Sonntag, 30. September 2018

Das Ego und der freie Wille


In vorigen Blogbeiträgen habe ich die „Existenz“ des freien Willens diskutiert und den Schluss gezogen, dass wir keinen freien Willen brauchen, um die Art und Weise unseres Lebens tiefer zu verstehen. Vielmehr kann uns der Verzicht auf diesen Begriff und auf die damit verbundene Erfahrung auf dem Weg der inneren Befreiung weiterhelfen.  

Diesen Einsichten widerspricht allerdings die hartnäckige Überzeugung, dass der innere Wille eine selbstbestimmte und voraussetzungslose Regulationsinstanz und Einflussgröße in uns darstellt. Wir stoßen immer wieder auf eine innere, subjektive Wirklichkeit, die uns davon überzeugen will, dass wir freie, undeterminierte Entscheidungen treffen.  Warum ist das so?

Keine soziale Verantwortung ohne Willensfreiheit


Diese Überzeugung ist deshalb so stabil und einleuchtend, weil wir sie in den sozialen Kontexten, in denen wir uns bewegen, notwendig brauchen. Ebenso ist sie eine wichtige Bedingung für unseren eigenen Selbstbezug und Selbstwert. Das Sozialleben unter vielen unterschiedlichen Menschen kann nur geregelt werden, wenn jedem der Akteure die Verantwortung für das eigene Handeln zugesprochen und zugerechnet wird. Wir setzen also im sozialen Umgang miteinander wechselseitig unsere Zurechnungsfähigkeit voraus. Wir nehmen auch an, dass alle handelnden Personen zu ihrer Verantwortung stehen. Sonst trauten wir uns über keine einzige Straßenkreuzung oder müssten ständig eine Waffe bei uns tragen. 

Mit der Zumutung der Verantwortung an alle Akteure kann vermieden werden, dass unter dem Deckmantel einer missverstandenen Freiheit von der Willensfreiheit Gewalttaten und andere Bosheiten stattfinden können. Auf der sozialen Bühne wird und muss jede grobe Regelverletzung geahndet werden, d .h. die Täter müssen zu ihrer Verantwortung gezogen werden, die ihnen von der Gesellschaft zugemutet wird. Gerichte können nur Recht sprechen, wenn den Tätern ein freier Wille unterstellt wird. Resozialisierung hat nur dann einen Sinn, wenn davon ausgegangen werden kann, dass Täter Reue empfinden und sich innerlich umorientieren können.  Wünsche nach Verhaltensänderung, die wir im Zusammenleben häufig aneinander richten, sind nur verständlich unter der Annahme, dass wir auch in der Lage sind, uns selbstbestimmt für unsere Handlungen zu entscheiden.

Selbstwert, Selbstmotivation und Willensfreiheit


Der andere Kontext, in dem wir die Willensfreiheit benötigen, liegt in der Beziehung zu uns selbst. Wir bauen unser Selbstwertgefühl über die Erfolge auf, die wir uns selber zuschreiben. Wir sind stolz auf das, was wir erreicht und geschaffen haben. Und unser Selbstwert leidet an den Misserfolgen und Versagenserfahrungen, die wir erleben mussten. Wo bliebe unser Selbstwert, wenn wir uns unsere Handlungen und deren Resultate nicht selber zuschreiben könnten? Die Tochter hat einen Tanzwettbewerb gewonnen und die Eltern sagen: „Du weißt ja, meine Liebe, dass das so geschehen ist, wie es geschehen ist, weil es nicht anders geschehen konnte. Wenn du nächstes Mal nur fünfundzwanzigste wirst, ist es genauso.“ Der Sohn hat die Mathematikprüfung geschafft, und die Eltern sagen nur: „Was ist, ist, und was nicht ist, ist nicht.“ Da würden sich die Kinder bestenfalls auf den Kopf greifen. Sie brauchen Bestätigung, Anerkennung und Wertschätzung, um auf ihrem Weg gestärkt weitergehen zu können. Genauso geht es uns als Erwachsene immer wieder. Auch wenn wir uns selbst anerkennen und loben, gilt dies unserer Willensfreiheit.

Wie könnte sonst Lernen aus Erfahrung funktionieren, wenn wir über keinen freien Willen verfügten und nicht für unsere Handlungen verantwortlich wären? Schließlich erfordert jedes Lernen eine bewusste Auseinandersetzung mit den Inhalten und die Anstrengung, das eigene Gedächtnis zu nutzen. Oft geht es darum, dass wir unsere Widerstände überwinden und uns gegen unseren Hang zur Faulheit zwingen, Aufgaben bis zum Ende fertigzumachen. Würden wir nicht alle als Couch-Potatoes enden, wenn wir nicht den Willen aufbrächten, Bücher zu lesen oder die Wäsche aufzuhängen, statt viel bequemer vor der Glotze zu knotzen, wo wir nicht einmal Seiten umblättern müssen?  

