unbewussten Angst genährt wird. Weil es unangenehm ist, die Angst zu spüren, drängt uns unser Bewusstsein, schnell einen Reiz zu finden, der unsere Aufmerksamkeit fesselt. Die Anspannung bleibt und meldet sich, sobald sich die Neuigkeit des Reizes abgenutzt hat.

Die Langeweile und der Verstand


Langeweile tritt auf, wenn der Verstand mit sich selbst beschäftigt ist. Irgendwann läuft sich er sich tot, weil er seine Energien verbraucht, ohne neue zu produzieren. Dann bemängelt er das Fehlen von äußerem Input. Er leidet also an einem selbsterzeugten Mangel. Da er von unbewussten Ängsten kontrolliert ist, kann er schwer die Konzentration auf den Moment halten. Er meint, dass immer irgendetwas an diesem Moment falsch oder gefährlich ist. Deshalb versucht er, dem Jetzt zu entkommen, indem er die Sinne fortwährend auf die Suche nach neuen Reizen schickt.

Die Langweile macht uns also auf die Natur unseres Verstandes aufmerksam: Mit großer Umsicht schafft er es, zu verhindern, was helfen könnte, und das Problem, an dem das Leiden besteht, durch die scheinbare Lösung zu verstärken. Denn er bräuchte sich nur zurückzuziehen, schon wird die Sicht auf die schöpferischen Aspekte des aktuellen Moments frei, und das Leiden am Reizmangel ist verschwunden. Aber er hält sich für die wichtigste Instanz, schließlich hat er all seine Ideen und Schlussfolgerungen aus gefährlichen Situationen gewonnen und tut so, als wären diese immer noch aktuell. Deshalb ist er immer anderswo, in Bereichen, die keine neuen Energien schaffen, sondern nur die noch vorhandenen verbrauchen. Die Lösung verstärkt also das Problem.

Dieser selbstbestätigenden Problemspirale brauchen wir uns nicht auszuliefern, außer wir wollen uns selbst einen Schildbürgerstreich spielen. Wenn wir Langeweile erleben, können wir das vielmehr als Gelegenheit ansehen, um uns von der Zwangsjacke unseres Verstandes zu befreien und unseren Sinnen ihre explorative Freiheit zurückzugeben.

Mangel an Präsenz


Langeweile ist ein Gefühl, das, sobald wir es erforschen, verschwindet. Es signalisiert nicht einen Mangel an Außenreizen, sondern einen Mangel an Präsenz, am Sein mit dem, was gerade ist. Es ist ein schnelles Opfer der Bewusstheit: Sobald wir die Achtsamkeit auf den Moment lenken, brauchen wir es nicht mehr. Dafür schleicht es sich leicht bei der Hintertür herein, und oft braucht es eine Kraftanstrengung des bewussten Teils, um gegen die Langeweile anzukommen. Aber mit etwas Übung geht es leichter, und das quälende Gefühl ist rasch vergessen. Statt dessen schwelgen wir in der Üppigkeit der Wirklichkeit.


Vgl. Meditation und Langeweile
Störungen in der Meditation

Donnerstag, 16. Juni 2016

Das kleine Fenster des Nationalismus

Neulich erzählte mir eine „Ungarin“ von ihren genealogischen Forschungen. Sie hat Vorfahren aus Polen, Russland, Türkei und Armenien, und der Familienname ihrer Mutter soll aus dem Himalaya-Gebiet abstammen, ohne dass es ein Wissen darüber gibt, wie er nach Europa gelangt ist.

Das wird für die meisten Menschen gelten: Wenn sie in ihre Vergangenheit auf ihre Abstammungslinien schauen, wird deutlich werden, dass die unterschiedlichsten Wurzeln zusammen ihre heutige Person ergeben. Die Nationalität, die wir aufgrund der letzten Entwicklungen für uns behaupten, gibt davon nur einen winzig kleinen, recht willkürlich ausgewählten Ausschnitt wieder. 


Die Nationalität ist also nicht mehr als eine Selbstbehauptung. Aus der Fülle der historischen Fäden, die sich in der eigenen Person überkreuzen, wird ein Strang herausgezogen und mit einem Glorienschein umgeben. Das bildet die Grundlage für eine Zugehörigkeit, auf die man stolz sein kann und die man zur Abwertung anderer Nationen benutzen kann. Sie wird in die eigene Identität eingebaut und mit deftigen Emotionen versetzt: Du bist mein Heimatland, dir bin ich treu. Im Extremfall fordert das Heimatland die Treue ein und versteht darunter, für es das eigene Leben zu geben. Das ist der Moment, den wir immer wieder beobachten können, in dem die Nationalität zur Bestie wird.