Freier Wille und Bewusstseinsevolution


Soweit die „Sonderzonen“, in denen der freie Wille unverzichtbar ist. Sie beide beruhen auf einem Konzept des Menschen in einem bestimmten Entwicklungsstadium, gewissermaßen auf einem Durchschnittsmaß für die Stufe der Bewusstseinsevolution, auf der wir uns individuell und kollektiv befinden. Ich habe die entsprechenden Entwicklungsstufen in Bezug auf die Willensfreiheit modellhaft in einem früheren Beitrag beschrieben. Die Gesellschaft muss sich an diesem Durchschnitt orientieren, um unreifes und sozialschädliches Verhalten zu verhindern oder einzudämmen. Wir müssen auch Kinder in ihrem Verhalten anleiten und an die Grenzen ihrer Willkür erinnern, solange es ihnen selber noch an der Einsicht und Selbstkontrolle mangelt. Wir müssen potenzielle Verbrecher darauf aufmerksam machen, dass sie mit schmerzhaften Konsequenzen zu rechnen haben, wenn sie ihre Taten begehen. Wir müssen uns selbst dazu motivieren, die Steuererklärung zu machen, unangenehme Bewerbungsgespräche zu führen und Fremdsprachen oder Marketingstrategien zu lernen, die wir für unser Weiterkommen brauchen. 

Solange das Verhalten der Menschen von ihren Überlebensängsten geleitet ist, brauchen wir die Idee des freien Willens als Angelpunkt, anders gesagt als Stütze oder als Krücke. So können wir jedem sagen, der sich danebenbenimmt, dass er es auch anders könnte (wir unterstellen die Willensfreiheit) und es einfach probieren sollte (wir unterstellen die Handlungsfreiheit).  Das Gleiche gilt für uns selber: Wir können uns selber auch klarmachen, dass wir nicht die Sklaven unserer Gewohnheiten oder asozialen Antriebe sind, sondern dass wir unsere Verhaltensmuster auch verändern können, was eben die Verfügbarkeit über einen freien Willen voraussetzt.  

In dem Maß, wie wir in unserer inneren Entwicklung weiterkommen, verliert sich allerdings die Notwendigkeit für solche Verhaltensregulationen. Denn je mehr wir unsere Ängste auflösen können, die uns zu unbewussten Willküraktionen  und fremd- und selbstschädigendem Verhalten verleiten, desto weniger Bedarf haben wir nach willentlich herbeigeführten Verhaltensänderungen. Wir brauchen keine Neujahrsvorsätze mehr, wenn wir in uns nur mehr oder vorwiegend prosoziale und selbststärkende Impulse vorfinden. Wir machen die Hausarbeit, weil sie zu tun ist und wir gar nicht darüber nachdenken, ob sie angenehm oder lästig ist. Wir erledigen die Buchhaltung, weil sie jetzt gerade dran ist und lamentieren nicht, dass sie so anstrengend und langweilig ist. Wir lernen eine Sprache, weil etwas in uns diese Sprache beherrschen will und nicht, weil wir sonst befürchten müssten, unseren Job zu verlieren. 

Damit löst sich auch die Notwendigkeit auf, unseren Selbstwert über die Erfolge in unserem Leben zu stabilisieren. Denn wir brauchen das Konzept unseres Selbstwertes nur so lange, so lange wir an ihm zweifeln. Sobald uns klar ist, dass wir wertvoll sind, weil wir über ein menschliches Leben verfügen und nicht weil wir bestimmte Erfolge vorweisen können, braucht es kein Konzept eines Selbstwertes mehr und auch keine Selbstdefinitionen über das, was wir so in diesem unserem Leben weiterbringen.   

Mit einem Wort: Überall, wo unser Ego mit seinen Ängsten und neurotischen Prägungen mitspielt, brauchen wir das Konzept des freien Willens als Leitfaden, Kontrollinstanz und Selbstzuschreibung. Der freie Wille ist also eine Funktion unseres Egos. Überall, wo sich dieses zurückzieht und nicht den Ton angibt, ist die Annahme des freien Willens nicht notwendig und überflüssig.  Wir sind mit dem verbunden, was gerade geschieht und fließen mit, tun, was zu tun ist, und lassen zu, was sich von selber tut. So halten wir uns frei von kleinlichen Problemen, die von selber zu ihrer Lösung finden und geben den größeren Problemen die Zeit, die sie brauchen, um sich zu ihrer Lösung hinzubewegen, mit dem, was wir aus uns dazu beitragen, oder anders gesagt: Was das Unsere dazu beiträgt.  

Vom Missbrauch der Nicht-Willensfreiheit


Vorsicht ist allerdings geboten, wenn wir uns zu leichtfertig und frühzeitig mit der Möglichkeit beschäftigen, das Konzept oder die Illusion des freien Willens aus unserem Leben zu verabschieden. Es ist ein anspruchsvoller Schritt, der einen hohen Bewusstseinszustand voraussetzt, wenn es um mehr als bloß ein interessantes philosophisches Modell gehen soll. Die Umsetzung in die Praxis geht nur mit einem selbstkritischen, urteilsfähigen  Geist, der konsequent darüber wachen kann, dass wir diese Erkenntnis nicht missbrauchen.

Denn sobald sich das Ego einmischt, macht der Ansatz keinen Sinn mehr und stiftet höchstens Verwirrung. Unser Ego ist an den freien Willen gekoppelt und kann mit dessem illusionären Charakter nichts anfangen. Wir nutzen diesen Zugang allenfalls dafür, uns aus der eigenen Verantwortung zu stehlen, z.B. wenn wir Fehler begangen haben und jede Schuld von uns weisen, weil es ja keinen freien Willen und folglich keine Schuld geben könne. Wir belügen uns selbst und täuschen andere, indem wir nicht merken, dass es unser Ego ist, das sich mit dem Konzept des nichtfreien Willens auf Kosten anderer entlasten und durchsetzen will.  