Nationalismus im Zeitfenster


Der Nationalismus hat seinen Referenzpunkt in einem relativ schmalen Zeitfenster zwischen einer Vergangenheit, der der Begriff der Nation fremd war, weil er nicht benötigt wurde, und einer Zukunft, die ihn als Relikt aus einer barbarischen Zeit abtun wird. Wir stammen aus vielfältigen Ahnenlinien ab, die sich nicht an irgendwelche politisch definierte Grenzen halten, und wir gehen in eine globalisierte Zukunft, in der die Menschen über die Kontinente, Religions- und Rassengrenzen hinweg mobil sind und ihre Zugehörigkeiten laufend neu definieren müssen.

Dieses Zeitfenster hat die Ideologie des Nationalismus weidlich genutzt - einerseits zum Schutz von Traditionen, Sprachgruppen und Gemeinschaften, andererseits zur Aggression gegen andere Nationen. Vom 19. über das 20. Jahrhundert bis in unsere Tage können wir die Auswüchse und Verwirrungen des Nationalismus beobachten. Während sich die Wirtschaft längst über alle Grenzen hinwegsetzt, greift erst langsam das Bewusstsein, dass wir in erster Linie Weltbürger sind und irgendwann nachgeordnet Angehörige einer bestimmten Nation oder Volksgruppe.


Die Heimat und die DNA


Richtig gruselig oder aufregend wird es erst, wenn wir einen Blick in die DNA werfen, in der die Spuren unserer Herkunft ablesbar sind.

Als Illustration ein Video: Man sieht man Personen, die voller Stolz von ihren Herkunftsländern schwärmen und Vorurteile gegen andere Länder hegen. Dann kriegen sie das Resultat über die Herkunft ihrer DNA, und als sie erkennen, dass sie eine Mischkulanz aus verschiedensten Völkerschaften sind, dass ihre Vorfahren die unterschiedlichsten Sprachen gesprochen und in allen möglichen Teilen dieser Welt gelebt haben, passiert ein Aha-Erlebnis: Ich bin viel mehr als diese Nation, die ich mein Eigen genannt habe und mit der ich mich so stark identifiziert habe. Ich habe viel mehr Identitäten als nur eine, und ich habe viel mehr gemeinsam mit jenen, die ich mit Misstrauen oder Überheblichkeit ablehne.

Genetiker haben festgestellt, dass es hohe Grade an Verwandtschaft der Menschen untereinander gibt. Die "brotherhood of man", von der John Lennon singt, ist also keine visionäre Träumerei, sondern umschreibt eine genetische Realität. Weitschichtig betrachtet, können wir unter den Menschen keine wirklich Fremden finden, sondern nur entferntere Verwandte. Der finnische Genetiker Svante Pääbo beschreibt in einem Interview als wichtigste Einsicht seines Faches, „dass die genetischen Unterschiede zwischen uns alles andere als tiefgreifend sind.“


Erkenntnis macht frei


Erkenntnis entkoppelt, und Entkoppelung macht frei. Identitäten, an denen wir festhalten, schränken uns ein. Der Vorgang der Entidentifizierung erlaubt uns, mit etwas in uns in Beziehung zu treten, das wir vorher gar nicht von uns  selbst unterscheiden konnten. Die Distanz erlaubt uns, die Beziehung zu gestalten. Wir sind nicht mehr von ihr beherrscht, sondern können ihre Bedeutung für uns selbst festlegen.

Dann können wir das Gemeinsame im Fremden erkennen und über das Trennende stellen. Wo wir Verbindung erkennen, finden wir den Weg vom Misstrauen zum Vertrauen, von der Angst zur Entspannung, vom Hass zur Liebe.


Vgl. "Helden"
Mitgefühl hat keine Grenzen

Mittwoch, 15. Juni 2016

Die Täter als Opfer

Wir Österreicher sollten eigentlich Verständnis haben für die Türken. Denn wir beherrschen das Täter-Opfer-Spiel ähnlich gut wie sie.

Der Rest der Welt ist sich einig: Die türkische Regierung hat während des ersten Weltkriegs einen Völkermord gegen die Armenier im eigenen Land zu verantworten, dem 1,5 Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind. In der heutigen Türkei ist diese Ansicht und Einschätzung unter Strafe gestellt. Die offizielle Version stellt das Land als Opfer des ersten Weltkriegs dar, in dem die Türkei ihr Großreich verloren hat, und diese Schmach und Erniedrigung dient dazu, alles zu überdecken, was man selber an Gräueltaten verrichtet hat. Die Ausrottung der Armenier wird gewissermaßen als Kollateralschaden des Krieges verbucht, und wer an dieser Version kratzt, muss bekämpft werden.

Ein ähnliches Strickmuster haben die Österreicher nach dem Ende des 2. Weltkriegs benutzt. Dankbar haben unsere Politiker das alliierte Stichwort vom „ersten Opfer des Nationalsozialismus“ aufgegriffen und daraus den Gründungsmythos der zweiten Republik gebastelt. Die armen Österreicher wurden von den bösen Deutschen überfallen und mussten an deren Seite oder unter deren Fuchtel in deren Krieg ziehen. Deshalb wurde auch die sogenannte Entnazifizierung bald nach dem Krieg sang- und klanglos eingestellt, und die „Ehemaligen“ oder „Ewig-Gestrigen“ fanden ihr Sammelbecken im „Verband der Unabhängigen“, später in „Freiheitliche Partei Österreichs“ umbenannt (erster Vorsitzender war Anton Reinthaller, ehemaliger SS-Brigadeführer [im Rang vergleichbar einem General], später folgte Friedrich Peter, ehedem SS-Obersturmführer).

Belohnt wurden die Österreicher für ihren Opfermythos mit dem Staatsvertrag von 1955, der die Besatzungszeit beendet hat. Österreich war wieder ein respektables Mitglied der Völkerfamilie, mit reingewaschener Weste. So konnte man ungetrübt von Altlasten den Wohlstand aufbauen. Immer leichter wurde es, sich satt und zufrieden zurückzulehnen und den gnädigen Schleier des Vergessens über die Vergangenheit zu breiten.

Erst Mitte der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts kam es zur Wiederkehr des Verdrängten ins allgemeine Bewusstsein: Im Zusammenhang mit der Wahl von Kurt Waldheim zum österreichischen Bundespräsidenten, ehemaliges SA-Mitglied und Offizier der deutschen Wehrmacht, wurde die Mitbeteiligung vieler Österreicher an den Gräueltaten des Nationalsozialismus ans Licht der Öffentlichkeit gebracht. Der Opfermythos wurde rissig und die historische Aufarbeitung der einheimischen Schuld musste zur Kenntnis genommen werden. 1991 hat der damalige Bundeskanzler Franz Vranitzky eine Erklärung zur österreichischen Mitschuld an den Verbrechen des Nationalsozialismus abgegeben. Dieser Prozess ist nun schon 30 Jahre in Bewegung und noch lange nicht abgeschlossen, auch wenn von rechter Seite immer wieder gefordert wird, dass die Vergangenheit in Ruhe gelassen werden sollte, sprich dass das Verdrängte verdrängt bleiben solle.

Zur Lösung eines historischen Konflikts mit ungleicher Gewaltbilanz kommt es erst, wenn die Täter ihre Schuld eingestehen, denn erst dann können die Opfer Frieden finden. Solange die Täter nicht zu diesem Schritt bereit sind, leiden sie selber unter der Last, und häufig wird dieses Leiden in Aggression umgewandelt, die sich gegen jeden und alles richtet, was an diese Schuld erinnert. Dieses Gewaltpotenzial kann erst schwinden, wenn die Schuld, die einfach da ist, soviel sie auch geleugnet wird, Anerkennung findet. Dann wird es für beide leichter, die Täter und die Opfer, und sie können sich gegenseitig in die Augen und sich selbst in den Spiegel schauen, die einen, weil sie den Mut hatten, die Schuld auf sich zu nehmen, und die anderen, weil sie ihre Würde wieder ganz zu sich nehmen und das Leid der Vergangenheit ein Stück zurücklassen können.

Letzten Endes geht es bei beiden Seiten darum, Versöhnung mit der Tragik des Schicksals zu finden, das der einen Seite die Last der Täterschaft und der anderen die Bürden und Verletzungen des Opferseins zugemessen hat. 


Vgl. Hundert Jahre Völkermord