Ignoranz in der spirituellen Belehrung


Spirituelle Lehrer, die die Advaita-Philosophie in Bezug auf den freien Willen als absolute Wahrheit verbreiten, machen oft den Fehler, dass sie von ihrem eigenen inneren Entwicklungsschritt, der sie oft ganz plötzlich in einen besonderen Zustand von innerer Freiheit geführt hat, auf andere schließen. Sie fühlen sich frei von Ego-Täuschungen und haben deshalb einen intuitiven Zugang zu einer Welt, in der alles Geschehen geschieht, ohne dass es einen Urheber braucht. Häufig übersehen sie, dass ihre Schüler fortwährend den Tricks ihrer Muster und Prägungen ausgesetzt sind, und sie vergessen, dass sie ihnen auf den Weg mitgeben sollten, wie wichtig es wäre, an den Ängsten zu arbeiten, die das Ego bekräftigen. Stattdessen lehnen viele unter den spirituellen Lehrern Therapie und Traumaheilung als unnütze Ablenkungen vom eigentlichen Weg ab und füttern damit die Egos der Suchenden, die meinen, dass es genügt, möglichst häufig beim Meister zu sitzen, dann würde schon alles werden, sprich alle Traumatisierungen würden sich von selber auflösen.

Doch die Verletzungen aus unserer Geschichte lassen sich nicht mit spirituellen Belehrungen wegstreicheln. Sie wirken aus dem Unbewussten, das durch die Präsenz von Meistern oder Lehrern übertönt, aber nicht entmachtet und aufgelöst werden kann. Sobald der Kontakt mit dem Menschen vorbei ist, melden sie sich wieder und üben weiterhin ihren Einfluss auf die Handlungen im Leben aus. Sowie das der Fall ist, verschwindet die befreiende Erfahrung einer Welt, in der es keinen freien Willen gibt. Das Ego meldet sich zurück und spricht allen die Urheberschaft für ihre Handlungen zu. Es beschuldigt die anderen, dass sie einem Leid antun und sich selbst, dass es nicht gut genug ist.

Räume der Freiheit


Wir dürfen einander auch nicht aus der Verantwortung entlassen, wenn sich das Ego bei einer anderen Person vordrängt. Sonst unterbleibt das soziale Lernen und es entsteht Verwirrung. Die Radikalität des Konzepts der Nicht-Willensfreiheit kann nur gelebt werden, wenn eine völlige Klarheit über die Mechanismen des Egos herrscht und alle Tendenzen zur Selbstmanipulation nachhaltig abgestellt werden können.

Was uns immer wieder möglich ist, ist die Wahrnehmung der Momente, in denen diese Mechanismen außer Kraft gesetzt sind und wir das freie Fließen von Augenblick zu Augenblick mit der völligen Abwesenheit jeder Willensanstrengung genießen können. Diese Räume, in denen die Willensfreiheit spurlos verschwunden ist, können wir kultivieren, ohne ein Jota der Verantwortung, die wir in unserem relativen Leben  zu tragen haben, aufzugeben.

Wir sind nie besser, als wir sind, und müssen es auch gar nicht sein, weder im moralischen noch im spirituellen Sinn. Es ist genau richtig und in Ordnung, auf welcher Stufe unserer inneren Entwicklung wir stehen, welche Themen und Ängste uns noch plagen und was aus uns heraus geschieht, um unser Leiden zu mindern und auf dem inneren Weg weiterzukommen. Das ist auch eine Folgerung aus dem Advaita-Ansatz, die uns helfen kann, uns noch mehr zu entspannen und aus dieser Entspannung heraus unser inneres Wachstum geschehen zu lassen.

Zum Weiterlesen:
Advaita und die Vorherbestimmung
Flexibilität und Ego-Entmachtung

Tun und Geschehenlassen
Die Kraft des Ja
Freier Wille - Heilige Kuh oder Wesensmerkmal?
Freier Wille und Bewusstseinsentwicklung

Dienstag, 25. September 2018

Flexibilität und Ego-Entmachtung

 Wenn wir alles einfach geschehen lassen, wie es von selber geschieht, könnte passieren, dass wir in unseren Gewohnheiten festhängen bleiben. Gewohnheiten bilden wir uns aus, um uns das Leben leichter zu machen und die Risiken von Überraschungen und Neuanfängen zu vermeiden. Wenn wir uns in der Flexibilität schulen wollen, geht es gerade darum, Neues auszuprobieren und Routineabläufe zu verändern. Wir greifen in den Vorgang einer Gewohnheit ein und machen es auf eine neue Weise. Wenn wir eine Gewohnheit beim Zähneputzen haben, putzen wir mal andersherum. Wenn wir in der Suppe rühren, stellen wir uns auf ein Bein oder fangen an, mit dem Becken zu kreisen. Wir spazieren am Gehsteig und flechten tänzelnde Beinbewegungen ein, usw. Wir machen also eine Musterunterbrechung, wie sie auch aus verschiedenen Therapierichtungen bekannt ist. Das Muster wird erkannt, in seinem Ablauf aufgehalten, und eine neue Handlungskette wird in Gang gesetzt, die durch das Vorige nicht festgelegt ist. Wir werden unvorhersehbar und unberechenbar, für andere und für uns selber.  

Dazu braucht es offensichtlich Bewusstheit und Entscheidung: Was läuft gerade ab und was möchte ich stattdessen? Ich mache mir bewusst, was gerade geschieht und lasse mir etwas Neues einfallen. Dann setze ich die Neuigkeit in eine Handlung um, indem ich mich dafür entscheide und diese Entscheidung umsetze. 

Musterhafte Gewohnheiten geschehen einfach, ohne unser Zutun, ohne unsere bewusste Beteiligung. Sie sind also ein gutes Beispiel für die Unnotwendigkeit eines freien Willens. Wir bilden solche Gewohnheiten nachgerade zu diesem Zweck aus, dass sie uns von Willensentscheidungen entlasten. So müssen wir uns nicht jeden Tag überlegen, auf welche Weise wir eine Orange schälen oder die Schuhbänder knöpfen. Die Schulung der Flexibilität hingen scheint einen freien Willen vorauszusetzen. Wie sonst könnten Gewohnheiten unterbrochen werden? Es muss da gewissermaßen eine äußere Instanz geben, die in solche vorgegebenen Abläufe eingreifen kann, um sie zu unterbrechen und umzugestalten. 

Natürlich ist diese äußere Instanz eine innere, und sie hat, wie alle Entscheidungs- und Handlungsabläufe, einen Hintergrund. Von vorne betrachtet, gehen wir davon aus, dass wir frei handeln, gerade dann, wenn wir aus einer Gewohnheit aussteigen und etwas Neues, vorher nicht Dagewesenes beginnen. Wenn wir dahinter schauen, fragen wir uns, woher die Impulse kommen, die uns auf Gewohnheiten aufmerksam machen und uns dazu motivieren, bewusste Änderungen vorzunehmen. Wir könnten sagen, dass diese Impulse aus unserem Willen kommen. Wer oder was aber wäre denn dieser Wille? Ein kleines Männchen in uns, das seine Befehle formuliert und als Befehle an die Körperperipherie weitergibt? Woher nimmt denn dieses Männchen seine Ideen? Vielleicht enthält das Männchen ein noch kleineres Männchen, das sich dauernd neue Ideen einfallen lässt? 

Daraus können wir ersehen, dass wir in eine theoretisch unendliche Kette gelangen, wenn wir nach einem Urheber unserer Handlungen fragen. Also befinden wir uns in einem Gedankenexperiment, das kein Fundament in der Sache, in der äußeren Wirklichkeit hat und deshalb auch keine Wirkungen auf die Außenwelt haben kann, sprich für unsere Handlungen irrelevant ist.  

Flexibles Handeln als Meta-Gewohnheit


Was geschieht also, wenn wir unsere Handlungsmuster bewusst und intentional ändern? Wir balancieren auf einem Bein, während wir auf die U-Bahn warten, etwas, was wir vorher noch nie gemacht haben. Es gibt also dafür keine Handlungsroutine in uns, und deshalb nehmen wir an, dass wir gerade eine freie Willensentscheidung getroffen haben. Allerdings gründet diese Annahme auf keinem Sachverhalt, sondern nur auf einem subjektiven „Gefühl“ oder einer inneren „Gewissheit“. Denn wenn wir in uns nachschauen, was uns zu der neuen Aktion gebracht hat, werden wir eben nichts vorfinden, sondern ins Leere forschen. Und das ist die Gewohnheit, die dahinter steckt: Diese Leere füllen wir einfach mit dem Konzept eines freien Willens – ein abstrakter Begriff für ein Nichtwissen, und es ist dieser Begriff, der  uns dann das „Gefühl“ oder die „Gewissheit“ gibt, dass „wir“ es sind, die unser Leben lenken und bestimmen.  

Wir steigern unsere Flexibilität und damit unsere Unabhängigkeit von eingeprägten Gewohnheiten und unnützen Verhaltensschablonen, weil die Impulse dazu in uns entstanden und gewachsen sind und nicht, weil wir sie erschaffen haben. Mit der Pflege unserer Flexibilität erwerben wir eine Meta-Gewohnheit, die unser Leben abwechslungsreicher und kreativer gestaltet. Künstler oder schlagfertige Kommunikatoren sind Menschen, die über solche Meta-Gewohnheiten verfügen. Flexibilität besteht ja darin, dass spontane Ideen in uns aufsteigen, die wir dann einfach umsetzen  oder: die sich in uns umsetzen –, ohne Dazwischenschaltung einer abwägenden Entscheidungsinstanz, also ohne Notwendigkeit für einen freien Willen. 

Subtile Ego-Entmachtung


Auf diese Weise lässt sich die Idee des Lernens und der inneren Weiterentwicklung mit dem Konzept der Freiheit von der Willensfreiheit vereinbaren. Lernen geschieht, und jeder Lernschritt eröffnet neue Möglichkeiten und vergrößert damit den Spielraum für Flexibilität. Als Folge der Erweiterung dieser Spiel-Räume, in denen eben das Tun ins Spielen hinübergleitet, geschieht immer mehr Geschehen, und geplantes, von Entscheidungen initiiertes Handeln wird zunehmend überflüssig. So entpuppt sich die Entwicklung der Flexibilität als ein subtiler Weg zur Entmachtung des Egos. 

Montag, 24. September 2018

Tun und geschehen lassen

Das Leben besteht aus Aktivitäten, mit denen wir verändern, gestalten und einwirken. Wir sollen uns „die Erde untertan machen“, wie es in der Bibel heißt. Nach unseren Taten werden wir bemessen und beurteilt, nach unseren Leistungen orientiert sich unser Status in der Gesellschaft, das haben wir immer wieder gehört. Je mehr wir tun, desto weiter kommen wir nach oben, usw. So oder so ähnlich lauten unsere Handlungsprogramme, Mischungen aus Überlebensstrategien und kreativen Impulsen. Danach bestimmt sich auch auf weite Strecken unser Selbstverständnis in der Leistungsgesellschaft: wo wir sind auf der Leiter, ist das Resultat unserer Handlungen, unseres Fleißes und unserer Anstrengungen.

Die Grundannahme, die wir dabei voraussetzen, besteht darin, dass  wir uns als die Akteure, Regisseure und  Verantwortliche für unser Leben wahrnehmen. Wir halten uns selbst für entscheidungs- und handlungsfähig, ebenso wie unsere Mitmenschen. Das ist auch wichtig und notwendig so, denn sonst hätte der Begriff Verantwortung keinen Sinn mehr. Allerdings gibt es dazu auch noch eine andere Seite zu beachten.


Unser Unterbewusstsein entscheidet


Wenn wir einen Blick hinter die Fassaden dieser Annahmen werfen, relativiert sich nämlich dieses Bild. Neurobiologen und Hirnforscher haben herausgefunden, dass die Entscheidungen, die unseren Handlungen vorausgehen, zuerst in den unterbewussten Teilen unseres Gehirns gefällt werden. Die bewussten Entscheidungszentren geben nachträglich die Zustimmung zu den zuvor getroffenen Entscheidungen und tun so, als wären sie es gewesen. Das erinnert an die Vorgänge in der Justiz der Stalinzeit, wo ein Gerichtsverfahren abgewickelt wurde und der Richter vor der Urteilsverkündung in sein Zimmer ging, um bei der Parteizentrale anzurufen, die ihm dann mitteilte, welches Urteil er zu verkünden hat.

Wir glauben, dass unsere Handlungen auf bewusst gefällten Entscheidungen beruhen. Doch offensichtlich sind wir da auf dem Holzweg: Wir handeln aufgrund von unbewusst ablaufenden Entscheidungsprozessen, denen unser Bewusstsein nachträglich zustimmt. 


Der freie Wille als Illusion


Die Konsequenzen, die wir aus diesem Befund ziehen müssen, decken sich mit Auffassungen aus ganz anderer Richtung, nämlich aus der Advaita-Lehre, die in Indien vor mehr als 2500 Jahren entstanden ist. Sie besagt, dass der freie Wille nur eine Illusion des Verstandes ist. Alles, was geschieht, ist genauso bestimmt, wie es geschehen soll. Wir bilden uns nur ein, dass wir einen Einfluss auf das Geschehen ausüben. Tatsächlich ist jeder Einfluss selbst Teil des Geschehens und als solcher ohne willentliche Veranlassung. Die innere Freiheit, die im Advaita in der Vereinigung von Brahma (Weltseele) und Atman (Individualseele) gefunden wird, wird möglich, wenn der freie Wille als Illusion erkannt und verstanden wird. Dann gibt es keine individuelle Schuld mehr, und die Unterschiede von Gut und Böse wie auch alle anderen Dualitäten fallen in sich zusammen. Advaita, was so viel wie Nicht-Dualität heißt, wird verwirklicht.

Was passiert, wenn dieses Konzept auf die Erfahrungsebene übersetzt wird? Wir erleben uns so, dass wir uns permanent im Fließen mit dem befinden, was gerade entsteht und wieder vergeht. Wir sind Teil eines Stromes von Veränderungen und gehen einfach mit, ohne uns einzumischen. 

Wer sich einmischen möchte, ist unser Ego. Befinden wir uns in diesem Fließen, so kann unser Ego daraus weder Nutzen oder Schaden ziehen. Es ist ruhiggestellt. Es wird zwar versuchen, sich immer wieder wichtig zu machen, indem es das Eine oder Andere an dem, was geschieht, ablehnt oder begehrt, wird aber bei der Rückbesinnung auf das Geschehen wieder ruhig gestellt. 

Das Advaita-Konzept mag manchem als abgehoben und weit hergeholt erscheinen. Dennoch ist es nicht so weit entfernt von dem, was unser tagtägliches Leben ausmacht. Die meisten Abläufe unseres Lebens geschehen einfach, ohne unser bewusstes Zutun. Wir bekommen zwar mit, was wir gerade tun, aber brauchen gar nicht den Eindruck, dass wir die Entscheidungen dazu treffen. Wir ziehen unsere Schuhe an, wenn wir rausgehen und nehmen noch einen Schirm, wenn es regnet. Wir setzen unsere Schritte und schauen, wohin wir gerade schauen, ohne dass es dafür eine Entscheidungsinstanz braucht. 


Wie erleben wir Entscheidungsprozosse?


Dann gibt es Situationen, in denen wir mit Entscheidungen ringen: soll ich oder soll ich nicht? Passen diese oder jene Schuhe besser zum aktuellen Wetter? Braucht es heute wirklich einen Schirm? Irgendwann fällt die Entscheidung, und wir bewegen uns weiter. Wie aber fallen solche Entscheidungen? Wir lamentieren in uns selber herum, erwägen dies und jenes, sind mal bei der einen Option, dann erscheint uns die andere als verlockend usw. Irgendwann schreiten wir zur Handlung und haben das Gefühl, eine Entscheidung getroffen zu haben. Wir alle kennen das, wir unterscheiden uns nur im zeitlichen und energetischen Ausmaß dieser Entscheidungsphase; manche Menschen zögern und zaudern, manche überwinden diese Phase rasch und stürzen sich schnell ins Tun, manchmal mit einer Nachentscheidungsdissonanz: Hätte ich nicht doch besser die andere Option wählen sollen?

Wenn wir uns näher anschauen, was in diesen expliziten Entscheidungsprozessen geschieht, stellt sich die Frage, ob es einen Punkt gibt, an dem wir unser inneres Lavieren bewusst beenden und bewusst wählen, was als nächstes geschehen soll. Ich stehe jeden Morgen vor der Dusche und überlege ein paar Momente, ob ich mich der kalten Dusche aussetzen soll. Ich mache das schon einige Jahre lang, jeden Morgen, und doch kommen diese Momente des Zögerns jedes Mal. Nach ein paar Sekunden gehe ich in die Dusche und freue mich nach dem ersten Schock über die angenehmen Wirkungen der Kälte. All das ist Teil eines gewohnten Rituals, das mit kleinen Variationen jeden Tag in gleicher Form abläuft. Subjektiv habe ich das Gefühl, ich treffe die Entscheidung, wann ich mit dem Duschen beginne, aber genauso gut kann ich annehmen, dass die Entscheidungsprozesse in mir jeden Morgen in gleicher oder ähnlicher Weise ablaufen, und dass es dieser bewussten Zutat gar nicht bedürfte, damit in Gang kommt, was sowieso in Gang kommt. 


Wichtigtuer Ego


Also scheint es, dass die Entscheidungsfreiheit, auf die wir so stolz sind, nur ein Entgegenkommen an unser Ego ist, damit es sich als Urheber dessen, was geschieht, ansehen kann. Es wird in seiner Wichtigkeit bestätigt: Ich war es, ich habe diese Entscheidung getroffen, das ist auf meinem wunderbaren Mist gewachsen. Ich bin so mächtig in meinem Leben. Die Kehrseite dabei ist, dass ich es auch war, wenn die Entscheidung negative Konsequenzen zeitigt. Dann bin ich schuld, weil ich eine falsche Wahl getroffen habe. Ich habe etwas verbockt und muss mich dafür kritisieren.

Wir sind stolz auf unsere Leistungen und wir suchen Anerkennung dafür. Doch sollten wir stolz auf unser Unterbewusstsein sein, das sich im richtigen Moment für die richtige Sache entschieden hat, die uns dann einen Erfolg beschert hat. Schnell übersetzt sich in dieser Perspektive unser Stolz in Dankbarkeit, dass uns unsere Leistungsfähigkeit, unsere Willenskraft, unsere Zielstrebigkeit geschenkt wird, mal mehr und mal weniger. Damit zieht sich unser Ego ins Eck der Bescheidenheit zurück und kann sich entspannen.

Und wir brauchen dann nicht mehr verächtlich auf jene hinunterblicken, die es nicht so toll geschafft haben wie wir selber. Auch sie führen aus, was aus ihren inneren Programmen kommt, und das ist möglicherweise weniger erfolgsträchtig in unserer Gesellschaft, aber von einem anderen Standpunkt aus betrachtet vielleicht nicht weniger wertvoll als das, was wir hochschätzen.

Sagen wir ganz einfach Ja zum Moment und schauen wir, was als nächstes geschieht - vielleicht genau das, was wir erwarten, vielleicht eine Überraschung.

Zum Weiterlesen:
Advaita und die Vorherbestimmung
"Alles ist bestimmt"
Freier Wille - heilige Kuh, Illusion oder Wesensmerkmal?
Freier Wille und die Ebenen der Bewusstseinsentwicklung

Dienstag, 11. September 2018

Die Kraft des Ja

„Sag Ja zum Moment, und alles Weitere geschieht von selbst.“ Dieser Satz hat schon einen früheren Blogartikel inspiriert. Im ersten Teil des Satzes geht es um das Annehmen dessen, was ist. Im zweiten Teil geht es um das Vertrauen in die Zukunft, und der ganze Satz deutet an, dass beides zusammengehört: Aus dem Vertrauen in den Moment erwächst das Vertrauen über das, was aus ihm als nächstes entsteht.

Mit dem Ja zum Moment verbinden wir uns mit der gerade aktuellen Realität. Wir nehmen sie so an, wie sie gerade ist, gleich ob sie uns unangenehme oder angenehme Gefühle bereitet. Wenn wir dieses Ja nicht schaffen, sondern die Realität anders wollen als sie ist, trennen wir uns von der Welt um uns ab. Aber auch in uns selbst entsteht eine Spaltung: Ein Teil repräsentiert die Realität, die gerade besteht, und ein anderer Teil will sie anders als sie ist. Wir leiden an einem inneren Konflikt.

Das Ja zu uns selbst


Wir geraten also nicht nur mit der Welt um uns herum in Widerstreit, wenn wir sie ablehnen. Wir entzweien uns auch von uns selbst, weil wir ja Teil dieser Welt sind. Besonders deutlich erleben wir diese Abtrennung, sobald wir an uns herumzumäkeln beginnen: Wir entsprechen nicht einmal unseren eigenen Erwartungen, wir bleiben laufend hinter dem zurück, was wir in Bezug auf uns selbst für richtig und gut halten, wofür wir uns geeignet halten, was unsere optimalen Möglichkeiten wären usw. Wir streben einem Ideal von uns nach, das wir nie erreichen, und nehmen dieses Versagen als Anlass, um uns selbst zu kritisieren und abzuwerten. Nie wieder soll mir eine Vase aus der Hand gleiten und zerbrechen, nie wieder möchte ich mich so unhöflich benehmen, nie wieder möchte ich so unmäßig in mich hineinfressen usw.

Wir spalten uns in den inneren Kritiker und in sein Opfer. Wir haben etwas falsch gemacht, ein Missgeschick ist uns unterlaufen, eine Herausforderung haben wir nicht gemeistert. Wir sind unzufrieden mit uns selber und folglich uneins. Damit lähmen wir unsere Handlungsmöglichkeiten. Der Kritiker möchte, dass das Opfer seinen Misstritt eingesteht, das Opfer möchte, dass es vom Kritiker verstanden und in Ruhe gelassen wird. Häufig geschieht dann überhaupt nichts, außer dass der Kritiker noch unzufriedener wird und das Opfer noch hilfloser. 

Deshalb müssen wir unsere inneren Teile wieder zusammenführen, um weiterzukommen. Dem Kritiker muss klar werden, dass er akzeptieren muss, was geschehen ist. Es lässt sich nicht mehr rückgängig machen. Dem Opfer muss einleuchten, dass es keinen Grund zur Ohnmacht gibt. Es braucht nur das Vertrauen darauf, dass es weitergeht. Jedes Versagen ist nur ein weiterer Schritt auf der eigenen Lernlaufbahn. Jeder Fehler war wichtig dafür, zu erkennen, was passiert ist, und neue Möglichkeiten zu erlauben.

Kritiker und Opfer können sich versöhnen, indem der Kritiker die Erfahrung des Opfers in sich aufnimmt, während das Opfer die Kraft des Kritikers fürs Weitergehen nutzt. Wir schließen uns wieder mit uns selber zusammen, als Voraussetzung, um wieder in die Gegenwart zu kommen. Solange wir im Fehlermachen und Versagen festhängen, sind wir an die Vergangenheit und an ihre Unveränderlichkeit gefesselt – unfähig, die Kraft des gegenwärtigen Moments (Eckhart Tolle) zu nutzen und zu genießen. Die Vergangenheit kann uns nicht helfen, die Gegenwart zu meistern, weil sie nichts von der Gegenwart wissen kann. Wir müssen sie also hinter uns lassen, wenn wir weiterkommen wollen. 

Dazu sagen wir zunächst Ja zur Vergangenheit und nehmen uns in unserer Fehlerhaftigkeit und Unvollkommenheit an. So können wir das Alte in Frieden verabschieden. Dann gehen wir in den gegenwärtigen Moment und geben auch ihm ein Ja, und schauen, was sich als nächstes zeigen will.

Das Ja zum eigenen Körper 


Es gibt Zusammenhänge, in denen wir wollen, dass ein Teil der Realität verschwindet, sofort, für immer: Lästige Körpersymptome wie Zahnschmerzen oder Kopfweh, menschenverachtende Verhaltensweisen von Zeitgenossen, ungerechte politische Systeme usw. Da akzeptieren wir nicht einmal die Existenz dieser Phänomene, sondern fühlen uns in jedem Recht, dafür zu sorgen, dass sie aus dem Bereich des Wirklichen gelöscht werden. 

Allerdings ist das Nicht-Akzeptieren keine Hilfe. Bloß weil wir nicht wollen, dass wir Zahnweh haben, hört es nicht auf. Erst wenn wir akzeptieren, was ist, auch wenn es arg schmerzt oder unerträglich schlimm ist, können wir etwas dagegen tun. Aus dem Akzeptieren erwächst das Handeln, umgekehrt funktioniert es nicht. Häufig machen wir sogar die Erfahrung, dass das Akzeptieren von Schmerzen die Schmerzen verringert. Denn im Akzeptieren entspannen wir uns, und das kommt dem Gewebe entgegen, in dem sich der Schmerz gebildet hat. Dazu kommt, dass wir aufhören, gegen das Schicksal zu kämpfen, das uns gerade drangsaliert, und geben wir damit dem Leiden weniger Energie. 

Unser Körper zeigt seine Symptome nicht aus einer fiesen Tendenz, uns lästig sein zu wollen. Es zwackt irgendwo, weil wir uns dort verspannt haben. Es drückt im Bauch, weil wir etwas Ungesundes gegessen haben. Es schmerzt der Kopf, weil wir ihn überlastet haben. Unser Körper signalisiert uns, dass wir etwas ändern sollten: Unsere Bewegungsweise, unsere Ernährung, unser Arbeits- und Schlafverhalten usw. Er will in seiner Form des Ausdrucks angenommen und verstanden werden. Wenn uns das gelingt, nehmen wir uns selber tiefer an und weiten das Verständnis für uns selbst. 

Wir alle wünschen uns einen gesunden, aktiven Körper und erwarten und erhoffen, dass wir ihn so rasch wie möglich wiedererlangen, wenn wir akut erkranken oder wenn wir an einem langwierigen Leiden laborieren. Was aus dem Lot ist, möchte wieder zurück ins Gleichgewicht. Wir unterstützen den Wunsch nach Heilung aber nicht dadurch, dass wir gegen das Leiden kämpfen, sondern dadurch, dass wir im ersten Schritt das Leiden annehmen, um erst im zweiten Schritt die Maßnahmen zu ergreifen, die zur Heilung führen. Wir greifen erst dann ein, wenn klar und verstanden ist, wo die Störung liegt und was sie braucht, um sich zu verbessern oder sich wieder zu verabschieden.

Es so lassen können, wie es ist 


Die Aufgabe liegt also darin, das, was ist, im Moment zu lassen, damit wir es erkennen und verstehen können. Häufig ist unser Impuls, sofort verändernd einzugreifen, wenn etwas nicht in unserem Sinn ist. Sticht uns eine Mücke, wollen wir uns sofort kratzen, was meist den Schmerz verstärkt und verlängert. Der spontane Impuls zum Verändern ist in vielen Fällen nicht der beste, weil wir oft noch zu wenig erkannt haben, worum es wirklich geht und was der beste nächste Schritt wäre. Häufig steuern früh geprägte Reaktionsmuster und Überlebensstrategien diese Impulse: Kampf, Flucht oder Erstarren. 

Mit der Übung im Annehmen schaffen wir eine Unterbrechung, ein Innehalten. Indem wir aus dem, was sich unmittelbar aufdrängt, heraustreten, unterbrechen wir die unbewussten reaktiven Abläufe. Ein Raum für Klärung entsteht, aus dem der nächste bewusste Schritt entspringen kann. Alles Weitere kann dann von selbst geschehen.

Vor allem bei emotionsgeladenen, stressbesetzten Erfahrungen hilft das Innehalten als Grenze zwischen dem Akzeptieren der Situation und dem eingreifenden Handeln. In einem hitzigen Disput gibt ein Wort das andere, ohne Kontrolle über all die emotionalen Racheimpulse, die sich Bahn brechen und die Konflikteskalation beschleunigen. Was ist, ist, und es ändert sich nicht grundlegend durch blinden Aktionismus; allenfalls versteckt es sich und taucht dann hinterrücks in neuem Gewand auf. 

Nur wenn es uns gelingt, den zwanghaften Ablauf zu unterbrechen, die Aufmerksamkeit nach innen zu bringen und zum Moment Ja zu sagen, können neue Perspektiven mit neuen Handlungsmöglichkeiten auftauchen. Auf diese Weise befreien wir uns von den Verstrickungen aus Reaktionsmustern, die uns scheinbar klar die nächsten Aktionen diktieren, statt das Beste für die aktuelle Situation finden zu können.

Wenn wir wirklich Ja zum Moment sagen können, ist es ein bedingungsloses Ja zu diesem Moment mit Verzicht auf jede Änderung und auf jeden Eingriff. Es darf gerade so sein, wie es ist, und wir vertrauen darauf, dass uns der nächste Moment zeigen wird, was als nächstes geschehen soll. Wir nehmen uns mit unseren vorgeprägten Impulsen heraus aus dem Fluss der Ereignisse und spielen dort mit, wo wir nicht die erste Geige spielen müssen.

Die Grundlage der Achtsamkeit


In der Erfahrung des Ja zum Moment nutzen wir das Grundprinzip der Achtsamkeit. Es besagt, dass wir uns ganz in die Erfahrung des Moments hineinbegeben, ohne etwas hinzuzufügen oder wegzunehmen. Wir verbinden uns innig und möglichst vollständig mit diesem Moment, und wenn nichts mehr zwischen uns und der Wirklichkeit unserer Erfahrung steht, sind wir mit uns eins und mit der Welt um uns.

Der achtsame Umgang mit uns selbst beinhaltet die bewusste Bejahung all dessen, was unser Inneres uns zeigt, Körperwahrnehmungen, Empfindungen, Gefühle, Gedanken. Wenn sich alte Muster und früh geprägte Überlebensstrategien einmischen, wird diese unmittelbare Beziehung zu uns selbst und zum Fließen des Lebens durch uns unterbrochen. Wir können aber immer wieder gegensteuern, indem wir uns bewusst machen, was jetzt, in diesem Moment, in uns abläuft. Wir brauchen nur unsere Aufmerksamkeit auf unsere Atmung lenken, und schon sind wir mit uns in einer umfassenden Weise verbunden.

Der nächste Kurs in Achtsamkeit, den ich anleite, läuft vom 17. September bis 12. November 2018 (jeden Montag mit Ausnahme 29. Oktober), jeweils 19:00 - 20:30 in der Cervantesgasse 5/5, 1140 Wien.

Zum Weiterlesen:
Sag Ja zum Moment

Das Ja zum Selbst
Unterschiede im inneren Wachstum